
Yogasutra von Patanjali: Kapitel 4
Es ist vollbracht: Nachdem Autorin und Philosophin Sandra von Siebenthal schon die ersten drei Kapitel von Patanjalis Yogasutra für uns interpretiert hat, nimmt sie sich hier das letzte Kapitel mit seinen 34 Versen vor. Ihre Ausführungen zum ersten, zweiten und dritten Kapitel findest du natürlich auch in unserem Yoga-Magazin.
4. Kapitel: Caturthah kaivalya-pādah – Über innere Freiheit
- caturthah: das Vierte
- kaivalya: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Für-sich-Sein
- pāda: Weg
Wir sind im letzten der vier Teile angekommen. Hier erklärt Patanjali, was ein reines und klares Bewusstsein ist und wie wir zu diesem gelangen können. Es ist der Weg, der den Yogi von seinen irdischen Beschränkungen und Prägungen löst und ihm den Weg zeigt zur wahren Erkenntnis ohne Trübungen. Es ist der Weg zum Ziel der vollständigen Befreiung.
Kapitel 4, Vers 1: Übernatürliche Kräfte sind entweder angeboren oder sie entstehen durch Heilkräuter, heilige Worte, durch Askese oder durch Versenkung.
जन्मौषधिमन्त्रतपःसमाधिजाः सिद्धयः॥१॥
Janmauṣadhimantratapaḥsamādhijāḥ siddhayaḥ||1||
- janma: Geburt
- osadhi: Heilkraut
- mantra: Gebetsformel, heliger Spruch
- tapas: Askese
- samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
- jā: geboren aus, entstehen aus
- siddhaya: wunderbare Kräfte, übersinnliche Fähigkeiten
Es gibt verschiedene Wege zur Erlangung von übernatürlichen Kräften. Bei einigen Menschen sind sie angeboren, andere können sie durch den Einsatz von Heilkräutern, heiligen Worten (Mantras, Gebete, etc.), Askese oder tiefe Meditation erlangen. Wir haben diese in den vorhergehenden Sutras schon beleuchtet.
Kapitel 4, Vers 2: Wenn die Materie vollkommen gereift ist, kommt es zu einer Verwandlung der Eigenschaften aus dieser Fülle heraus.
जात्यन्तरपरिणामः प्रकृत्यापूरात्॥२॥
Jātyantarapariṇāmaḥ prakṛtyāpūrāt||2||
- jāti: Wesen, Art, Lebensform
- antara: in eine andere, innere
- parināma: Verwandlung, Umwandlung
- prakrti: Urnatur, Urmaterie
- āpūrāt: aus der Fülle
In der Materie ist alles angelegt, was möglich ist, allerdings oft in einer minderen Qualität oder Zusammensetzung. Dinge müssen reifen, damit sie sich entfalten können. Erst, wenn die vollständige Reife erlangt ist, können sich die Möglichkeiten in ihrer ganzen Ausprägung entwickeln.
4.3 Die auslösenden Momente bewirken die Vorgänge in der Natur nicht, der Mensch kann sie lenken, einem Bauern gleich, der Hindernisse beseitigt (um das Wasser frei fließen zu lassen).
निमित्तमप्रयोजकं प्रकृतीनां वरणभेदस्तु ततः क्षेत्रिकवत्॥३॥
Nimittamaprayojakaṁ prakṛtīnāṁ varaṇabhedastu tataḥ kṣetrikavat||3||
- nimittam: Ursache, auslösende Momente, Motive
- aprayojakam: nicht wirkungsvoll, nicht passend
- prakrtinam: von der Materie ausgehend, natürliche Prozesse
- varana: (Damm, Umrandung, die das Wasser aufhält) Hindernis
- bheda: Unterschied, Bruch
- tu: aber
- tatah: daraus
- ksetrika vat: wie ein Bauer
Diese Reifung passiert nicht einfach so, der Mensch kann seinen Beitrag dazu leisten, indem er die guten Anlagen einem Bauern gleich bewässert, Hindernisse aus dem Weg räumt und für gute Wachstumsbedingungen sorgt. Dieses Sutra ruft dazu auf, tätig zu werden. Es reicht nicht, abzuwarten, bis alles kommt, sondern es gilt, die wünschenswerten Anlagen und Fähigkeiten auszubauen und zu stärken.
Kapitel 4, Vers 4: Die individuellen Wahrnehmungsräume werden allein aus dem Ichbewusstsein heraus geschaffen.
निर्माणचित्तान्यस्मितामात्रात्॥४॥
Nirmāṇacittānyasmitāmātrāt||4||
- nirmāna: Kreation, Werk, Schöpfung
- cittāni: innerer Wahrnehmungsräume
- asmitāmātrat: allein aus dem Ich-Bewusstsein
Alles, was wir glauben zu sein, alles, was wir meinen, entspringt unserem Ich und damit einer begrenzten Entität. Der Zugang zu allem, was ist, ist dann möglich, wenn wir diese Grenzen überschreiten können, indem wir sie als solche wahrnehmen und hinter uns lassen.
Kapitel 4, Vers 5: Obwohl sie sich in ihren Aktivitäten unterscheiden, beeinflusst der eine doch viele andere Bewusstseinsräume.
प्रवृत्तिभेदे प्रयोजकं चित्तमेकमनेकेषाम्॥५॥
Pravṛttibhede prayojakaṁ cittamekamanekeṣām||5||
- pravrtti: Aktivität des Bewusstseins, Dynamik des Geistes
- bhede: aus der Trennung, aus der Unterscheidung
- prayojakam: antreibend, bewirkend
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- ekam: einer, eines
- aneka: von vielen, aus den anderen
Wir sind Einzelne in einer Welt von anderen. Obwohl wir unseren eigenen Wahrnehmungsraum und unser eigenes Bewusstsein haben, werden diese von denen anderer Menschen beeinflusst, sowie auch wir andere Menschen beeinflussen.
Kapitel 4, Vers 6: Dabei ist nur das aus der Meditation geborene Bewusstsein frei von unterbewussten Prägungen.
तत्र ध्यानजमनाशयम्॥६॥
Tatra dhyānajamanāśayam||6||
- tatra: darin, dabei
- dhyāna: Meditation
- jam: entstanden, geboren
- anāsayam: frei von Bedingungen, unterbewussten Eindrücken, Prägungen
Alle alltäglichen Bewusstseinszustände sind geprägt von Erfahrungen und Erinnerungen. Oft sind uns diese gar nicht bewusst, sondern sie äußern sich durch affektive Reaktionen und Handlungen – dies meist nicht zu unserem Wohl. Erst, wenn wir unser Bewusstsein durch Meditation schulen, wird es diese Prägungen erkennen und sich davon lösen können.
Kapitel 4, Vers 7: Die Handlung des Yogi ist weder weiß noch schwarz, aber die Handlungen der anderen Menschen sind dreierlei (weiß, schwarz und schwarzweiß).
कर्माशुक्लाकृष्णं योगिनस्त्रिविधमितरेषाम्॥७॥
Karmāśuklākṛṣṇaṁ yoginastrividhamitareṣām||7||
- karma: Handlung
- asukla: nicht weiß
- akrsnam: nicht schwarz
- yoginah: die Yogis
- trividham: dreifach
- itaresām: für andere, von den anderen
Alltägliche Handlungen entspringen (verfälschenden und begrenzenden) Prägungen und haben Wirkungen, die wiederum neue Prägungen verursachen. Das ist das Gesetz von Karma. Die Handlungen eines Yogi sind ohne Ursache einer Prägung und auch ohne Absicht eines bestimmten Ziels. Sie sind dadurch ohne weitere Wirkungen und verursachen keine neuen Prägungen. Das ist der Ausbruch aus dem Rad des Karmas. Handlungen in diesem Sinn sind weder weiß noch schwarz noch gemischt, sie geschehen der Handlung wegen und hören mit dieser wieder auf.
Kapitel 4, Vers 8: Daraus (aus diesen Handlungen) entfalten sich nur die Neigungen, welche die nötigen Bedingungen für ihre Reife haben.
ततस्तद्विपाकानुगुणानामेवाभिव्यक्तिर्वासनानाम्॥८॥
Tatastadvipākānuguṇānāmevābhivyaktirvāsanānām||8||
- tatas: daher
- tad: dieser
- vipāka: Heranreifen, Ergebnis, Reife
- anugunām: gleichartig, auf der Art basierend
- eva: auch, nur so
- abhivyaktih: Manifestation, Auftauchen
- vāsanām: Neigungen, subtile Triebe
Wir sind einem Garten gleich, in welchem Samen angelegt sind, welche zu Pflanzen wachsen wollen. Nur die Pflanzen werden wachsen, die wir gießen. Genauso werden sich nur die Anlagen in uns entwickeln, die wir fördern.
Kapitel 4, Vers 9: Obwohl sie durch Geburt, Raum und Zeit getrennt sind, hängen sie eng zusammen, weil sie im Menschen durch Erinnerung und unbewusste Prägungen verbunden sind.
जातिदेशकालव्यवहितानामप्यानन्तर्यं स्मृतिसंस्कारयोरेकरूपत्वात्॥९॥
Jātideśakālavyavahitānāmapyānantaryaṁ smṛtisaṁskārayorekarūpatvāt||9||
- jāti: Geburt
- desa: Ort
- kāla: Zeit, Dauer
- vi ava hita: getrennt, Bruch
- api: auch wenn, trotzdem
- ānantaryam: Nähe, Kontinuität, ununterbrochene Folge
- smrti: Erinnerung, erinnertes Wissen
- samskārayoh: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
- ekarūpa tvat: Formgleichheit
Die Anlagen eines Menschen gleichen denen anderer Menschen, egal, woher er kommt, wie er aufwuchs und was er erlebt hat. Den Unterschied macht nur, welche dieser Anlagen zur Reifung gebracht werden durch das eigene Zutun und die eigene Kontrolle darüber.
Kapitel 4, Vers 10: Und diese Eindrücke sind ohne Anfang, sowie der Lebenswunsch ohne Ende ist.
तासामनादित्वं चाशिषो नित्यत्वात्॥१०॥
Tāsāmanāditvaṁ cāśiṣo nityatvāt||10||
- tasam: davon (von den subtilen Trieben, von den Neigungen)
- anāditvam: anfangslos
- ca: und
- āsisah: Wunsch nach Leben, Bitte, Gebet
- nityatvat: Ewigkeit, Beständigkeit
Die Anlagen selbst haben keinen Anfang, sie sind immer schon da. Der Wunsch, zu leben, hat kein Ende, er besteht so lange, wie das Leben dauert. Wir haben beides nicht in der Hand, nur das, was wir mit dem, was ist, machen, das können wir beeinflussen.
Kapitel 4, Vers 11: Die subtilen Neigungen werden zusammengehalten durch deren Ursache, deren Ergebnisse, deren Grundlagen sowie deren Stützen. Fallen diese vier Faktoren weg, erlöschen die Neigungen.
हेतुफलाश्रयालम्बनैः सङ्गृहीतत्वादेषामभावे तदभावः॥११॥
Hetuphalāśrayālambanaiḥ saṅgṛhītatvādeṣāmabhāve tadabhāvaḥ||11||
- hetu: Ursache
- phala: Frucht, Ergebnis
- āsraya: Basis, worauf es beruht
- ālambanaih: Stütze
- samgrhītatvāt: Zusammenhang
- esām: deren
- abhāva: Abwesenheit, Nichtvorhandensein
- tad: von diesen (Neigungen)
- abhāvah: Abwesenheit, Nichtvorhandensein
Jeder Mensch ist subtilen Neigungen unterworfen, sie manifestieren sich oft in einem Tun, das Folgen hat. Dieses Tun ist insofern nicht frei, als es den Neigungen folgt und nicht unserer freien Entscheidung. Wenn wir diese Neigungen erkennen, können wir uns von ihnen befreien, indem wir hinschauen, woher sie kommen, wie sie sich auswirken, worauf sie aufbauen und was sie am Leben hält. Wenn wir diese vier Faktoren eliminieren, hören auch die Neigungen auf, zu bestehen.
Kapitel 4, Vers 12: Vergangenheit und Zukunft existieren ihrer Natur nach alle im (heutigen) Sein, sie unterscheiden sich nur aufgrund ihrer zeitlichen Abfolge.
अतीतानागतं स्वरूपतोऽस्त्यध्वभेदाद्धर्माणाम्॥१२॥
Atītānāgataṁ svarūpato’styadhvabhedāddharmāṇām||12||
- atīta: vergangen
- anāgatam: „das noch nicht Gekommene“, die Zukunft
- svarūpatah: aus der eigenen Form/Natur heraus
- asti: sein, existieren
- adhva: Weg, Vorhaben, zeitliche Abfolge
- bhedat: Unterschiedlichkeit, Verschiedenheit
- dharmam: Aufgabe
Alles, was heute ist, trägt das Vergangene in sich und wird in der Zukunft mitschwingen. Zeit ist so gesehen nur eine von Menschen gemachte Größe, um das Leben erfahr- und erklärbar zu machen. Bei näherem Betrachten ist alles in allem enthalten.
Kapitel 4, Vers 13: Diese Eigenschaften sind entweder gut sichtbar oder schwer erkennbar, da sie sich aus den Grundeigenschaften zusammensetzen.
ते व्यक्तसूक्ष्मा गुणात्मानः॥१३॥
Te vyaktasūkṣmā guṇātmānaḥ||13||
- te: diese (wesentlichen Merkmale)
- vyakta: offenbar, leicht wahrnehmbar, offensichtlich
- sūksmah: subtil, schwer erkennbar
- guna: Eigenschaft, Qualität
- ātmānah: das Selbst, Seele
Sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft sind aus den Grundeigenschaften allen Lebens zusammengesetzt, ebenso die Gegenwart. Es ist nicht immer klar ersichtlich, was wozu gehört, was wirklich heute ist, wo die Vergangenheit durchschimmert und was erst Zukunftsmusik ist, weil alle die gleichen Elemente in sich tragen. Erst die vom Menschen gemachte Linearität der Zeit zerlegt das Sein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Vergessen dieser Form von Zeit multipliziert diese Faktoren wieder zu einem (zeitlosen) Sein.
Kapitel 4, Vers 14: Aus der Einheit in den Umwandlungen resultiert die den Dingen zugrunde liegende Essenz.
परिणामैकत्वाद्वस्तुतत्त्वम्॥१४॥
Pariṇāmaikatvādvastutattvam||14||
- parināma: Verwandlung, Umwandlung
- ekatvat: Einheit
- vastu: Wirklichkeit, Objekt, Essenz
- tattvam: wahre Natur, Wahrheit
Indem wir erkennen, was trotz der ständig stattfindenden Veränderungen bleibt, kommen wir der zugrundeliegenden Essenz auf die Spur.
Kapitel 4, Vers 15: Die in Wirklichkeit gleichen Dinge unterscheiden sich in der Wahrnehmung aufgrund der Verschiedenheit der individuellen Wahrnehmungsräume (citta).
वस्तुसाम्ये चित्तभेदात्तयोर्विभक्तः पन्थाः॥१५॥
Vastusāmye cittabhedāttayorvibhaktaḥ panthāḥ||15||
- vastu: Wirklichkeit, Objekt
- sāmye: Gleichheit
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- bhedāt: Trennung, Verschiedenheit
- tayoh: deren
- vibhaktah: unterschiedlich, getrennt
- panthāh: Entwicklung, Weg
Anaïs Nin sagte einst, dass wir die Welt nicht sehen, wie sie ist, sondern wie wir sind. Das ist mit diesem Sutra gemeint: Jeder Mensch hat seinen eigenen Wahrnehmungsraum, der sich aus seinem So-Sein speist. Dieser Wahrnehmungsraum bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen.
Kapitel 4, Vers 16: Ein Objekt ist nicht von einem einzigen Bewusstsein abhängig, denn was würde sein, wenn es nicht wahrgenommen würde?
न चैकचित्ततन्त्रं वस्तु तदप्रमाणकं तदा किं स्यात्॥१६॥
Na caikacittatantraṁ vastu tadapramāṇakaṁ tadā kiṁ syāt||16||
- na: nicht
- ca: und
- eka: eins
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- tantram: Fertigkeit,
- ced: ist
- vastu: Wirklichkeit, Objekt
- tad: dies
- apramānakam: nicht beweisbar, nicht wahrnehmbar
- tadā: dann
- kim: was
- as: könnte sein, möge sein
Alles, was ist, ist auch ohne, dass es wahrgenommen wird. Wir schaffen nicht die Dinge, wir schaffen nur unsere Sicht auf die Dinge.
Kapitel 4, Vers 17: Ob ein Objekt wahrgenommen wird oder nicht, hängt davon ab, ob es auf den Wahrnehmungsraum eines Einzelnen abfärbt/einen Einfluss hat.
तदुपरागापेक्षित्वाच्चित्तस्य वस्तु ज्ञाताज्ञातम्॥१७॥
Taduparāgāpekṣitvāccittasya vastu jñātājñātam||17||
- tad: der
- uparāga: einfärben, beeinflussen
- apeksitvāt: Erwartung, Hoffnung
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- vastu: Wirklichkeit, Objekt
- jñāta: gewusst, erkannt
- ajñātam: nicht gewusst, nicht erkannt
Wir sehen nicht alles, was in dieser Welt existiert, sondern nur das, was in uns auf Resonanz stößt. Das zeigt sich schon beim Lernen: Was auf uns zukommt, muss in uns einen Resonanzraum finden, etwas, woran es andocken kann. Erst dann wird es sich festsetzen und uns verändern und weiterbringen.
Kapitel 4, Vers 18: Die seelisch-geistigen Vorgänge sind immer erkennbar, da ihr Wesenskern (purusa), ihr Gebieter, keiner Wandlung unterworfen ist.
सदा ज्ञाताश्चित्तवृत्तयस्तत्प्रभोः पुरुषस्यापरिणामित्वात्॥१८॥
Sadā jñātāścittavṛttayastatprabhoḥ puruṣasyāpariṇāmitvāt||18||
- sadā: jederzeit, immer
- jñātāh: gewusst, gewiss
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
- tat: deren
- prabhoh: Meister, Gebieter
- purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
- a parināmin tva: Unveränderlichkeit, nicht Veränderbares
Haben wir unseren Wesenskern erkannt, erkennen wir auch die seelisch-geistigen Vorgänge. Während der Wesenskern unveränderlich ist, sehen wir die Veränderungen der seelisch-geistigen Vorgänge und können sie durch dieses Erkennen von unserem Wesenskern unterscheiden.
Kapitel 4, Vers 19: Das Bewusstsein ist ein wahrgenommenes Objekt, weswegen es nicht aus sich selbst leuchtet.
न तत्स्वाभासं दृश्यत्वात्॥१९॥
Na tatsvābhāsaṁ dṛśyatvāt||19||
- na: nicht
- tat: dessen (cita)
- svābhāsam: selbst-leuchtend.
- drsya tvat: Sichtbarkeit, wahrnehmbar sein
Bewusstsein ist wie der Mond, der von der Sonne angeleuchtet wird. Es leuchtet nicht von selbst, sondern ist auf das angewiesen, was ihn leuchten lässt.
Kapitel 4, Vers 20: Es kann nicht im gleichen Augenblick selbst wahrnehmen und sich dabei begreifen.
एकसमये चोभयानवधारणम्॥२०॥
Ekasamaye cobhayānavadhāraṇam||20||
- eka: eines
- samaye: Zusammentreffen, im Augenblick
- ca: und
- ubhaya: beide
- an avadhārana: nicht begreifen
Das Bewusstsein ist nicht gleichzeitig in der Lage, etwas wahrzunehmen und sich dabei zu begreifen. Wir brauchen also eine zweite Instanz dazu. Wie das gelingen kann, was es dazu braucht, erläutert Patanjali in den nächsten Sutras.
Kapitel 4, Vers 21: Könnte ein Bewusstseinsraum einen anderen wahrnehmen, entstünde aus dieser Verbindung eine große Verwirrung über das jeweils Erinnerte.
चित्तान्तरदृश्ये बुद्धिबुद्धेरतिप्रसङ्गः स्मृतिसङ्करश्च॥२१॥
Cittāntaradṛśye buddhibuddheratiprasaṅgaḥ smṛtisaṅkaraśca||21||
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- antara: anderes, unterschiedliches
- drsye: das Gesehene
- buddhi: Wissen, Erkennen
- buddheh: das, worüber das Wissen entsteht, das, was erkannt wird
- atiprasangah: große Neigung, starke Verbindung
- smrti: Erinnerung, erinnertes Wissen
- samkarah: Vermischung, verwirrung
- ca: und
Wäre es einem Bewusstseinsraum möglich, sich selbst als wahrnehmendes Bewusstsein wahrzunehmen, entstünde daraus eine Verwirrung, da nicht mehr auseinandergehalten werden könnte, was nun wozu gehört.
Kapitel 4, Vers 22: Indem der Geist die Gestalt des unveränderlichen Wesenskerns annimmt, wird er seiner eigenen Intelligenz bewusst.
चितेरप्रतिसङ्क्रमायास्तदाकारापत्तौ स्वबुद्धिसंवेदनम्॥२२॥
Citerapratisaṅkramāyāstadākārāpattau svabuddhisaṁvedanam||22||
- citeh: des Erkennenden (hier: purusa)
- apratisamkramāyah: unberührt seiend, nicht verwickelt seiend
- tad: dessen (des purusa)
- ākāra: Form, Gestalt, Ausdruck
- āpattau: Übergang, Erreichen
- sva: eigen
- buddhi: Intelligenz, Erkenntnis, Organ der Erkenntnis
- samvedanam: Bewusstwerden, genaues Wissen
Der innere Wesenskern bleibt unveränderlich, weil er sich nie in die Außenwelt verstrickt. Insofern ist es aus dieser Warte heraus möglich, das eigene Bewusstsein und dessen Wahrnehmungsfähigkeit zu erkennen.
Kapitel 4, Vers 23: Eingefärbt vom Seher wie vom Gesehenen, wird das Bewusstsein allumfassend.
द्रष्टृदृश्योपरक्तं चित्तं सर्वार्थम्॥२३॥
Draṣṭṛdṛśyoparaktaṁ cittaṁ sarvārtham||23||
- drastr: Seher
- drsi: Sichtbares
- uparaktam: eingefärbt
- citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- sarva: alles
- artham: Zweck, Ziel
Es ist nun Aufgabe des meinenden Selbst, des Bewusstseins, sowohl mit dem Objekt im Außen als auch mit dem inneren Seher in Verbindung zu sein, so dass ihm daraus eine vollkommene Erkenntnis erwächst sowohl über die Dinge im Außen wie auch den eigenen Kern im Innen.
Kapitel 4, Vers 24: Obwohl das Bewusstsein von unzähligen unterbewussten Eindrücken vielfältig gefärbt ist, dient es einem anderen, weil es in Gemeinsamkeit mit ihm wirkt.
तदसङ्ख्येयवासनाभिश्चित्रमपि परार्थं संहत्यकारित्वात्॥२४॥
Tadasaṅkhyeyavāsanābhiścitramapi parārthaṁ saṁhatyakāritvāt||24||
- tat: dieses (cita)
- asamkhyeya: unzählig
- vāsanābhih: durch alte Eindrücke, durch subtile Triebe
- citram: angefüllt
- api: sogar, auch, trotzdem
- parārtham: etwas zum Zweck habend, etwas dienen
- samhatya: verbunden, in Zusammenhang mit
- kāritatvat: Veranlassung, Bewirken
Unser Bewusstsein wird durch die Objekte im Außen, von Eindrücken und Erfahrungen geprägt. Es steht allerdings nicht selbständig für sich, es hat selbst keinen Zweck, sondern dient einem anderen, dem wahrnehmenden Selbst in uns, unserer Wesensnatur, für welche es als Medium der Wahrnehmung fungiert.
Kapitel 4, Vers 25: Für denjenigen, der die Verschiedenheit des inneren Wesenskerns (purusa) vom eigenen Wahrnehmungsraum (citta) erkennt, hört die Identifikation mit dem individuellen Selbst auf.
विशेषदर्शिन आत्मभावभावनाविनिवृत्तिः॥२५॥
Viśeṣadarśina ātmabhāvabhāvanāvinivṛttiḥ||25||
- visesa: Verschiedenheit
- darsin: Einsicht
- ātma: das Selbst, der immanente Wesenskern
- bhāva: Sein
- bhāvanā: Meditation als Verwirklichung, als Werden
- nivrttih: Beendigung, Verschwinden
Wer seinen innneren Wesenskern erkennt, wer dieses wahre Selbst nicht mit dem meinenden Selbst verwechselt, für den hören die falschen Identifikationen auf. Weder muss er sich selbst suchen noch verwirklichen. Er erkennt, dass er bereits alles ist und in diesem Sein vollkommen.
Kapitel 4, Vers 26: Hat das Bewusstsein diese Unterscheidung erreicht, fließt es der eigenen Befreiung zu.
तदा विवेकनिम्नङ्कैवल्यप्राग्भारञ्चित्तम्॥२६॥
Tadā vivekanimnaṅkaivalyaprāgbhārañcittam||26||
- tadā: dann
- viveka: Unterscheidung
- nimnam: Vertiefung
- kaivalya: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Für-sich-Sein
- prāgbhāram: Bergabhang, Neigung
- cittam: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
Wenn die falsche Identifikation aufhört, wirken auch die ihr zugrunde liegenden Muster und Beschränkungen nicht mehr. Nun ist der Weg zur Befreiung offen.
Kapitel 4, Vers 27: Durch alte Prägungen wird die Unterscheidung immer wieder unterbrochen, so dass diese die Wahrnehmung beeinflussen.
तच्छिद्रेषु प्रत्ययान्तराणि संस्कारेभ्यः॥२७॥
Tacchidreṣu pratyayāntarāṇi saṁskārebhyaḥ||27||
- tat: diese
- chidra: Unterbrechung, Bruch
- prataya: Vorstellung, Eindruck
- antarāni: Inneres, Anderes
- samskāra: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
Allerdings muss man sich gewahr sein, dass es immer wieder zu Rückfällen kommen kann. Es ist immer möglich, dass eine alte Prägung sich wieder meldet und unbewusst das eigene Denken, Fühlen und Handeln steuert, dass also die Unterscheidungsfähigkeit unterbrochen wird.
Kapitel 4, Vers 28: Um diese (die Prägungen) zu beseitigen, sind die besprochenen Mittel bei der Beseitigung der leidvollen Spannungen (klesas) geeignet.
हानमेषां क्लेशवदुक्तम्॥२८॥
Hānameṣāṁ kleśavaduktam||28||
- hānam: aufhören, befreien, sich trennen
- esām: davon
- klesavat: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften
- uktam: besprochen, geeignet
Wenn dies passiert, gilt es, sich daran zu erinnern, welche Mittel wir in den Sutras kennenlernten, um die leidvollen Spannungen (klesas, sie wurden in Sutra 1.30 erwähnt) zu erkennen und zu beseitigen. Als effektivste Mittel nannte Patanjali die Hingabe an die Quelle unseres Seins, die acht Elemente des Yoga, vor allem auch die letzten drei Glieder. All dies führt zum Ziel, zum Loslassen.
Kapitel 4, Vers 29: Wenn zur völligen Klarsicht eine Haltung ohne Gier hinzukommt, wirkt die Unterscheidungskraft zu allen Zeiten und es entsteht vollkommene Erkenntnis gleich einer Wolke voller Wohltaten.
प्रसङ्ख्यानेऽप्यकुसीदस्य सर्वथा विवेकख्यातेर्धर्ममेघः समाधिः॥२९॥
Prasaṅkhyāne'pyakusīdasya sarvathā vivekakhyāterdharmameghaḥ samādhiḥ||29||
- prasamkhyāne: völlige Klarsicht
- api: sogar
- a kusīdaya: ohne Gier
- sarvathā: immer, allzeit
- vivekakhyāteh: aus der Unterscheidungskraft heraus
- dharma: Aufgabe
- meghas: Wolke
- samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
Wenn wir es nun schaffen, ohne Gier, ohne Anhaften an diesen Zustand einfach im Sein zu verweilen, breitet sich eine innere Ruhe aus, dann sind wir frei im tiefsten Sinne des Wortes.
Kapitel 4, Vers 30: Dadurch hören Handlungen auf, die auf leidvollen Spannungen basieren.
ततः क्लेशकर्मनिवृत्तिः॥३०॥
Tataḥ kleśakarmanivṛttiḥ||30||
- tatas: dadurch
- klesa: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften
- karma: Handlung
- nivrttih: stillstehen, beendet
In diesem Zustand handeln wir nur noch aus dem reinen Geist, aus völliger Klarheit und nicht gesteuert durch Affekte und Prägungen, die leidvollen Spannungen entsprangen.
Kapitel 4, Vers 31: Dann gibt es aufgrund der Unendlichkeit der Erkenntnis, von der alle Hüllen und Unreinheiten entfernt sind, nur noch wenig zu erkennen.
तदा सर्वावरणमलापेतस्य ज्ञानस्यानन्त्याज्ज्ञेयमल्पम्॥३१॥
Tadā sarvāvaraṇamalāpetasya jñānasyānantyājjñeyamalpam||31||
- tadā: dann
- sarva: alle, sämtliche
- āvarana: Bedeckung, Hülle
- mala: Unreinheit, Schmutz
- apeta: verschwunden, weggefallen
- jñāna: Kenntnis, Wissen
- ānantyat: Ewigkeit, Unendlichkeit
- jñeyam: das, worüber Wissen erlangt werden kann
- alpa: unbedeutend, gering
An diesem Punkt haben wir Zugang zur allumfassenden Weisheit, es ist wenig da, was noch erkannt werden könnte oder müsste.
Kapitel 4, Vers 32: Daher enden die stufenweisen Verwandlungen der Kräfte der Urnatur hier, da sie ihren Zweck erfüllt/ihr Ziel erreicht haben.
ततः कृतार्थानां परिणामक्रमसमाप्तिर्गुणानाम्॥३२॥
Tataḥ kṛtārthānāṁ pariṇāmakramasamāptirguṇānām||32||
- tatas: darauf
- krta: gemacht
- arthanam: Zweck, Ziel
- parināma: Verwandlung, Umwandlung
- krama: Stufe, Folge, Reihenfolge
- samāptih: Beendigung, Ende
- guna: Eigenschaft, Qualität
An diesem Punkt hören alle Kräfte auf zu wirken, da es für sie keinen Bedarf mehr gibt.
Kapitel 4, Vers 33: Wenn die stufenweisen Wandlungen sich im Augenblick auflösen, kommen sie zu einem Ende.
क्षणप्रतियोगी परिणामापरान्तनिर्ग्राह्यः क्रमः॥३३॥
Kṣaṇapratiyogī pariṇāmāparāntanirgrāhyaḥ kramaḥ||33||
- ksana: Moment, Augenblick
- pratiyogi: Gegner, Auflöser, Neutralisierer
- parināma: Verwandlung, Umwandlung
- aparānta: das letzte Ende
- nirgrāhyah: erkennbar, erfassbar
- krama: Stufe, Folge, Reihenfolge
Was sich vorher noch Stufe für Stufe verändert hat, in Richtung des anzustrebenden Ziels der vollkommenen Klarheit und schließlich Erlösung, hört nun auf, sich zu verändern, da das Ziel erreicht ist.
Kapitel 4, Vers 34: Da die Grundeigenschaften der Natur keinen Zweck mehr haben für die höchste Seele, tritt mit der Rückkehr in den Urzustand die Freiheit ein, und die Kraft der Wahrnehmung erkennt die eigene Identität und leuchtet aus sich heraus.
पुरुषार्थशून्यानां गुणानां प्रतिप्रसवः कैवल्यं स्वरूपप्रतिष्ठा वा चितिशक्तिरिति॥३४॥
Puruṣārthaśūnyānāṁ guṇānāṁ pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpapratiṣṭhā vā citiśaktiriti||34||
- purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
- artha: Ziel
- sūnyam: leer, ohne, abwesend
- guna: Eigenschaft, Qualität
- pratiprasava: Gegenströmung, Rückkehr zum Ursprung
- kaivalyam: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Für-sich-Sein
- svarūpa: eigene Form, Identität
- pratisthā: feststehen, hervorleuchten
- vā: oder
- citi: Geist
- saktih: Kraft
- iti: so ist es
Nun wirken die Grundeigenschaften der Natur nicht mehr, sie ziehen sich zurück, weil sie keinen Zweck mehr haben. Es gibt nichts mehr zu erreichen, es ist ein Zustand der Ruhe, des Angekommen-Seins, des Seins im Augenblick und damit in der Ewigkeit eingetreten.
Quellen:
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali.
- Ralph Skuban: Patanjalis Yogasutra.
- B.K.S. Iyengar: Der Urquell des Yoga. Die Yoga-Sutras des Patanjali.
- R. Sriram: Patanjali. Das Yogasutra.
- Jaganath Carrera: Inside the Yoga Sutras.
- Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patanjali.
- P.Y. Despande (Hrsg.), Bettina Bäumer (Übersetzung): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga.
- Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Weisheit leben.
- Eckard Wolz-Gottwald: Die Yoga-Sutras im Alltag leben.
- Anna Trökes: Die kleine Yoga-Philosophie.