Yogasutra Patanjali Kapitel 2
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Yogasutra von Patanjali: Kapitel 2

Von Sandra von Siebenthal

Das Yogasutra von Patanjali ist eines der bekanntesten Standardwerke der Yogaphilosphie-Literatur. Deshalb hat sich die Autorin und Philosophin Sandra von Siebenthal die Mühe gemacht, die 195 Sutren des Werkes für uns zu übersetzen und interpretieren. Ihre Ausführungen zum erstendritten und vierten Kapitel findest du natürlich auch in unserem Yoga-Magazin.

2. Kapitel: Dvitiyah Saddhana Pada – Die spirituelle Praxis

  • dvitīyah: das Zweite
  • sādhana: Geistiger Weg, spirituelle Methode
  • pāda: Kapitel, Weg

Die 55 Verse des zweiten Kapitels richten sich an Yogis und Yoginis, die schon eine innere Stabilität entwickelt haben und in der spirituellen Entwicklung fortgeschritten sind. Hier werden die Mittel und Wege erklärt, die zum Ziel der inneren Befreiung führen. Es wird auf die Bedeutung des steten Übens sowie auch des Loslassens hingewiesen, betont, wie wichtig eine genaue Beobachtung und die Schulung des Geistes sind, und dargelegt, dass dies ein stufenweiser Weg ist, der zu einem Ziel führt, zu dem es keine Abkürzungen gibt. 

Kapitel 2, Vers 1: Brennender Eifer, Selbsterforschung und Hingabe an Gott machen den Yoga der Tat aus.

तपःस्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि क्रियायोगः॥१॥

Tapaḥsvādhyāyeśvarapraṇidhānāni kriyāyogaḥ||1||

  • tapas: brennender Eifer, ausdauernde Übung
  • svādhyāya: Selbsterforschung
  • īsvarapranidhāni: Hingabe an Gott
  • kriyā: Tat, Handlung
  • yoga: Yoga

Wir sind mit uns im Reinen, wenn wir uns bei unserem Tun und Sein auf unsere Fähigkeiten besinnen, wenn wir unserer Natur entsprechend handeln. Das bedeutet auch, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Indem wir das, was uns entspricht, mit vollem Einsatz verfolgen, fühlen wir uns als uns selbst. Wichtig dabei ist, nicht aus purem Eigeninteresse, aus einer Motivation der Selbstprofilierung oder des Gewinnstrebens zu handeln, sondern aus dem Wissen, sich damit in die Welt einzubringen als der Mensch, der ich bin.

Kapitel 2, Vers 2: Ziel (dieser Form von Yoga) ist die Beseitigung von leidvollen Spannungen und das Erlangen der tiefen Vereinigung.

समाधिभावनार्थः क्लेशतनूकरणार्थश्च॥२॥

Samādhibhāvanārthaḥ kleśatanūkaraṇārthaśca||2||

  • samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
  • bhāvana: Vergegenwärtigung, intensive Imagination
  • arthah: Ziel, Zweck
  • klesa: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften
  • ·tanūkarana: verringern, schwächen, verkleinern
  • arthah: Ziel, Zweck
  • ca: und

Wer einen Weg gehen will, braucht dafür gute Gründe, ein klares Ziel. In diesem Sutra wird das Ziel des Yogawegs erläutert: Leiden soll vermindert und die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, die Samadhi, also der Erleuchtung, im Weg stehen. 

Kapitel 2, Vers 3: Die fünf leidvollen Spannungen sind: Nichtwissen, Egoismus, Begierde, Ablehnung und Selbsterhaltungstrieb.

अविद्यास्मितारागद्वेषाभिनिवेशाः पञ्च क्लेशाः॥३॥

Avidyāsmitārāgadveṣābhiniveśāḥ pañca kleśāḥ||3||

  • avidyā: Nichtwissen, Verwechslung des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen
  • asmitā: Ich-heit, Ichbewusstsein, Egoismus
  • rāga: Leidenschaft, Verhaftung
  • dvesah: Ablehnung
  • abhinivesa: Lebenswille, Lebensdrang, Selbsterhaltungstrieb, Verhaftung am körperlichen Leben
  • klesa: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften

Fünf Spannungen trüben unseren Geist und beeinflussen unser Leben negativ:

  • Das Nichtwissen, was die wirkliche Essenz der Dinge ist, der unveränderliche Kern, 
  • Egoismus, die Verwechslung des Ego mit dem wahren Selbst, 
  • das Anhaften an materielle, äußere Dinge zur Lustbefriedigung
  • die Ablehnung derselben zur Vermeidung von Leid und 
  • das Haften am körperlichen Leben, die Angst vor dem Tod. 

Kapitel 2, Vers 4: Das Nichtwissen ist der Nährboden der anderen vier Spannungen, ob sie schlummern, verringert, gespalten oder in voller Aktivität sind.

अविद्या क्षेत्रमुत्तरेषां प्रसुप्ततनुविच्छिन्नोदाराणाम्॥४॥

Avidyā kṣetramuttareṣāṁ prasuptatanuvicchinnodārāṇām||4||

  • avidyā: Nichtwissen, Verwechslung des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen
  • ksetram: Feld, Nährboden
  • uttaresām: der anderen
  • prasupta: schlafend, latent vorhanden
  • tanu: schwach
  • vicchinna: unterbrochen
  • udāranam: beständig, aufrecherthalten

Das Unwissen, die Verwechslung von Vergänglichem und Unvergänglichen ist der Urgrund dieser Spannungen, denn dieser Irrtum lässt uns nach dem Falschen streben, in der Hoffnung auf die Vermeidung von Leid und das Erlangen von Glück, welches aber immer nur von kurzer Dauer ist und auf diese Weise nicht eintreten kann. Erst wenn wir lernen, die Essenz zu erkennen, das, was allem zugrunde liegt, merken wir, dass das Glück schon da ist, wir es nur wahrnehmen müssen – als Wesenskern, der allem zugrunde liegt und welcher uns mit allem verbindet.

Kapitel 2, Vers 5: Nichtwissen ist die falsche Vorstellung, die das Vergängliche für unvergänglich, das Reine für unrein, das Leidvolle für Freude und das Nicht-Selbst für das Selbst hält.

अनित्याशुचिदुःखानात्मसु नित्यशुचिसुखात्मख्यातिरविद्या॥५॥

Anityāśuciduḥkhānātmasu nityaśucisukhātmakhyātiravidyā||5||

  • anitya: vergänglich
  • asuci: unrein
  • duhkha: Leid, Not
  • anātmasu: Nicht-Ich, Nicht-Selbst
  • nitya: unvergänglich
  • suci: rein
  • sukha: glücklich
  • ātma: das Selbst, der immanente Wesenskern
  • khyāti: Vorstellung, Anschauung, Schau
  • avidyā: Nichtwissen, Verwechslung des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen

Falsche Vorstellungen führen zu einer falschen Wahrnehmung der Dinge, wir verwechseln das Vergängliche mit dem Unvergänglichen, das Reine mit dem Unreinen, das Leidvolle mit dem Freudvollen. 

Nun mag man sich fragen, wie das möglich ist – es scheint doch fast unmöglich, Freud- und Leidvolles zu verwechseln. Wenn wir aber genau auf unser Leben schauen, fällt oft auf, dass das, was zuerst angestrebt wurde, schlussendlich wenig (anhaltendes) Glück brachte und nicht selten mit viel Leid verbunden war. Die ganze Packung Schokolade scheint erstrebenswert, weil sie so gut schmeckt, doch die Folgen sind oft leidvoll in Form von Bauchschmerzen und mehr. Einfach liegen zu bleiben, statt früh morgens auf die Yogamatte zu steigen, scheint verlockend, doch fühlt man sich am Schluss nicht wirklich besser. Und so verwechseln wir oft das, was wirklich freudvoll ist, mit dem, was kurz Freude verspricht, dieses Versprechen dann aber nicht hält. 

Kapitel 2, Vers 6: Ichverhaftung ist jene leidvolle Spannung, die den Seher (purusa) und den Akt des Sehens (durch die Sinnesobjekte) fälschlich identifiziert.

दृग्दर्शनशक्त्योरेकात्मतेवास्मिता॥६॥

Dṛgdarśanaśaktyorekātmatevāsmitā||6||

  • drg: Seher, der Wahrnehmende
  • darsana: Akt des Sehens, Ansicht
  • saktyoh: in der Kraft
  • eka: eine
  • ātmatā: Wesenheit, Selbstsein
  • iva: gleichsam, als ob
  • asmitā: Ich-heit, Ich-Bewusstsein

Indem wir durch die Welt gehen, nehmen unsere Sinne Reize auf und wir verarbeiten diese. All das, was wir wahrnehmen und was in unserem Kopf vor sich geht, identifizieren wir im Alltag als Ich. Wir denken «ich gehe durch die Welt», «ich sehe Dinge», «ich denke». Diese Identifikation ist insofern richtig, als sie in unserem landläufigen In-der-Welt-Sein der Norm entspricht, sie ist aber in einem tieferen Sinne falsch, da dieses Ich nur ein Teil dessen ist, was wir im tiefsten Kern sind. Es sind nur die oberflächlichen und oft verfälschten Strömungen in unserem Geist, die ohne bewusste Steuerung und von Prägungen und Mustern gefärbt ablaufen. Diese falsche Identifikation kann zu Spannungen führen, da sie uns von unserem wirklichen Sein abtrennt und uns auch oft auf eine Weise reagieren lässt, die tief drin weder uns noch der Situation entspricht.

Kapitel 2, Vers 7: Vergnügliches führt zu Gier.

सुखानुशयी रागः॥७॥

Sukhānuśayī rāgaḥ||7||

  • sukha: Glück, hier: Vergnügen, Lust
  • anusayī: führt zu
  • rāga: Leidenschaft, Gier

Das Stück Schokolade schmeckt so gut, dass wir mehr davon wollen. Die Fahrt mit der Achterbahn ist so toll, dass wir immer und immer wieder fahren wollen. Die Nacht durchzutanzen ist so freudvoll, dass wir nun jede Nacht tanzen wollen. Die Neigung, von Schönem mehr zu wollen, ist einerseits menschlich, andererseits gefährlich, da sie uns das rechte Maß vergessen lässt. 

Kapitel 2, Vers 8: Leid führt zu Abneigung. 

दुःखानुशयी द्वेषः॥८॥

Duḥkhānuśayī dveṣaḥ||8||

  • duhkha: Leid, Not
  • anusayī: führt zu
  • dvesah: Abneigung

Wenn ich etwas ablehne, über das ich keine Kontrolle habe, führt das unweigerlich zum Leiden. Ich sträube mich innerlich gegen das, was ich nicht will, und leide, wenn es dann doch in mein Leben tritt. Es gilt also genau hinzuschauen, worüber wir die Kontrolle haben und worüber nicht.

Kapitel 2, Vers 9: Selbst bei Wissenden findet sich das Haften am Leben, denn es basiert auf dem (natürlichen) Selbsterhaltungstrieb.  

स्वरसवाही विदुषोऽपि तथारूढोऽभिनिवेशः॥९॥

Svarasavāhī viduṣo'pi tathārūḍho’bhiniveśaḥ||9||

  • svarasa: Selbsterhaltungstrieb, am Leben haften
  • vāhī: basieren auf, kommen von
  • vidusah: wissend, der Wissende
  • api: sogar
  • tathā: so, auf diese Weise
  • rūdha: existieren, vorkommen
  • abhinivesa: Lebenswille, Lebensdrang

Bei allem Streben nach Weisheit bleiben gewisse natürliche Triebe doch erhalten, allen voran der Lebenstrieb. Selbst Weise haben ihn in sich und sind immer wieder damit konfrontiert. Nur indem wir immer tiefer in uns gehen, das vom Ich gesteuerte Denken übersteigen und zur kosmischen Intelligenz vorstoßen, merken wir, dass die eigene Energie unvergänglich ist. Sie hat sich für die Zeit unseres körperlichen, irdischen Lebens in unserem Körper manifestiert, um nach dessen Tod wieder zurückzukehren ins Universum, von dem sie nie getrennt war. Insofern sind Leben und Tod nur zwei Formen desselben. 

Kapitel 2, Vers 10: Die (subtilen) leidvollen Spannungen können beseitigt werden, indem man zum Ursprung zurückkehrt.

ते प्रतिप्रसवहेयाः सूक्ष्माः॥१०॥

Te pratiprasavaheyāḥ sūkṣmāḥ||10||

  • te: das, dieser, dessen
  • pratiprasava: Gegenströmung, Rückkehr zum Ursprung
  • heyāh: zerstören, beseitigen
  • sūksmāh: subtil

Das Haften am eigenen Leben ist der Ursprung aller subtilen Leiden. Wenn wir bei diesem ansetzen, es nicht nähren, kommt es gar nicht zu weiteren Leiden. Die beste Methode hier ist, in sich zu gehen und zum Ursprung dieses Lebenstriebs zu gelangen. Das Bewusstsein muss weg vom kleinen beschränkten Selbst und Ich-Gefühl hin zum großen Seher, zum höheren Selbst gelenkt werden, so dass der eigentliche Wesenskern, das unendliche Sein, als wirkliche Seinsform ohne möglichen Tod erkannt wird. 

Kapitel 2, Vers 11: Die seelisch-geistigen Bewegungen (die von diesem Leid hervorgerufen wurden) können durch Meditation zur Ruhe gebracht werden.

ध्यानहेयास्तद्वृत्तयः॥११॥

Dhyānaheyāstadvṛttayaḥ||11||

  • dhyāna: Meditation
  • heya: zerstören, beseitigen
  • tat: das, dieser, dessen
  • vrttayah: Bewegung, Erregung des Geistes

Meditation hilft, die leidvollen Spannungen zum Erlöschen zu bringen, indem es dazu führt, falsche Identifikationen zu erkennen und loszulassen.

Kapitel 2, Vers 12: Die Ansammlung von Prägungen, die aus Handlungen entstehen, die von den kleshas (leidvollen Spannungen) beeinflusst sind, haben Folgen für unser gegenwärtiges (aktuell erfahrbares) sowie auch für unser künftiges Leben.

क्लेशमूलः कर्माशयो दृष्टादृष्टजन्मवेदनीयः॥१२॥

Kleśamūlaḥ karmāśayo dṛṣṭādṛṣṭajanmavedanīyaḥ||12||

  • klesa: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften
  • mūla: Wurzel
  • karma: Handlung
  • āsayah: Anlage, Speicher
  • drsta: unmittelbar, sichtbar, präsent
  • adrsta: unsichtbare, künftig
  • janma: Geburt, Leben
  • vedanīyah: erfahren, empfinden

Wenn wir unser Handeln von den leidvollen Spannungen leiten lassen, hinterlässt das Spuren bei uns. Buddha sagte schon, dass das, was du heute tust, bestimmt, wer du morgen bist. Genauso ist es auch mit unserem Tun aus den falschen Beweggründen: Die daraus entstandenen Prägungen werden unser Leben heute und morgen auf weitere leidbringende Weise beeinflussen. Es ist deshalb wichtig, bei allem, was wir tun, zu schauen, was uns zu diesem Tun bewegt: Handeln wir aus den richtigen Motiven oder reagieren wir aus einem Affekt heraus der Situation gegenüber eigentlich unangemessen?

Kapitel 2, Vers 13: Solange diese Wurzel (der leidvollen Spannungen) lebendig ist, wird sie Früchte tragen. Das fängt mit der Geburt an und bestimmt danach sowohl die Lebensspanne wie auch die Lebenserfahrung.

सति मूले तद्विपाको जात्यायुर्भोगाः॥१३॥

Sati mūle tadvipāko jātyāyurbhogāḥ||13||

  • sati: existierend, seiend
  • mūle: Wurzel
  • tat: aus diesen, diese
  • vipākah: Heranreifen, Früchte
  • jāti: Geburt, Lebenform
  • āyuh: Lebensspanne
  • bhoga: Essen, Genuss

Nach dem Karma-Gesetz führt jede Handlung, die aus leidvollen Spannungen und unbewusst passiert, zu einer Anhäufung von Karma. Dies wirkt sich wiederum auf das Leben aus, indem es sowohl die Art und Weise, wie wir auf die Welt kommen, als auch die zu erwartende Lebensdauer und Erfahrungen des zukünftigen Lebens bestimmt. Bedenkt man, dass Energie immer wieder neu realisiert wird, indem sie aus einem sterbenden Körper weicht und in einem neuen wieder manifest wird, wirkt dieses Karma über die eigenen (körperlichen) Lebensgrenzen hinaus ins neue Leben hinein.

Kapitel 2, Vers 14: Die Erfahrung von Freude oder Leid sind Früchte von Handlungen, die auf guten oder schlechten Absichten gründen.

ते ह्लादपरितापफलाः पुण्यापुण्यहेतुत्वात्॥१४॥

Te hlādaparitāpaphalāḥ puṇyāpuṇyahetutvāt||14||

  • te: diese
  • hlāda: Freude
  • paritāpa: Schmerz, Leid
  • phalah: Früchte
  • punya: gute, rechte Handlung
  • apunya: schlechte Handlung
  • hetutvat: Ursache

Wir haben es in der Hand, ob wir unser Leben leid- oder freudvoll gestalten wollen. Wenn wir mit den richtigen Absichten handeln, wird sich das in unserem Leben als Freude auswirken, bei schlechten Absichten resultiert Leid. 

Kapitel 2, Vers 15: Die Weisen, die unterscheiden können, erkennen, dass alle Erfahrungen mit Leiden verbunden sind, weil Leid aufgrund von Veränderungen, Ängsten, Prägungen sowie durch die Spannungen auslösenden Grundeigenschaften (gunas) der Natur existiert.

परिणामतापसंस्कारदुःखैर्गुणवृत्तिविरोधाच्च दुःखमेव सर्वं विवेकिनः॥१५॥

Pariṇāmatāpasaṁskāraduḥkhairguṇavṛttivirodhācca duḥkhameva sarvaṁ vivekinaḥ||15||

  • parināma: Wandel, Umwandlung
  • tāpa: Schmerz, Angst
  • samskāra: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
  • duhkhaih: Leid, Not
  • guna: Eigenschaft, Qualität, Grundeigenschaften der Welt/Natur
  • vrtti: Welle, Bewegung
  • virodhat: Konflikt, Spannungsfeld
  • ca: und
  • duhkham: Leid, Not
  • eva: auch
  • sarvam: alles
  • vivekinah: einer, der der Unterscheidung fähig ist

Nach der indischen Philosophie setzt sich alles in der Welt aus den drei Gunas (rajas, tamas und sattva) zusammen. Diese sind immer in Bewegung, verändern ihre Zusammensetzung und lösen dadurch auch Veränderungen und Spannungen aus. So gesehen befindet sich alles, was in dieser Welt existiert, im ständigen Wandel. Wenn wir als Menschen nun bewahren wollen, was ist, das Gute wollen, das Schlechte meiden, dann sind wir mit diesen die Welt ausmachenden Grundeigenschaften im Konflikt, da diese nie zum Stillstand kommen. Erst wenn wir das erkennen, können wir darüber hinaus steigen und uns aus den Verstrickungen von Habenwollen, Meiden und Bewahren aussteigen und damit das Leid überwinden.

Kapitel 2, Vers 16: Nur Leid, das noch nicht eingetreten ist, kann vermieden werden.

हेयं दुःखमनागतम्॥१६॥

Heyaṁ duḥkhamanāgatam||16||

  • heyam: vermeidbar, 
  • duhkham: Leid, Not
  • anāgatam: „das noch nicht Gekommene“, die Zukunft

Was schon passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern. Es bringt also wenig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen und immer weiter zu leiden. Vermeiden können wir nur das, was vor uns liegt. Dabei hilft es, im Hier und Jetzt mit den richtigen Absichten zu handeln. So lässt sich künftiges Leid vermeiden. 

Kapitel 2, Vers 17: Die Identifikation des Sehenden mit dem Gesehenen ist eine Ursache von Leiden, die vermieden werden kann.

द्रष्टृदृश्ययोः संयोगो हेयहेतुः॥१७॥

Draṣṭṛdṛśyayoḥ saṁyogo heyahetuḥ||17||

  • drastr: der Seher
  • drsyayoh: das Gesehene
  • samyogah: Verbindung, Vereinigung
  • heya: vermeidbar
  • hetuh: Ursache

Wir leben in einer Welt voller Reize und Verlockungen, von denen wir uns angezogen fühlen. Wir sehen Dinge, die wir haben wollen, identifizieren uns mit diesen und merken oft zu spät, dass sie uns nicht gut tun. Daraus entsteht oft Leiden, das vermeidbar wäre, würden wir von Anfang an genauer hinschauen. 

Kapitel 2, Vers 18: Das Gesehene hat folgende Qualitäten (der Gunas): Licht, Aktivität und Trägheit. Diese drei Eigenschaften manifestieren sich in den grobstofflichen Elementen und in den Sinnesorganen zum Zweck, zu Erfahrung und Befreiung zu führen. 

प्रकाशक्रियास्थितिशीलं भूतेन्द्रियात्मकं भोगापवर्गार्थं दृश्यम्॥१८॥

Prakāśakriyāsthitiśīlaṁ bhūtendriyātmakaṁbhogāpavargārthaṁ dṛśyam||18||

  • prakāsa: Licht, Erleuchtung
  • kriyā: Tat, Handlung
  • sthiti: Starrheit, Verharren
  • sīlam: Natur, Wesen
  • bhūta: (grobstoffliche) Elemente
  • indriya: Sinnesorgane (feinstofflich)
  • ātmakam: Eigenschaft, zum Wesen eines Dinges gehörend, das, woraus etwas existiert
  • bhoga: (glückliche) Erfahrung, Wohlergehen
  • apavarga: Vollendung, Erlösung, Befreiung (von weltlichem Dasein)
  • artham: Zweck
  • drsyam: das Gesehene

Alles, was wir sehen, setzt sich aus den drei Qualitäten der Natur zusammen, welche sich in ihrem Verhältnis immer verändern, wodurch sich auch unsere Wahrnehmung ändert. Indem wir diese Veränderungen bewusst erfahren, erhalten wir immer tiefere Einblicke in das Wesen der Natur und des Lebens an sich, um uns schlussendlich vollends von diesen befreien zu können. 

2.19 Die Formen der Gunas sind entweder spezifisch oder unspezifisch, entweder mit oder ohne sichtbare Kennzeichen.

विशेषाविशेषलिङ्गमात्रालिङ्गानि गुणपर्वाणि॥१९॥

Viśeṣāviśeṣaliṅgamātrāliṅgāni guṇaparvāṇi||19||

  • visesa: spezifisch, bestimmt
  • avisesa: unspezifisch, unbestimmt
  • linga mātra: mit sichtbaren Kennzeichen, unterscheidbar
  • alinga: ohne sichtbares Kennzeichen, ununterscheidbar
  • guna: Eigenschaft, Qualität
  • parvāni: Glieder, Formen, Stadien

Alles, was wahrnehmbar ist, setzt sich aus den drei Gunas zusammen. Dabei lassen sich vier Stufen unterscheiden vom ganz Feinstofflichen bis hin zum Grobstofflichen. Die erste Stufe ist ohne Form und universal wahrnehmbar, damit nicht zu unterscheiden. Die nächste Stufe ist die kosmische Intelligenz, sie ist feinstofflich, hier existieren schon Ausprägungen der Gunas, so dass sich je nach Zusammensetzung unterscheidbare Formen ergeben. Auf der nächsten Stufe ist eine leichte Verfestigung hin zu grobstofflicheren Elementen. Noch sind die Formen unspezifisch, doch sie verfestigen sich immer mehr hin zur vierten Stufe, den grobstofflichen Elementen. 

Kapitel 2, Vers 20: Der Sehende ist nichts anderes als die Kraft des Sehens. Obwohl er selbst völlig rein ist, ist sein Sehen vom Geist geprägt.

द्रष्टा दृशिमात्रः शुद्धोऽपि प्रत्ययानुपश्यः॥२०॥

Draṣṭā dṛśimātraḥ śuddho'pi pratyayānupaśyaḥ||20||

  • drastā: der Seher, der Beobachter, der Sehende
  • drsi: Sehen, Auge
  • mātrah: die Kraft, die Ausprägung
  • suddhah: rein
  • api: obwohl
  • prataya: Vorstellung
  • anupasyah: erscheint wie gesehen, Vision

Obwohl wir im Wesenskern rein und unveränderlich sind, können wir nur mittels unseres Geistes Dinge wahrnehmen, so dass unsere Wahrnehmung immer auch von diesem Geist beeinflusst ist. Je nach Zustand desselben nehmen wir die Welt um uns anders wahr. Die Schriftstellerin Anaïs Nin drückte das so aus: „Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind.”

Kapitel 2, Vers 21: Das Gesehene existiert nur für den Sehenden.

तदर्थ एव दृश्यस्यात्मा॥२१॥

Tadartha eva dṛśyasyātmā||21||

  • tas: das, dieser, dessen (der Seher)
  • artha: als Ziel, zum Zweck
  • eva: nur
  • drsyasya: das Gesehene
  • ātma: Existenz, Essenz

Nur indem wir ein Objekt wahrnehmen, existiert es. Es ist der Zweck der Objekte in dieser Welt, dass sie wahrgenommen werden (können). Man kann das vergleichen mit einem Lied, das gespielt wird, damit es jemand hört, oder mit einem Essen, das gekocht wird, damit es jemand isst.

Kapitel 2, Vers 22: Für den, der das Ziel erreicht hat, löst sich das Gesehene auf, wenngleich es für die anderen weiter existiert und seine Gültigkeit hat.

कृतार्थं प्रति नष्टमप्यनष्टं तदन्यसाधारणत्वात्॥२२॥

Kṛtārthaṁ prati naṣṭamapyanaṣṭaṁ tadanyasādhāraṇatvāt||22||

  • krta: vollbracht, gemacht
  • artha: zum Zweck, zum Ziel
  • prati: hin zu, 
  • nastam: zerstört 
  • api: wenngleich
  • anastam: unzerstört
  • tat: das, dieser, dessen
  • anya: andere
  • sādhāranatva: gemeinsame Erfahrung, Gültigkeit

Die Wirkkräfte der Natur wirken auf einen, bis man sie als solche erkannt und überwunden hat. Dann ist das Ziel erreicht und man ist durch sie zur eigenen Wesensnatur vorgedrungen. Dann hören die Wirkkräfte auf zu existieren, da sie nun für den Betreffenden keine Bedeutung mehr haben. Für alle anderen existieren und wirken sie weiter. Diese haben ihr Ziel noch nicht erreicht und leben weiter in der allgemein wirksamen Natur mit ihren Phänomenen und Eigenschaften.

Kapitel 2, Vers 23: Durch die Verbindung des Sehenden mit dem Gesehenen können die wahre Natur und die Kräfte von beiden erkannt werden.

स्वस्वामिशक्त्योः स्वरूपोपलब्धिहेतुः संयोगः॥२३॥

Svasvāmiśaktyoḥ svarūpopalabdhihetuḥ saṁyogaḥ||23||

  • svāmi: Mönch, Meister, das wahre Selbst (Purusa)
  • saktyoh: die Kräfte
  • svarūpa: eigene Gestalt, Wesensnatur
  • upalabdhi:  Wahrnehmbarkeit, Erkennen
  • hetuh: Ursache
  • samyoga: Verbindung

Wenn wir erkennen, dass das, was wir wahrnehmen, für uns so ist, weil wir es, so wie wir sind, wahrnehmen, erkennen wir durch das Wahrgenommene und unsere Wahrnehmung, wer wir sind und was wir in die Welt tragen. Wir erkennen dadurch die wahre Natur des Wahrgenommenen und unsere eigene. 

Kapitel 2, Vers 24: Falsche Einsicht führt zu falscher Wahrnehmung, zu Verwechslungen (von Vergänglichem und Unvergänglichem).

तस्य हेतुरविद्या॥२४॥

Tasya heturavidyā||24||

  • tat: das, dieser, dessen
  • hetur: Ursache
  • avidyā: Nichtwissen, Verwechslung des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen

Dieses Sutra steht in einem Widerspruch zum letzten, wenn man es wörtlich übersetzt. Ist die Verbindung von Sehendem und Gesehenem vorher der Erkenntnis und damit der Befreiung dienlich, so basiert sie hier auf Nichtwissen. Davon ausgehend, dass dies nicht der Sinn dieses Sutras sein kann, bleibt als durch den Kontext sinnvollere Interpretation folgendes: Die Verbindung von Sehendem und Gesehenem kann zur Befreiung führen, wenn daraus die Erkenntnis der Nicht-Identität entsteht und die wahre Natur von beidem zum Erleuchten kommt. Folgt aus der Verbindung aber eine Identifizierung von dem Sehenden mit dem Gesehenen, dann führt diese Verbindung zu Leiden, denn sie basiert auf Nicht-Wissen. 

Kapitel 2, Vers 25: Wenn das Nichtwissen aufhört, hört auch die Verbindung auf. Diese Abwesenheit führt zur absoluten Freiheit des Sehers.

तदभावात्संयोगाभावो हानं तद्दृशेः कैवल्यम्॥२५॥

Tadabhāvātsaṁyogābhāvo hānaṁ taddṛśeḥ kaivalyam||25||

  • tat: das, dieser, dessen
  • abhāvat: Abwesenheit, Nichtvorhandensein
  • samyoga: Verbindung
  • abhāvah: Abwesenheit, Nichtvorhandensein
  • hānam: Abwesenheit
  • tad: das, dieser, dessen
  • drseh: des Sehers
  • kaivalyam: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Freiheit

Je mehr wir uns von falschen Vorstellungen lösen können, desto mehr lässt die Identifikation mit den falschen Dingen nach, weil die Klarheit wächst. Das ist der Weg, der zu wirklicher Freiheit führt, weil alle Anhaftungen aufhören.

Kapitel 2, Vers 26: Durch die Praxis ununterbrochenen unterscheidenden Erkennens kann es (das Nichtwissen) beseitigt werden.

विवेकख्यातिरविप्लवा हानोपायः॥२६॥

Vivekakhyātiraviplavā hānopāyaḥ||26||

  • viveka: Unterscheidungskraft
  • khyāti: Vorstellung, Anschauung, Schau
  • aviplavā: ununterbrochen
  • hāna: Beseitigung, beseitigen
  • upāya: Methode, Mittel

Wie aber gehen wir diesen Weg in die Freiheit? Es gilt, kontinuierlich zu üben, wie wir bewusst zwischen den Dingen unterscheiden: Welche sind vergänglich, welche ewig? Welche Dinge sind bloßer Schein dessen, was sie vorgeben zu sein, welche wirkliches Sein? Das kontinuierliche Praktizieren dieser unterscheidenden Sicht wird das Nichtwissen nach und nach auflösen, bis es verschwunden ist. 

Kapitel 2, Vers 27: Die Weisheit auf der letzten Stufe (des achtgliedrigen Pfades) setzt sich aus den sieben vorangegangenen Stufen zusammen (ist siebenfach).

तस्य सप्तधा प्रान्तभूमिः प्रज्ञा॥२७॥

Tasya saptadhā prāntabhūmiḥ prajñā||27||

  • tasya: dessen
  • saptadhā: siebenfach
  • prānta: letzte Stufe, das Höchste, 
  • bhūmih: Fundament, Boden
  • prajñā: Weisheit, Erkenntnis

Den Zustand der Einheit, der durch die Praxis des Yoga erreicht wird, wird nicht von einem Tag auf den anderen erreicht. Es ist ein Weg mit sieben Stufen, die alle sowohl aufeinander folgen als auch miteinander verwoben sind. Die letzte Stufe setzt sich aus den vorhergehenden sieben Stufen zusammen. Wenn sie alle verwirklicht sind, hat man das Ziel, die vollkommene Einheit und Weisheit, erreicht. Dann ruht der Seher in seiner Wesensidentität, wie es in Sutra 1.3 heißt.

Kapitel 2, Vers 28: Durch die Übung der Glieder des Yoga verschwinden die Unreinheiten, das Licht der Erkenntnis leuchtet auf und führt zur Einsicht der Unterscheidung.

योगाङ्गानुष्ठानादशुद्धिक्षये ज्ञानदीप्तिराविवेकख्यातेः॥२८॥

Yogāṅgānuṣṭhānādaśuddhikṣaye jñānadīptirāvivekakhyāteḥ||28||

  • yoga: yoga, Vereinigung
  • anga: Glieder
  • anusthānat: durch die Übung, durch die Praxis
  • asuddhi: Unreinheit
  • ksaye: Zerstörung, Tilgung, Beseitigung
  • jñāna: Kenntnis, Wissen
  • dīptih: Strahlen, Glanz, Licht
  • ā: führt zu, hin zu
  • viveka: Unterscheidung
  • khyāteh: Einsicht

Wer kontinuierlich seine Yoga-Praxis verfolgt, bei dem schwinden nach und nach alle Unreinheiten, das Licht wahrer Erkenntnis leuchtet auf und führt zur Klarheit. Dann kann er unterscheiden zwischen Sein und Schein. 

Kapitel 2, Vers 29: Die acht Glieder des Yoga sind: Yama – Kriterien für den Umgang mit anderen,
Niyama – Kriterien für den Umgang mit sich,
Asana – Körperübungen
Pranayama – Atemlenkung,
Pratyahara – Rückzug der Sinne,
Dharana – Konzentration, Dhyana – Meditation, Samadhi – Einkehr, Einheitserfahrung.

यमनियमासनप्राणायामप्रत्याहारधारणाध्यानसमाधयोऽष्टावङ्गानि॥२९॥

Yamaniyamāsanaprāṇāyāmapratyāhāradhāraṇādhyānasamādhayo’ṣṭāvaṅgāni||29||

  • yama: Kriterien für den Umgang mit anderen
  • niyama: Kriterien für den Umgang mit sich
  • āsana: Sitz, Sitzhaltung, Körperstellung
  • prānāyāma: Atemlenkung, Kontrolle des Atems
  • pratyāhāra: Zurückziehen der Sinne, nach innen Nehmen der Sinne
  • dhāranā: Konzentration
  • dhyāna: Meditation
  • samādhi: Kontemplation, Einkehr, Einheitserfahrung
  • astau: acht
  • angāni: Glieder

Der achtstufige Pfad des Yoga setzt sich aus acht Gliedern zusammen. Diese sind:

  • Kriterien, wie wir mit anderen Menschen umgehen sollen
  • Kriterien, was wir bei uns selbst beachten sollen
  • Üben einzelner Körperstellungen
  • bewusste Atemlenkung
  • Rückzug der Sinne, um das Außen auszuschalten und sich nach innen zu wenden
  • Konzentration auf ein Objekt
  • Meditation auf Dinge oder Zustände
  • vollständige Erfahrung der Einheit, des eigenen Wesenskerns, das Ruhen in demselben

Kapitel 2, Vers 30: Die Yamas (die Kriterien für den Umgang mit anderen) beinhalten Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, reinen Lebenswandel und Nicht-Besitzergreifen.

अहिंसासत्यास्तेयब्रह्मचर्यापरिग्रहा यमाः॥३०॥

Ahiṁsāsatyāsteyabrahmacaryāparigrahā yamāḥ||30||

  • ahimsā: Gewaltlosigkeit
  • satya: Wahrhaftigkeit
  • asteya: Nicht-Stehlen
  • brahmacarya: reiner Lebenswandel
  • aparigrahāh: Nicht-Besitzergreifen
  • yamāh: Kriterien für den Umgang mit anderen

Wenn es darum geht, wie wir mit anderen umgehen sollen, nennt Patanjali die Yamas, fünf wichtige Kriterien des richtigen Umgangs: Wir sollen keine Gewalt anwenden, weder körperlich, seelisch noch psychisch. Auch sollen wir stets wahrhaftig bleiben, nichts stehlen, unseren Lebenswandel rein halten, dass in ihm keine (wie auch immer gearteten) Exzesse stattfinden. Wir sollen von nichts Besitz ergreifen, das wir nicht brauchen, also nicht gierig sein. 

Die Gewaltlosigkeit steht nicht zufällig am Anfang, sie ist das oberste Gebot im Umgang mit anderen Menschen, mit der Welt. Sie steht auch über den anderen Yamas, so dass wir bei jedem bewusst hinschauen müssen, dass wir diese Regel einhalten beim Befolgen der anderen. Vor allem beim Aussprechen der Wahrheit kann es schnell zu Verletzungen kommen. Darum sei jedes Wort weise gewählt. Das war wohl auch in Sokrates' Sinn, als er die drei Siebe zur Prüfung nannte, ob etwas wirklich gesagt werden sollte:

Ist es wahr?
Ist es gut?
Ist es nötig?

Kapitel 2, Vers 31: Diese großen Regeln gelten uneingeschränkt, unabhängig von Geburt, Ort, Zeit und Lebensumständen.

जातिदेशकालसमयानवच्छिन्नाः सार्वभौमा महाव्रतम्॥३१॥

Jātideśakālasamayānavacchinnāḥ sārvabhaumā mahāvratam||31||

  • jāti: Klasse, soziale Schicht, Geburt
  • desa: Platz, Position, Ort
  • kāla: Zeit, Dauer
  • samaya: Sitten, Umstand, Situation
  • anavacchinnah: unbeschränkt, uneingeschränkt
  • sārva: alle
  • bhaumah: Stufen, Ebenen
  • mahāvratam: großes Gelübde, große Pflicht

Diese Regeln des Verhaltens sind universell. Es gibt keine Ausrede, sich nicht daran zu halten, es gibt keinen Grund, sie zu brechen. Egal, wann oder wo wir geboren wurden, egal, zu welcher sozialen Schicht wir gehören, jede:r kann sich für das richtige Verhalten entscheiden. 

Kapitel 2, Vers 32: Die Kriterien für den Umgang mit sich selbst sind Reinheit, Zufriedenheit, ausdauernde Übung, eigenes Studium und Hingabe an Gott.

शौचसन्तोषतपःस्वाध्यायेश्वरप्रणिधानानि नियमाः॥३२॥

Śaucasantoṣatapaḥsvādhyāyeśvarapraṇidhānāni niyamāḥ||32||

  • sauca: Reinheit, Reinigung (innerlich wie äusserlich)
  • samtosa: Zufriedenheit Genügsamkeit, innere Ruhe, Heiterkeit
  • tapas: brennender Eifer, ausdauernde Übung
  • svādhyāya: Selbsterforschung
  • īsvara: Gott, Herr
  • pranidhānāni: Hingabe
  • niyamāh: Kriterien für den Umgang mit sich selbst

Mit den Yamas wurde die soziale Praxis abgedeckt, bei den Niyamas geht es nun um den Umgang mit sich selbst: Wie verhalte ich mich mir selbst gegenüber, was soll ich in Bezug auf mich beachten: Ich soll mich innerlich wie äußerlich reinhalten, zufrieden sein mit dem, was ist. Ich soll Eifer an den Tag legen, wenn es darum geht, meine Praxis zu vollbringen und meine Pflichten in diesem Leben zu erfüllen. Die Selbsterforschung ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, sie beinhaltet sowohl das Lesen der heiligen Schriften wie auch das Lesen des eigenen Geistes. Schlussendlich soll ich mich dem Höchsten, dem Göttlichen, hingeben. 

Kapitel 2, Vers 33: Wenn unheilsame Gedanken das Gemüt stören, hilft das Denken entgegengesetzter Gedanken.

वितर्कबाधने प्रतिपक्षभावनम्॥३३॥

Vitarkabādhane pratipakṣabhāvanam||33||

  • vitarkā: Zweifel, Vermutung
  • bādhana: Bedrängnis, Betroffenheit
  • pratipaksa: Gegenteil, Gegenposition
  • bhāvana: Vergegenwärtigung, intensive Imagination

Es gibt heilsame und unheilsame Gedanken, richtiges und falsches Denken. Wann immer ein (für uns oder andere) unheilsamer Gedanke aufkommt, hilft es, einen diesem entgegengesetzten (guten) Gedanken zu haben. Dadurch wird das falsche Denken aufgelöst. 

Kapitel 2, Vers 34: Aus unheilsamen Gedanken entsteht Gewalt, sei es durch eigene Taten, Anstiftungen zu solchen oder Billigung derselben. Unheilsame Gedanken sind motiviert von Gier, Wut oder Verblendung. Sie können mild, mäßig oder intensiv sein, aber sie hören nie auf, zu Ignoranz und Leid zu führen. Deshalb muss man heilsame Gedanken pflegen.

 वितर्का हिंसादयः कृतकारितानुमोदिता लोभक्रोधमोहपूर्वका मृदुमध्याधिमात्रा दुःखाज्ञानानन्तफला इति प्रतिपक्षभावनम्॥३४॥

Vitarkā hiṁsādayaḥ kṛtakāritānumoditā lobhakrodhamohapūrvakā mṛdumadhyādhimātrā duḥkhājñānānantaphalā iti pratipakṣabhāvanam||34||

  • vitarkā: Zweifel, Vermutung
  • himsā: Verletzung, Schädigung
  • adayah: und so weiter
  • krta: getan, erreicht, Täter, jemand, der das, was zu tun war, tat
  • kārita: Veranlasser der Tat, Auftraggeber, veranlasst
  • anumoditāh: geduldet, gebilligt, Befürworter
  • lobha: Gier
  • krodha: Wut, Zorn
  • moha: Verblendung
  • pūrvakāh: begleitet von, basierend auf, Voraussetzung, zugrunde liegend
  • mrdu: sanft, mild
  • madhya: mäßig
  • adhimātrāh: intensiv
  • duhkha: Leid, Not
  • ajñāna: Unwissenheit, Unklarheit
  • ananta: endlos
  • phala: Früchte, Ergebnisse
  • iti: so
  • pratipaksa: Gegenteil, Gegenposition
  • bhāvana: Vergegenwärtigung, intensive Imagination

Um unheilsame Gedanken zu erkennen, ist es wichtig, unser Denken und auch unser Handeln immer zu hinterfragen: Was treibt uns an, was sind unsere Motive. Nur die richtigen Motive führen zu heilsamem Denken, die falschen wie Gier, Wut, Verblendung führen zu unheilsamen Gedanken und in der Folge auch zu solchen Taten. 

Kapitel 2, Vers 35: Wenn man fest in seiner Haltung der Gewaltlosigkeit gegründet ist, schafft man eine Atmosphäre, in welcher auch die anderen ihre Feindseligkeit aufgeben können.

अहिंसाप्रतिष्ठायां तत्सन्निधौ वैरत्यागः॥३५॥

Ahiṁsāpratiṣṭhāyāṁ tatsannidhau vairatyāgaḥ||35||

  • ahimsā: Gewaltlosigkeit
  • pratisthā: Stabilität, Beständigkeit
  • tat: das, dieser, dessen
  • samnidhi: Nähe, Gegenwart
  • vaira: Feindseligkeit, Feindlichkeit
  • tyāga: Verlassen, Aufgeben

Was immer ich bin, strahlt in meine Umgebung aus und hilft, da etwas zu bewirken. Wenn ich also tief in der Gewaltlosigkeit verankert bin, wird mein Beispiel auch einen Einfluss auf meine nächsten Menschen haben, so dass sich die Gewaltlosigkeit ausbreiten wird. Wir können vielleicht nicht die ganze Welt verändern, aber im Kleinen, in unserem Umfeld, haben wir eine Chance. Wenn wir sie wahrnehmen, können wir etwas bewirken, das nach und nach weitere Kreise ziehen kann. Und wer denkt, er oder sie sei zu klein, etwas zu bewirken, der oder die sei an Thich Nhat Han verwiesen, welcher an die Mücke erinnerte, die nachts um den eigenen Kopf kreist.

Kapitel 2, Vers 36: Wenn man fest in der Wahrhaftigkeit gegründet ist, dient das der Reifung des Handelns.

सत्यप्रतिष्ठायां क्रियाफलाश्रयत्वम्॥३६॥

Satyapratiṣṭhāyāṁ kriyāphalāśrayatvam||36||

  • satya: Wahrhaftigkeit
  • pratisthām: Stabilität, Beständigkeit
  • kriyā: Tat, Handlung
  • phala: Frucht
  • āsrayatvam: Folgen, führen zu, dienen zu

Unsere Taten folgen unseren Gedanken. Wenn wir also die richtigen Gedanken haben, folgen daraus richtige und gute Taten. Aus der Verankerung in der Wahrhaftigkeit folgt reifes Handeln, eines, das zum Guten führt. 

Kapitel 2, Vers 37: Wer nichts an sich nimmt, das ihm nicht gehört, dem kommt aller Reichtum von selbst zu.

अस्तेयप्रतिष्ठायां सर्वरत्नोपस्थानम्॥३७॥

Asteyapratiṣṭhāyāṁ sarvaratnopasthānam||37||

  • asteya: Nicht-Stehlen
  • pratisthām: Stabilität, Beständigkeit, gegründet sein
  • sarva: alle
  • ratna: Schatz, Reichtum, Wohlstand
  • upasthānam: kommen von

Wie wir uns verhalten, prägt das Bild, das andere von uns haben. Wenn wir uns auf eine gute und richtige Weise verhalten, nicht lügen, stehlen, Gewalt anwenden, wird das von unserer Umwelt wahrgenommen. Wenn die Menschen um uns wissen, dass wir nichts an uns reißen, das uns nicht gehört, wenn sie sich vor uns nicht zu fürchten haben, bringen sie uns Vertrauen entgegen. Schon das ist ein Geschenk, das nicht zu unterschätzen ist. Aus diesem Vertrauen heraus sind sie auch bereit zu geben, im Wissen, dass sie nie ausgenutzt oder betrogen werden. Gandhi sagte, man solle die Veränderung sein, die man gerne in der Welt sähe. Das entspringt dem gleichen Gedanken, nämlich dem, dass wir ernten, was wir säen.

Kapitel 2, Vers 38: Wer das richtige Maß bewahrt, erlangt große Kraft.

ब्रह्मचर्यप्रतिष्ठायां वीर्यलाभः॥३८॥

Brahmacaryapratiṣṭhāyāṁ vīryalābhaḥ||38||

  • brahmacarya: reiner Lebenswandel
  • pratisthām: Stabilität, Beständigkeit, gegründet sein
  • vīrya: Kraft
  • lābhah: gewinnen, erlangen 

Wenn wir uns verausgaben, treiben wir uns selbst in die (körperliche und seelische) Erschöpfung. Mäßigung ist der Weg, uns davor zu schützen, sogar noch Kraft zu gewinnen. Wir müssen mit unseren Kräften sorgfältig haushalten. Dieser Gedanke findet sich nicht nur bei Patanjali, auch Konfuzius rief zu Maß und Mitte auf, Buddha beschwor den mittleren Weg und auch Aristoteles riet zum richtigen Maß: nicht zu viel, nicht zu wenig, nicht feige, nicht übermütig, nicht zu schnell, nicht zu langsam, nicht zu stürmisch, nicht zu zurückhaltend. 

Anmerkung: Brahmacharia wird oft mit „Keuschheit” oder „Enthaltsamkeit“ übersetzt. Es gibt durchaus indische Philosophien, die der Körperlichkeit abschwören, andere wiederum sehen den Körper als Tempel (Tantra), den es zu pflegen gilt – auch mit Genuss.

Kapitel 2, Vers 39: Wer frei von Habgier ist, erkennt worum es im Leben wirklich geht (das Wesen des Lebens).

अपरिग्रहस्थैर्ये जन्मकथन्तासम्बोधः॥३९॥

Aparigrahasthairye janmakathantāsambodhaḥ||39||

  • aparigraha: Nicht-Besitzergreifen, frei von Habgier
  • sthairya: standhaft, gesichert
  • janma: Geburt, Ursprung
  • kathamtā: Grund, Umstand, Wie-Sein
  • sambodhah: Verständnis

Wir haben Wünsche, denken, wir seien glücklicher, wenn wir nur dies oder jenes noch hätten. Wir sind sprichwörtlich gefangen in unserem Haben-Wollen, dass wir damit auf Dauer nicht glücklicher sind – im Gegenteil. Jeder erfüllte Wunsch führt zu fünf neuen, wir werden nie an ein Ende des Wünschens kommen. Und: Das meiste von dem, was wir uns wünschen, brauchen wir eigentlich gar nicht. Es ist eine sprichwörtliche Befreiung, wenn wir uns auf das besinnen, was wir haben und wirklich brauchen, wenn wir uns von unserem Haben-Wollen und Wünschen lösen können. Dann erblicken wir, was wirklich zählt im Leben, wir erkennen, was das wirkliche Leben ausmacht. 

Kapitel 2, Vers 40: Durch Reinheit (innerlich und äußerlich) nimmt das Interesse am eigenen Körper und am Kontakt mit anderen Körpern ab.

शौचात्स्वाङ्गजुगुप्सा परैरसंसर्गः॥४०॥

Śaucātsvāṅgajugupsā parairasaṁsargaḥ||40||

  • saucāt: Reinheit, Reinigung (innerlich wie äusserlich)
  • svānga: eigener Körper
  • jugupsā: Abneigung, Schutz
  • paraih: fremd, andere
  • asamsargah: Unverbundenheit, Kontaktlosigkeit

Dieses Sutra wird oft mit einer Körperfeindlichkeit verbunden. Zwar gibt es durchaus Yoga-Traditionen, die alles darauf ausrichten, den Körper zu überwinden, um zuerst in die geistige Welt und dann noch höher zu steigen. Trotzdem ist der Körper das Medium, mit dem wir durch diese Welt gehen, er ist auch die Manifestation, mit der wir die ersten Stufen des achtstufigen Yoga-Pfades beschreiten. 
Aus diesem Kontext heraus wird dieses Sutra hier eher so verstanden, dass man den Körper rein halten soll, um ihn zu schützen, so dass er eine würdige Behausung des Sehers ist (wie es auch im lateinischen Spruch „mens sana in corpore sano“, gesunder Geist in gesundem Körper, heißt), ihm aber darüber hinaus nicht zu sehr zugewandt zu sein, so dass kein Kult um ihn entsteht. Er soll als das gesehen werden, was er ist: Ein wichtiger Teil in unserem irdischen Sein, das Vehikel, das uns durch dieses trägt, aber nicht das Höchste, das man anbeten solle. 

Kapitel 2, Vers 41: (Innere und äußere) Reinheit führt zu Heiterkeit, größerer Konzentrationsfähigkeit sowie Beherrschung der Sinne und befähigt dadurch zur Schau des eigenen Selbst.

सत्त्वशुद्धिसौमनस्यैकाग्र्येन्द्रियजयात्मदर्शनयोग्यत्वानि च॥४१॥

Sattvaśuddhisaumanasyaikāgryendriyajayātmadarśanayogyatvāni ca||41||

  • sattva: Charakter, Selbst-Sein
  • suddhi: rein
  • saumanasya: Heiterkeit
  • ekāgrya: Konzentration auf einen Punkt
  • indriya: Sinne
  • jaya: Sieg
  • ātmaa: das Selbst, der immanente Wesenskern
  • darsana: Akt des Sehens, Ansicht
  • yogyatvāni: Fähigkeit
  • ca: und

Indem man innerlich wie äußerlich rein ist, fallen Trübungen von einem ab, was zu einem heitereren Gemüt führt. Zudem fallen viele Ablenkungen weg, so dass die Konzentrationsfähigkeit zunimmt und sich die Sinne nach und nach von außen nach innen richten können, wodurch die Wahrnehmung des eigenen Selbst, des inneren Wesenskerns, dessen, was wirklich zählt und essenziell ist, möglich wird. 

Kapitel 2, Vers 42: Aus Zufriedenheit gewinnt man das größte Glück.

सन्तोषादनुत्तमसुखलाभः॥४२॥

Santoṣādanuttamasukhalābhaḥ||42||

  • samtosāt: Zufriedenheit Genügsamkeit, innere Ruhe, Heiterkeit
  • anuttama: unübertroffen
  • sukha: Glück, Angenehmes
  • lābhah: Erlangen

Was könnte ein größeres Glück sein, als nichts mehr zu wollen, nichts mehr zu begehren, nichts mehr nachrennen zu müssen, sondern in Zufriedenheit mit dem, was ist, leben zu können?

Kapitel 2, Vers 43: Durch Selbstdisziplin werden Unreinheiten beseitigt und man nähert sich der Vervollkommnung von Körper und Sinnen.

कायेन्द्रियसिद्धिरशुद्धिक्षयात्तपसः॥४३॥

Kāyendriyasiddhiraśuddhikṣayāttapasaḥ||43||

  • kāya: Körper
  • indriya: Sinne
  • siddhi: Erlangung, Meisterschaft, übersinnliche Fähigkeiten
  • asuddhi: Unreinheit
  • ksayat: Abnahme, Verminderung 
  • tapash: Strenge, Askese, Härte mit sich

Indem man sich in Selbstdisziplin übt, kann man nach und nach die Unreinheiten beseitigen, die Körper und Sinne beeinträchtigen. Dann nähert man sich der vollkommenen Wachheit, man dringt zur wirklichen Erkenntnis vor. 

2.44 Durch Selbststudium gelangt man zu einer Vereinigung mit der selbstgewählten Gottheit.

स्वाध्यायादिष्टदेवतासम्प्रयोगः॥४४॥

Svādhyāyādiṣṭadevatāsamprayogaḥ||44||

  • svādhyāyat: Selbsterforschung
  • ista: favorisiert, gewünscht
  • devatā: Gottheit
  • samprayoga: Verbindung, Vereinigung

In Indien ist es üblich, sich einem Gott zu verschreiben. Man wählt für sich aus den vielen einen persönlichen Gott (zum Beispiel Ganesha), weil seine Fähigkeiten und das, wofür er steht, den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Werten entspricht. Diesem Gott ist man in der Folge (meist auf Lebenszeit) zugetan, ihn ruft man an, ihm widmet man die Mantras und anderen Gaben. 

Kapitel 2, Vers 45: Durch Hingabe an Gott erlangt man die vollkommene Versenkung.

समाधिसिद्धिरीश्वरप्रणिधानात्॥४५॥

Samādhisiddhirīśvarapraṇidhānāt||45||

  • samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
  • siddhir: Vollkommeneit, Erlangung, wunderbare Kräfte, übersinnliche Fähigkeiten
  • isvarapranidhānat: totale Hingabe an Gott

Wenn man Gott, das göttliche Prinzip als Höchstes und auch als unsere ureigene Quelle betrachtet, ist das höchste Ziel, sich damit zu verbinden. Indem wir uns vollkommen hingeben, gelangen wir am schnellsten zur wahren Erkenntnis, weil wir uns durch diese Hingabe von allem Hinderlichen wie Emotionen, Reizen, Anhaftungen an die falschen Dinge lösen.

Kapitel 2, Vers 46: Die Körperstellung soll stabil und angenehm sein.

स्थिरसुखमासनम्॥४६॥

Sthirasukhamāsanam||46||

  • sthira: stabil, fest
  • sukham: angenehm
  • āsanam: Sitz, Sitzhaltung, Körperstellung

Da nicht allen die Hingabe zu Gott möglich ist, geht Patanjali nun auf die anderen Wege ein. Zuerst kommen die Asanas, die Körperhaltungen (damals nur in Form des Meditationssitzes gedacht) an die Reihe. Eine Körperhaltung ist dann richtig ausgeführt, wenn sie zugleich stabil und auch angenehm ist. Das deutet auf ein Gleichgewicht von Anspannung und Entspannung hin. 

Kapitel 2, Vers 47: Die Körperstellung ist dann vollendet, wenn man sie mühelos einnehmen und dabei in einer grenzenlosen Konzentration auf das Eine verweilen kann.

प्रयत्नशैथिल्यानन्तसमापत्तिभ्याम्॥४७॥

Prayatnaśaithilyānantasamāpattibhyām||47||

  • prayatna: großer Einsatz, Bestrebung, Bemühung
  • saithilya: Entspannung, Lockerheit
  • ananta: endlos, unendlich, grenzenlos
  • samāpattibhyam: Einswerdung mit dem Gegenstand der Kontemplation

Durch kontinuierliches Üben kommt man dahin, dass die Körperstellung einerseits kraftvoll, dabei aber doch unverkrampft eingenommen und gehalten werden kann. Dadurch befreit sich der Geist und taucht in die Meditation ein, weil er vom Körper nicht behindert wird dabei. 

Kapitel 2, Vers 48: Dadurch entsteht eine Unempfindlichkeit gegenüber den äußeren Einflüssen (Dualitäten).

ततो द्वन्द्वानभिघातः॥४८॥

Tato dvandvānabhighātaḥ||48||

  • tato: dadurch, dann
  • dvamdva: Paar, Dualität
  • an: Verneinung
  • abighāta: Beschädigung, Störung

Am Anfang unseres Übens passiert es schnell, dass wir von äußeren Einflüssen abgelenkt sind. Unsere Sinne registrieren etwas, unsere Gedanken gehen mit und unser Bewusstsein ist nicht mehr bei uns und unserem Tun und Sein, sondern beim wahrgenommenen Sinnesreiz (und fließt von da oft weiter). Körperlich merken wir das am besten in Balancestellungen, weil wir dort in diesem Moment oft das Gleichgewicht verlieren. 

Die kontinuierliche Praxis hilft dabei, die äußeren Einflüsse immer mehr zurücktreten zu lassen, so dass sie uns nicht mehr so stark beeinflussen. Wir kommen dadurch sprichwörtlich mehr und mehr ins Gleichgewicht, in unsere innere Ruhe. 

Kapitel 2, Vers 49: Wenn das erreicht ist, folgt Pranayama (die Atemlenkung), die Kontrolle der Ein- und Ausatmung.

तस्मिन्सति श्वासप्रश्वासयोर्गतिविच्छेदः प्राणायामः॥४९॥

Tasminsati śvāsapraśvāsayorgativicchedaḥ prāṇāyāmaḥ||49||

  • tasmin: das, dieses
  • sati: gut seiend, erreicht
  • svāsa: Einatmung
  • prasvāyoh: Ausatmung 
  • gati: Bewegung
  • vicchedah: Aufhebung, Anhalten, Kontrolle
  • prānāyāmah: Atemlenkung, Kontrolle des Atems

Nun, da die Asana-Praxis erfolgreich eingeübt ist, kommt die nächste Stufe: Pranayama, die Atemlenkung. Durch die bewusste Steuerung der Ein- und Ausatmung können wir die unbewussten Atemmuster durchbrechen und durch eine uns je nach Situation förderliche Atmung ersetzen.

Kapitel 2, Vers 50: Die Atemregelung besteht aus den Funktionen des Ausatmens, Einatmens und Anhaltens, sie ist lang oder kurz und vom Ort, der Dauer und und der Anzahl (Atemzüge) abhängig.

वाह्याभ्यन्तरस्तम्भवृत्तिः देशकालसङ्ख्याभिः परिदृष्टो दीर्घसूक्ष्मः॥५०॥

Vāhyābhyantarastambhavṛttirdeśakālasaṅkhyābhiḥ paridṛṣṭo dīrghasūkṣmaḥ||50||

  • bāhya: ausserhalb, hier: Ausatmung
  • abhyantara: innerhalb, hier: Einatmung
  • vrttir: Bewegung, Funktion
  • desa: Ort
  • kāla: Zeit, Dauer
  • samkhyābhih: Zahl
  • paridrstah: gemessen, geprüft, kontrolliert, geregelt
  • dīrgha: lang
  • sūksma: subtil, kurz

Die einzelnen Atemübungen nutzen die verschiedenen Atemfunktionen (Einatmen, Ausatmen und Anhalten des Atems) sowie die gewählte Dauer derselben (kurz oder lang) und den Ort, an welchen die Atmung gelenkt wird. Je nachdem können solche Atemübungen unterschiedliche Wirkungen haben, die von der Beruhigung von Körper und Geist über die Regulierung von Emotionen bis hin zur Energiegewinnung reichen können.

Kapitel 2, Vers 51: Die vierte Form der Atemregelung geht über die Aus- und Einatmung hinaus.

वाह्याभ्यन्तरविषयाक्षेपी चतुर्थः॥५१॥

Vāhyābhyantaraviṣayākṣepī caturthaḥ||51||

  • bāhya: ausserhalb, hier: Ausatmung
  • abhyantara: innerhalb, hier: Einatmung
  • visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
  • āksepi: übertreffen, hinausgehen über
  • caturthah: der, das Vierte

Bei diesem Sutra scheiden sich die Geister (noch mehr als bei vielen anderen schon). Was dieser vierte Zustand wirklich sein soll, ist uneindeutig. Die Kommentare reichen von einem unbewussten, spontanen Anhalten des Atems über einen mit dem Atem verbundenen zweiten Akt wie zum Beispiel das Singen eines Mantras bis hin zur Erreichung von Samadhi (wobei nicht klar ist, was der Atem dann macht, nur dass der Schleier des Nichtwissens sich lüftet). 

Im Kontext des Ganzen plädiere ich für die Sichtweise, dass die bewusst kontrollierten Atemkontrollen so lange zu üben sind, bis sie selbst überschritten werden durch etwas über ihnen Stehendes. Was dieses sei, ist mit Worten nicht fassbar, nur erlebbar, es ist wohl wie bei vielem der berühmte letzte Funke, der hinzukommen muss, damit etwas Außergewöhnliches entsteht. Dies aber entzieht sich der Ratio, es ist reines Erleben. 

Kapitel 2, Vers 52: Dadurch lüftet sich der Schleier vom inneren Licht.

ततः क्षीयते प्रकाशावरणम्॥५२॥

Tataḥ kṣīyate prakāśāvaraṇam||52||

  • tatah: dadurch, durch dieses
  • ksīate: wird zerstört, wird vernichtet
  • prakāsa: Licht, Erleuchtung
  • āvarana: Schleier

Wer die Pranayama-Übungen gemeistert hat, der wird von Klarheit erfüllt. Der Schleier über dem Nichtwissen lüftet sich und das innere Licht, welches Quelle der Weisheit und mit dem höheren Selbst verbunden ist, strahlt. 

Dieses Sutra deckt sich auch mit der hier vertretenen Auffassung von 2.51.

Kapitel 2, Vers 53: Und der Geist wird zur Konzentration befähigt.

धारणासु च योग्यता मनसः॥५३॥

Dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ||53||

  • dhāranāsu: für die Konzentration, zur Konzentration
  • ca: und
  • yogyatā: Fähigkeit, Befähigung
  • manasah: Geist, geistiges Vermögen

Dieses Sutra folgt dem Gedanken, dass ein unruhiger Atem auch einen unruhigen Geist zur Folge hat, und die Beruhigung des Atems den Geist beruhigt. Im Zustand der Ruhe wird er fähig zur Konzentration. Es ist eine Wiederholung und dient als solche der besseren Einprägung. Hier sei nochmals daran erinnert, dass all diese Sutren mündlich vermittelt und besprochen wurden. Wiederholungen können in einem solchen Fall durchaus wichtig sein. Zudem zeigen sie die Relevanz eines Gedankens. 

Kapitel 2, Vers 54: Pratyahara bedeutet, die Sinne von den äußeren Objekten zurückzuziehen und sie auf das innere Bewusstsein zu richten.

स्वविषयासम्प्रयोगे चित्तस्य स्वरूपानुकार इवेन्द्रियाणां प्रत्याहारः॥५४॥

Svaviṣayāsamprayoge cittasya svarūpānukāra ivendriyāṇāṁ pratyāhāraḥ||54||

  • svavisaya: eigenes Objekt
  • asamprayoge: berührung, Vereinigung
  • cittasya: Geist, „Mind“, innerer Wahrnehmungsraum
  • svarūpa: eigene Form, Identität
  • anukārah: Angleichung, Nachahmung
  • iva: gleichsam, als ob
  • indriyānām: Sinne
  • pratyāhārah: Zurückziehen der Sinne, nach innen Nehmen der Sinne

Solange die Sinne nach außen gerichtet sind, folgt ihnen der Geist und springt von einem Punkt zum anderen. Vor allem in der heutigen Zeit der Informationsüberflutung ist dies eine große Gefahr. Indem wir die Sinne von den äußeren Objekten abziehen, können wir sie nach innen richten und werden uns und unseres Bewusstseins mehr und mehr gewahr.

Kapitel 2, Vers 55: Dadurch entsteht eine vollkommene Beherrschung der Sinne.

ततः परमा वश्यतेन्द्रियाणाम्॥५५॥
Tataḥ paramā vaśyatendriyāṇām||55||

  • tatah: dadurch
  • parama: höchste, vollkommen
  • vasyatā: Kontrolle, Beherrschung
  • indriyānām: Sinn

Nach außen gerichtet sind die Sinne oft Sklaven der auf sie einströmenden Reize. Wenn wir sie davon abziehen und nach innen richten können, stehen sie in unserem Dienst – und nicht umgekehrt. 


Quellen:

  • T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali.
  • Ralph Skuban: Patanjalis Yogasutra.
  • B.K.S. Iyengar: Der Urquell des Yoga. Die Yoga-Sutras des Patanjali.
  • R. Sriram: Patanjali. Das Yogasutra.
  • Jaganath Carrera: Inside the Yoga Sutras.
  • Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patanjali.
  • P.Y. Despande (Hrsg.), Bettina Bäumer (Übersetzung): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga.
  • Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Weisheit leben.
  • Eckard Wolz-Gottwald: Die Yoga-Sutras im Alltag leben.
  • Anna Trökes: Die kleine Yoga-Philosophie.
Sandra von Siebenthal
Sandra von Siebenthal

Sandra von Siebenthal ist Autorin und Philosophin. Meist steckt sie ihre Nase in Bücher, über die sie dann schreibt, oder sie denkt sich selbst Geschichten aus. Den Kopf lüftet sie beim Kritzeln von witzigen Hühnerskizzen.