
Yogasutra von Patanjali: Kapitel 1
Das Yogasutra von Patanjali: 195 Verse in vier Kapiteln
In vielen Yogaausbildungen spielt das Yogasutra des Gelehrten Patanjali eine tragende Rolle. Aus gutem Grund: Das in vier Kapitel aufgeteilte Werk, das etwa 400 bis 200 vor Christus geschrieben wurde, fasst die Essenz des Raja Yoga (der klassische Yogaweg, der die Beherrschung des Geists als Fokus hat) in 195 knappen Versen auf erstaunlich universelle, zeitlose und klare Art zusammen.
In diesem Artikel lernst du die 51 Verse des ersten Kapitels kennen. Sandra von Siebenthal war fleißig und hat die in Sankrit verfassten Verse für dich übersetzt und interpretiert. Das zweite, dritte und vierte Kapitel findest du ebenfalls in unserem Yoga-Magazin.
Lese-Tipp: Wenn du mehr zu Patanjali und der Yogasutra wissen willst, empfehlen wir dir unseren Artikel „Freisein mit Patanjali – die Yogasutra” oder unseren YogaEasy-Academy-Kurs mit Gabriela Bozic:
Anmerkung zur Übersetzung:
Sanskrit ist eine komplexe Sprache, in unserem Sprachraum mit Latein vergleichbar. Einzelne Wörter lassen sich schwer eindeutig übersetzen, da sie verschiedene Bedeutungsräume haben, die sich erst durch den entsprechenden Kontext eröffnen. Die vorliegende Übersetzung versucht, dem gerecht zu werden. Es wurde auf eine wortwörtliche Übersetzung verzichtet, wo dies dem Verständnis abträglich gewesen wäre. Stattdessen wurden die einzelnen Sutras sinngemäß aus dem Kontext des ganzen Textes und des diesem zugrunde liegenden Verständnis von Yoga, wie es in der vorliegenden Interpretation vertreten wird, formuliert.
1. Kapitel: Samadhi Pada – Theorie des Geistes
Das erste Kapitel widmet sich den Aspekten des Geistes. Patanjali beschreibt die Stufen des Bewusstseins und die Ebenen des „Überbewusstseins”, Samadhi – ein anderes Wort für den Zustand des Yoga, der als reines Bewusstsein bezeichnet werden kann. In Samadhi ist der Geist ganz erwacht und sich seines Wesenkerns bewusst. Trennungen heben sich auf und Ruhe kehrt ein. Der Geist ist nicht mehr getrieben von Impulsen und Reizen, er steht Erfahrungen wie Freude, Schmerz, Begeisterung oder Ablehnung mit Gleichmut gegenüber.
Im Zuge dessen definiert Patanjali nicht nur, was Yoga ist, sondern beschäftigt sich auch mit der Natur unserer Gedanken und damit, wie wir sie beherrschen können bzw. welche Hindernisse uns dabei im Weg sind und wie wir diese überwinden.
Und nun geht es zur Sache...
Kapitel 1, Vers 1: Nun folgt die Einführung in den Yoga.
अथ योगानुशासनम्॥१॥
atha yogānuśāsanam||1|
- atha: jetzt, nun
- anusasana: häufig als „Erklärung”, „Auslegung” interpretiert, aber auch: das, was aus Erfahrung entsteht
Atha zeugt von einem Anfang, einem Neuanfang nach dem, was vorher war. Jetzt beginnt die Zeit des Yoga. Was Yoga ist, wird in den folgenden Sutras weiter beschrieben. Nimmt man diese Definition, die sich über die einzelnen Perlen auf dem Faden der Sutrakette ergibt, vorweg, steckt in diesem ersten Satz alles, was noch folgt. Er stellt quasi die Quintessenz dar: Yoga als ein bei sich Sein, in sich Ruhen mit stillem Geist. Yoga bietet so eine Zuflucht von der äußeren Welt mit all ihrem Lärm, ihrer Getriebenheit, ihrer Hektik, indem er einen inneren Raum entstehen lässt, der Geborgenheit und Ruhe gewährt.
Denken wir an die Tradition des Yoga, dass ein Lehrer die Lehren an seine Schüler weitergab und sie nicht einfach irgendwo nachgelesen werden konnten, so stünde der Lehrer nun vorne und riefe seine Schüler zur Aufmerksamkeit auf: Jetzt! Das entspricht auch dem Prinzip des Yoga – nicht im Vergangenen, nicht im Zukünftigen, sondern im Gegenwärtigen findet alles statt. Jetzt soll der Schüler genau hinhören und seine möglichen Zweifel und Missverständnisse werden gelöst.
Kapitel 1, Vers 2: Yoga ist der Zustand, in dem die geistigen Tätigkeiten zur Ruhe kommen.
योगश्चित्तवृत्तिनिरोधः॥२॥
yogaścittavṛttinirodhaḥ||2||
- citta: Geist, „Mind”, Verstand, das meinende Selbst, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
- vṛtti: Gedanken, das, wodurch der Geist/das meinende Selbst sich ausdrückt, Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
- nirodhaḥ: zur Ruhe kommen, beenden, kontrolliert bzw. beherrscht werden – auch einer der fünf Zustände des Geists, und zwar der höchste und am schwierigsten zu erreichende
Wenn wir uns hinsetzen, um zu meditieren, fällt uns meist auf, was wir den ganzen Tag erfolgreich ignorieren: In unserem Kopf tanzen die Gedanken wild, einer folgt dem anderen, sie schwirren durcheinander. Im Buddhismus wird dieses Phänomen gerne als „monkey mind” (Affengeist) bezeichnet. In diesem Bild sind die Gedanken wie Affen, die von Ast zu Ast rasen. Meist sind wir uns all dessen, was in unserem Hirn passiert, nicht bewusst. Manchmal erhalten wir eine Ahnung davon, wenn wir uns ausgelaugt fühlen, nicht mehr denken mögen, Dinge vergessen, weil wir „mit den Gedanken woanders“ sind. Das Bewusstsein dieses geistigen Unruhezustandes ist wertvoll. Ihn mit Gewalt bekämpfen zu wollen, wäre kontraproduktiv. Da kommt Yoga ins Spiel: Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der geistigen Achterbahn.
Die meisten Gedanken sind solche, die das Ich an der eigenen Vorstellung von diesem Ich festmachen. Sie erzählen Geschichten davon, was ich mag und was ich meiden will, was mein Körper können sollte, und was er nicht kann. Wenn ich diese Geschichte als solche erkenne, wenn ich sehe, was in meinem Körper, meinen Gefühlen, meinem Geist vorgeht, kann ich sie loslassen und zum wahren Beobachter dessen werden, was wirklich ist. Dieser Zustand ist nirodha.
Dieses Sutra ist sowohl als Definition, Ziel und Methode zu verstehen. Durch Yoga kommen wir in diesen Ruhezustand, da die Praxis darauf ausgerichtet ist, diesen zu erreichen. Yoga ist aber auch der Zustand, den wir durch das Praktizieren erreichen.
Kapitel 1, Vers 3: Dann ruht der Sehende in der seiner Natur entsprechenden Form.
तदा द्रष्टुः स्वरूपेऽवस्थानम्॥३॥
tadā draṣṭuḥ svarūpe’vasthānam||3||
- tada: dann, in diesem Zustand
- drasta: das sehende Selbst, das wahre Selbst – entspricht dem Begriff des „Purusha” = Seele/Bewusstsein/Urwesen aus der Sankhya-Philosophie, entspricht auch dem, was im Rahmen von Meditation innerer Zeuge, innerer Beobachter genannt wird
- svarupe: in der eigenen Form
- avasthana: das Verweilen, das Auftreten
Wenn die Gedankenströme zur Ruhe kommen, erkennen wir unsere wahre Natur. Dann lichtet sich der Schleier, der sonst in Form all dieser Bewegungen in unserem Hirn auf unserem inneren Sein liegt. Man kann sich das wie einen Bergsee vorstellen, in den Steine geworfen werden. Alles ist verzerrt, wir sehen alles Mögliche, nur nicht uns selbst. Erst, wenn die Oberfläche zur Ruhe kommt, der aufgewirbelte Sand sich setzt, können wir uns im Spiegel der nun ruhigen Wasseroberfläche erkennen.
Kapitel 1, Vers 4: In allen anderen Zuständen besteht eine Identifizierung mit den seelisch-geistigen Vorgängen.
वृत्तिसारूप्यमितरत्र॥४॥
Vṛttisārūpyamitaratra||4||
vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
sārūpya: gleiche Form, ähnliche Form
itaratra: ansonsten
Im normalen Alltag ist unser Bewusstsein mehrheitlich getrübt durch einströmende Reize, denen wir in Gedanken nachhängen, durch Prägungen aus unserem Umfeld und unserer Vergangenheit, durch die nie endenden Gedankenströme, derer wir uns oft nicht bewusst sind. Durch dieses innere Durcheinander ist der Blick auf unser wahres Selbst, auf das, was uns ausmacht, versperrt. Wir identifizieren uns mit dem aktuell vorherrschenden Gedankenstrom und dem, was daraus hervorgeht – ohne zu merken, dass unter all dem ein Wesenskern steckt, der uns wirklich ausmacht, der von äußeren Einflüssen nicht tangiert wird, der einfach ist, wie er ist und uns so in unserem Sein ausmacht.
Kapitel 1, Vers 5: Die Bewegungen des Geistes sind fünffacher Art, wobei alle sowohl leidvoll als auch nicht leidvoll sein können.
वृत्तयः पञ्चतय्यः क्लिष्टा अक्लिष्टाः॥५॥
Vṛttayaḥ pañcatayyaḥ kliṣṭā akliṣṭāḥ||5||
vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
pañcataya: fünf Arten, fünferlei
klista: leidvoll, beschwerlich
aklista: nicht beschwerlich, nicht leidvoll
Patanjali nennt fünf Arten von Bewegungen des Geistes, die für sich genommen alle leidvoll oder auch nicht leidvoll sein können. Es sind nicht die Bewegungen an sich, die eine Qualität besitzen für uns, sondern das, was wir mit diesen machen oder aus diesen ziehen. Nicht die Bewegung an sich ist leidvoll, sondern die Wirkung, die sie auf uns hat, der Schluss, den wir aus ihr ziehen.
Das erinnert an Epiktet und seinen Spruch, dass nicht die Situationen an sich leidvoll sind, sondern die Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben.
Kapitel 1, Vers 6: (Die fünf Arten der Geistesbewegungen sind) richtige Wahrnehmung, Interpretation, Imagination, Tiefschlaf und Erinnerung.
प्रमाणविपर्ययविकल्पनिद्रास्मृतयः॥६॥
Pramāṇaviparyayavikalpanidrāsmṛtayaḥ||6||
pramāna: Richtige Wahrnehmung, Erkennen
viparyaya: falsche Wahrnehmung, Verblendung, Interpretation
vikalpa: Vorstellung, Imagination, Fantasie
nidrā: Tiefschlaf, Dumpfheit
smrti: Erinnerung, erinnertes Wissen
Patanjali zählt die fünf Geistesbewegungen auf:
- richtige Wahrnehmung
- Interpretation
- Imagination
- Tiefschlaf
- Erinnerung
All diese Geistesbewegungen wirken sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln aus. Je nachdem, wie diese im Leben Wirkung zeigen, sorgen sie für mehr Leid, oder eben nicht. Oft können wir nicht steuern, was auf unseren Geist trifft. Was wir aber steuern können, ist, wie wir darauf reagieren. Aus dieser Wahl heraus entscheidet sich, ob wir leiden oder nicht.
Es ist also an uns, was wir zulassen und was nicht. Wir müssen unterscheiden lernen, was in unserer Macht liegt und was nicht. Sich über Dinge aufzuregen, die nicht in unserer Macht stehen, ist unsinnig, denn wir können sie nicht ändern. Was wir ändern können, ist unsere Haltung dazu. Sie allein entscheidet darüber, ob wir leiden oder nicht.
So einfach das klingt, so schwierig umzusetzen ist es. Dass sich diese Lehre durch viele Philosophien durchzieht – sie ist wie erwähnt bei Epiktet (im „Handbüchlein der Moral”), aber auch bei den Stoikern und Marc Aurel zu finden – deutet auf eine Art universales Wissen hin.
Kapitel 1, Vers 7: Gültiges Wissen erlangt man durch direkte Wahrnehmung, durch intellektuelle Schlussfolgerung, durch die Überlieferung alter Meister oder glaubwürdiger Quellen.
प्रत्यक्षानुमानागमाः प्रमाणानि॥७॥
Pratyakṣānumānāgamāḥ pramāṇāni||7||
Pratyaksa: unmittelbar sehen, direkt wahrnehmen, mit den eigenen Augen sehen
Anumāna: Schlussfolgerung, über den Intellekt erkennen
Āgama: althergebrachte Wahrheit, überlieferte Wahrheit, von alten Meistern oder
glaubwürdigen Quellen Gelerntes
Pramāna: Richtige Wahrnehmung, Erkennen
Es gibt nur drei Arten, gültiges Wissen zu erlangen: Die direkte Wahrnehmung, die intellektuelle Schlussfolgerung oder die Überlieferung desselben durch alte Meister oder glaubwürdige (schriftliche) Quellen. Alles andere sind bloß Meinungen, die es kritisch zu betrachten gilt.
Kapitel 1, Vers 8: Wenn die Dinge nicht so wahrgenommen werden, wie sie wirklich sind, führt das zu falschem Wissen, zu Verblendung.
विपर्ययो मिथ्याज्ञानमतद्रूपप्रतिष्ठम्॥८॥
Viparyayo mithyājñānamatadrūpapratiṣṭham||8||
viparyaya: falsche Wahrnehmung, Verblendung, Interpretation
mithyā: falsch, anders, als es ist
jñāna: Kenntnis, Wissen
a tad: nicht die
rūpa: Form, gleiche Form
pratistha: verwurzelt
Wie oft sehen wir jemanden und haben sofort ein fertiges Bild. Wir be- und verurteilen Menschen oft nach ihrem Äußeren, statt sie auf allen Ebenen unvoreingenommen wahrzunehmen und kennenzulernen. Auch in Situationen verfahren wir nach diesem Muster: Etwas passiert und wir reagieren aus Affekt, aus Reflex, ohne genauer darüber nachzudenken. Diese Reaktionsmuster stammen aus der Vergangenheit, aus gemachten Erfahrungen und hinterbliebenen Prägungen. Selten entsprechen sie der aktuellen Situation, sie werden dieser quasi übergestülpt und führen zu oft in eine Richtung, die wir bei näherem Hinsehen nie eingeschlagen hätten.
Ziel der Yoga-Praxis ist es, das Bewusstsein für den aktuellen Moment zu schärfen, um diesem adäquat zu begegnen – das wahrzunehmen, was da ist.
Kapitel 1, Vers 9: Vorstellungen basieren nur auf Worten oder Bildern, nicht auf dem Kontakt mit den wirklichen Dingen.
शब्दज्ञानानुपाती वस्तुशून्यो विकल्पः॥९॥
Śabdajñānānupātī vastuśūnyo vikalpaḥ||9||
sabda: Wort
jñāna: Wissen
anupātin: folgend, sich ergebend
vastu: Wirklichkeit, Objekt
sūnya: ohne, abwesend
vikalpa: Vorstellung, Imagination, Fantasie
Oft hören oder lesen wir etwas und nehmen das als bare Münze. Eine große Gefahr stellen speziell die sozialen Medien dar, die uns eine solche Unmenge an Informationen liefern, dass es kaum möglich ist, die Richtigkeit einer jeden nachzuprüfen. Gefährlich wird es, wenn wir Dinge ungeprüft glauben – und noch schlimmer, wenn wir sie weitertragen. Darum frage dich bei allem, was du hörst, liest oder was dir sonst zugetragen wird: Ist das wirklich wahr? Kann ich sicher sein, dass es wahr ist?
Kapitel 1, Vers 10: Im Tiefschlaf wird der Geist träge, da keine äußeren Einflüsse mehr zur Wahrnehmung durchdringen.
अभावप्रत्ययालम्बना वृत्तिर्निद्रा॥१०॥
Abhāvapratyayālambanā vṛttirnidrā||10||
abhāva: Abwesenheit, Nichtvorhandensein
pratyaya: Eindrücke, Wahrnehmung, Vorstellungen
alambana: sich stützend auf, basierend auf
vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
nidrā: Tiefschlaf, Dumpfheit
Im Tiefschlaf kommen unser Denken und Fühlen zum Stillstand, der Geist wird nicht mehr von äußeren Einflüssen bewegt. Es gibt in diesem Zustand kein Erkennen, die Sinne der Wahrnehmung sind untätig, es entsteht eine Leere. Dieser Zustand ist wichtig und gut, wenn es darum geht, auszuruhen, zu neuen Kräften zu kommen. Wir sollten ihn aber nicht mit der geistigen Ruhe verwechseln, die eintritt, wenn die Geistesbewegungen im wachen Zustand zur Ruhe kommen, denn dann ist der Geist wach und lebendig, während er im Tiefschlaf träge und dumpf ist. Viele von uns gehen auch im Wachzustand mit dieser Art Geist durchs Leben.
Kapitel 1, Vers 11: Erinnerung ist eine erfahrene Situation, die nicht ganz verblasst ist.
अनुभूतविषयासम्प्रमोषः स्मृतिः॥११॥
Anubhūtaviṣayāsampramoṣaḥ smṛtiḥ||11||
anubhūta: erfahren, wahrgenommen
visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
asampramosa: das nicht völlig verblasste
smrti: Erinnerung, erinnertes Wissen
Bewusste Erfahrungen hinterlassen Rückstände in unserem Geist, die gespeichert werden im Gedächtnis. Das Gedächtnis ist also ein Sammelbecken für Eindrücke und Geistbewegungen aus der Vergangenheit, auf das wir in der Gegenwart zugreifen – auch unbewusst. Wichtig ist dabei, sich bewusst zu sein, dass die Erinnerungen täuschen können. Der heutige Zustand ist ein anderer als der, in welchem die ursprüngliche Erfahrung gemacht wurde. Insofern ist unsere Wahrnehmung dessen, was im Gedächtnis zurückgeblieben ist, eine andere als die, welche im ursprünglichen Erfahrungszeitraum vorherrschte.
Deshalb gilt es Erinnerungen immer zu prüfen und sie nicht als absolute Wahrheit, sondern nur als heutige Interpretation einer vergangenen Erfahrung zu sehen. Da Erinnerungen unser Denken, Fühlen und Handeln in der Gegenwart (auch unbewusst) beeinflussen, ist es äußerst wertvoll, unsere Reaktion auf aktuelle Situationen gut zu prüfen, ob diese nicht aus vergangenen Zuständen gespeist und in der Folge der heutigen Situation nicht angemessen ist.
Kapitel 1, Vers 12: Das Zur-Ruhe-Kommen der seelisch-geistigen Vorgänge erlangt man durch „Übung” (abhyāsa) und „Loslösung” (vairāgya).
अभ्यासवैराग्याभ्यां तन्निरोधः॥१२॥
Abhyāsavairāgyābhyāṁ tannirodhaḥ||12||
abhyāsa: Übung, unablässiges Bemühen, an einem Thema dranbleiben
vairāgya: Gelassenheit, Loslassen, nicht anhaften
tat: das, dieser, dessen
nirodha: Zur-Ruhe-Kommen, Beruhigung, Kontrolle
Wer denkt, er könne sich einmal hinsetzen, meditieren und hätte dann geistige Ruhe erlangt, denkt zu kurz. Um diesen Zustand, der das Ziel des Yoga beschreibt, zu erlangen, bedarf es der kontinuierlichen Übung. Es bedeutet, immer und immer wieder in sich zu gehen, zu sehen, was da ist, zu sehen, was gut ist, zu sehen, was in Unruhe und Unordnung ist. Und es gilt, dies immer wieder mit den geeigneten Mitteln und Methoden (darauf kommt
Patanjali später noch zu sprechen) zu bearbeiten, zu beseitigen. Yoga ist, so gesehen, kein einmaliges Tun mit einem dabei zu erreichenden Ziel, es ist ein Weg, den man kontinuierlich geht, das Ziel vor Augen und diesem näher kommend.
Neben diesem Üben ist es genauso wichtig, die Dinge loszulassen, die diesem Ziel entgegen stehen. Es gilt, falsche Überzeugungen, Muster, Einstellungen und Gewohnheiten hinter sich zu lassen, um sich ganz auf den nun eingeschlagenen Weg konzentrieren zu können.
Kapitel 1, Vers 13: Beharrliches Üben bedeutet, standhaft bei einem gewählten Thema zu bleiben.
तत्र स्थितौ यत्नोऽभ्यासः॥१३॥
Tatra sthitau yatno’bhyāsaḥ||13||
tat: das, dieser, dessen
sthiti: verweilen, standhaft bleiben
yatna: Bemühung, Hinwendung, Übung
abhyāsa: Übung, unablässiges Bemühen, an einem Thema dranbleiben
Nur wenn wir über längere Zeit bei einem Thema bleiben, können wir auch wirklich Fortschritte machen. Wie oft fängt man etwas an, erzielt nicht gleich die gewünschten Erfolge und geht zum nächsten über? Oder man kann sich nicht für etwas entscheiden, probiert dies und jenes, ohne irgendwo in die Tiefe zu gehen? So wird man nie wirklich Erfolg im eigenen Tun haben, der stellt sich nur durch beharrliches Üben ein, indem man auch dann bei einer Sache bleibt, wenn es schwieriger wird.
Kapitel 1, Vers 14: Nur die Übung gewinnt an festem Boden, die über eine lange Zeit ununterbrochen, mit einer Haltung der Hingabe und des Respekts vollzogen wird.
स तु दीर्घकालनैरन्तर्यसत्कारासेवितो दृढभूमिः॥१४॥
Sa tu dīrghakālanairantaryasatkārāsevito dṛḍhabhūmiḥ||14||
sa: das, dieser, dessen
tu: wahrlich
dīrgha: lang
kāla: Zeit, Dauer
nairantarya: ohne Unterbrechung
satkāra: ernsthaft, mit Hingabe
ādara: respektvoll, rücksichtsvoll
āsevita: geübt
drdha: fest
bhūmi: Fundament, Boden
Das Üben, das Patanjali meint, ist kein schlichtes Abspulen eines Programms, sondern es braucht die nötige Hingabe, den Eifer, das Herz bei der Sache, damit es Früchte trägt. Wichtig bei dieser Art von Übung ist, die richtige Haltung dazu zu haben, es ernst zu nehmen, und vor allem: Es konsequent zu verfolgen über einen längeren Zeitraum hinweg, bevorzugt für den Rest des Lebens, denn – so werden wir noch sehen – einmal erreicht, bleibt der erwünschte Zustand nicht erhalten, sondern er bedarf des weiteren Übens, um bewahrt werden zu können.
Kapitel 1, Vers 15: Vairagya ist ein Bewusstseinszustand des Nichtanhaftens, in dem alles Begehren nach äußerer Erfüllung oder besonderen inneren Erfahrungen aufgehört hat.
दृष्टानुश्रविकविषयवितृष्णस्य वशीकारसञ्ज्ञा वैराग्यम्॥१५॥
Dṛṣṭānuśravikaviṣayavitṛṣṇasya vaśīkārasañjñā vairāgyam||15||
drsta: unmittelbare (Objekte)
anusravika: angenommen, (Objekte), von denen man hört (sie aber nicht selbst sieht)
visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
vitrsna: Durstlosigkeit
vasīkāra: das Gelenkte, das Geführte, unter Kontrolle stehende
samjñā: Wissen, Bewusstsein
vairāgya: Gleichmut, Gelassenheit
Wie oft gehen wir durchs Leben und denken, wir wären glücklich, wenn wir nur dies und jenes hätten – von der neuen Tasche über einen Urlaub, ein paar Kilos weniger oder den perfekten Mann zählen wir uns die Dinge auf, die unser Leben bereichern würden, da wir diese als glücksbringend definiert haben. Nur: Einerseits signalisiert das Streben nach diesen Dingen, dass der Zustand jetzt nicht gut ist, andererseits sind die Dinge beliebig ersetzbar und werden auch ersetzt. Sobald wir etwas erreicht haben, finden wir etwas Neues, das noch fehlt zum wirklichen Glück. Selbst der Glückszustand beim Erreichen des einen Ziels nimmt von Mal zu Mal an Intensität und Dauer ab. Irgendwann geht uns ein Licht auf: Wir sind gefangen in unserem Streben nach Dingen.
Hier greift Yoga, das ist gemeint mit vairagya: Wir merken, dass dieses Haften an Dingen, dieses Streben nach Dingen nicht glücklich macht. Wahre Erfüllung finden wir, wenn wir das loslassen.
Kapitel 1, Vers 16: Die höchste Form der Gleichmut ist dann erreicht, wenn keine Begierde mehr besteht nach den Grundeigenschaften Welt der Erscheinungen (prakrti), weil die umfassende Seele (purusa) erkannt ist.
तत्परं पुरुषख्यातेर्गुणवैतृष्ण्यम्॥१६॥
Tatparaṁ puruṣakhyāterguṇavaitṛṣṇyam||16||
tat: das, dieser, dessen
param: Höhepunkt, Überlegenes
purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
khyāti: Vorstellung, Anschauung, Schau
guna: Eigenschaft, Qualität
vaitrsnya: Durstlosigkeit
Wenn wir uns nicht mehr an äußeren Dingen orientieren, kehren wir zu dem zurück, was uns ausmacht, wir folgen unserer eigenen Natur, unserem Wesenskern.
Kapitel 1, Vers 17: Schrittweise gelangt man über oberflächliches Wissen, tiefer gehende Vernunft, Seligkeit, Ichbewusstsein hinaus zu vollkommenem Bewusstsein.
वितर्कविचारानन्दास्मितारूपानुगमात्सम्प्रज्ञातः॥१७॥
Vitarkavicārānandāsmitārūpānugamātsamprajñ ātaḥ||17||
vitarkā: grobstoffliches, oberflächliches Wissen
vicāra: tiefgreifendes, feinstoffliches Wissen
ānanda: Glückseligkeit, höchste Wonne, Seligkeit
asmitā: Ich-heit, Ichbewusstsein,
rūpa: Form, Erscheinung (dieses Gefühls)
anugama: aus diesen Schritten heraus, als Folge von
samprajñāta: Bewusstes, vollkommenes Wissen
Es gibt kaum eine Abkürzung, wenn man etwas erreichen will. Auch der Weg hin zu vollem Bewusstsein erfolgt schrittweise. Nimmt man die Dinge erst nur oberflächlich wahr, dringt man über die Zeit tiefer, erfasst sie mit der Vernunft. Aus einer Art Glückseligkeit kann man noch tiefer gehen, man nimmt sich und das gemeinte Selbst als solches wahr und überschreitet es. An dem Punkt ist man bei der vollkommenen Erkenntnis angelangt.
Was in Bezug auf das vollkommene Wissen gesagt ist, passt auch für das alltägliche Leben mit seinen Aufgaben: Statt sich den Kopf über mögliche Abkürzungen und schnellere Wege zu zerbrechen, ist es sinnvoller, sich der nötigen Schritte bewusst zu werden und sie zu gehen. Der Spruch von Konfuzius – „Der Weg ist das Ziel” – ist dabei hilfreich, denn es ist in der Tat so, dass wir das Ziel nie ganz in der Hand haben, nur den Weg dahin. Und den müssen wir gehen. So gegangen wird auch der Weg erfüllend sein.
Kapitel 1, Vers 18: Eine andere Art (von Versenkung) entsteht durch unablässige Übung, die zur Erfahrung des Stillstandes führt, bei welchem nur ein Rest der vergangenen psychischen Eindrücke zurückbleibt.
विरामप्रत्ययाभ्यासपूर्वः संस्कारशेषोऽन्यः॥१८॥
Virāmapratyayābhyāsapūrvaḥ saṁskāraśeṣo’nyaḥ||18||
virāma: ruhend, still geworden, beendet
pratyaya: Eindrücke, Wahrnehmung, Vorstellungen
abhyāsa: Übung, unablässiges Bemühen
pūrva: vorher, vorausgesetzt
samskāra: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
sesa: Ende, Reste
anya: der andere (Zustand des Yoga)
Es gibt den alten Spruch, dass viele Wege nach Rom führen. Genauso ist es mit dem Ziel des Yoga: Es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern viele verschiedene. Jeder Mensch ist anders und jeder muss für sich den für ihn passenden Weg finden. Patanjali spricht hier von einer anderen Weise, um zur Ruhe zu kommen, nämlich den der unablässigen Übung. Dabei tritt der Stillstand der Geistbewegungen allmählich ein, doch letzte Spuren der Vergangenheit bleiben als Eindrücke zurück. Im Moment des Stillstandes stören sie diesen aber nicht mehr.
Kapitel 1, Vers 19: Manche Menschen können von Geburt die Körperlichkeit überschreiten und den Zustand des Yoga erreichen.
भवप्रत्ययो विदेहप्रकृतिलयानाम्॥१९॥
Bhavapratyayo videhaprakṛtilayānām||19||
bhava: natürlich, angeboren
pratyaya: Überzeugung, Vorstellung, Gewissheit
videha: ohne Körper, körperlos, den Körper überschreitend
prakrti: Urnatur, Urmaterie
laya: Auflösung
Manche Menschen müssen keine Wege beschreiten, müssen nicht üben, um das Ziel zu erreichen, sie haben die durch Yoga angestrebten Fähigkeiten von Geburt an. Sie gehören allerdings der Minderheit an und dienen nicht als Vorbild, weil man von ihnen den Weg nicht lernen kann.
Kapiel 1, Vers 20: Bei den anderen braucht es Vertrauen in den Weg, Einsatz beim Üben, die klare Ausrichtung auf das angestrebte Ziel sowie die Vorahnung dessen, was sie erwartet, wenn sie diesen Zustand der Einheit zu erreichen.
श्रद्धावीर्यस्मृतिसमाधिप्रज्ञापूर्वक इतरेषाम्॥२०॥
Śraddhāvīryasmṛtisamādhiprajñāpūrvaka itareṣām||20||
sraddā: Vertrauen, innere Überzeugung, Glauben
vīrya: Energie, Kraft, Ausführung
smrti: Erinnerung, Gewahrsein (des Ziels)
samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung, vollkommene Erkenntnis
prajñā: Wissen, Ahnung, Vorgeschmack
pūrvaka: vorausgehend, begleitet von
itara: für andere (Menschen, die nicht zu denen von 1.19 gehören)
Um ans Ziel des Yoga zu gelangen, braucht es Zeit. Das Ziel ist nicht von heute auf morgen erreichbar. Das Ziel, den Geist in der nötigen Ruhe und Einsgerichtetheit zu halten, und sich so mit dem Ganzen des Lebens und der Welt zu verbinden, muss durch diese Zeit hindurch klar vor Augen stehen. Der Wunsch, es zu erreichen, muss tief im Herzen verankert sein und der Weg dahin mit Ausdauer, Vertrauen und Einsatz gegangen werden.
Was Patanjali hier für den Weg des Yoga beschreibt, lässt sich auf das Leben und seine Herausforderungen generell anwenden. Das macht die Yoga Sutras so aktuell, da in ihnen ein Verständnis des Lebens vorherrscht, das sich in der täglichen Praxis erproben lässt.
Kapitel 1, Vers 21: Je größer die Bemühungen sind, desto näher rückt das Ziel.
तीव्रसंवेगानामासन्नः॥२१॥
Tīvrasaṁvegānāmāsannaḥ||21||
tīvra: intensiv, scharf
samvega: Bemühung, Tatkraft
āsanna: große Nähe
Zwar lässt sich der Weg zum Ziel nicht abkürzen, aber er lässt sich teilweise beschleunigen: Je mehr Einsatz man leistet, desto schneller wird man das Ziel erreichen. Darin steckt der Hinweis auf die Selbstwirksamkeit jedes Menschen, aber auch auf die Eigenverantwortung. Wenn ich etwas wirklich will, liegt es an mir, ob ich mich genügend anstrenge, es zu erreichen. Tue ich das nicht, trage ich selbst die Konsequenzen.
Kapitel 1, Vers 22: Die Intensität der Bemühungen können mild, mittel oder groß sein.
मृदुमध्याधिमात्रत्वात्ततोऽपि विशेषः॥२२॥
Mṛdumadhyādhimātratvāttato'pi viśeṣaḥ||22||
mrdu: mild
madhya: mäßig, mittelmäßig
adhimātratva: große Intensität
tatah: außerdem, daraus
api: auch
visesa: Unterschied
Je nach Intensität der Bemühungen ergeben sich Unterschiede in der Erfahrung der Versenkung. Nicht jede:r hat dieselben Voraussetzungen und nicht jede:r hat denselben Ehrgeiz. Das kann sich auch im Laufe des Lebens verändern.
Kapitel 1, Vers 23: Oder die Hingabe an Gott bringt die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe.
ईश्वरप्रणिधानाद्वा॥२३॥
Īśvarapraṇidhānādvā||23||
īsvara: das Göttliche, Mächtige
pranidhāna: Hingabe
vā: oder
Für die, denen die anzustrebenden Fähigkeiten nicht angeboren sind (was die Mehrheit betrifft) gibt es verschiedene Mittel und Methoden, diese zu erreichen. Eine davon ist das Gebet zu Gott. Dieses bedingt den Glauben an Gott, das Vertrauen in dessen Gegenwart und Wirksamkeit.
Kapitel 1, Vers 24: Gott (isvara) ist eine höhere, umfassende Geistseele (purusa), die unberührt ist von leidvoller Spannung, (daraus geborener) Handlung, (aus der Handlung geborenem) Ergebnis und Prägungen (der Ergebnisse der Handlungen im Unterbewussten).
क्लेशकर्मविपाकाशयैरपरामृष्टः पुरुषविशेष ईश्वरः॥२४॥
Kleśakarmavipākāśayairaparāmṛṣṭaḥ puruṣaviśeṣa īśvaraḥ||24||
klesa: leidvolle Spannung, unheilvolle Leidenschaften
karma: Handlung, motivierte Handlung
vipāka: Frucht der Handlung, Ergebnis der Handlung
āsaya: Überbleibsel der Handlung, Rückstände der Handlung
aparamrsta: völlig unberührt
purusa: Geistseele, inneres Selbst, unveränderliches Innerliches
visesa: besonders, außergewöhnlich
īsvarah: das Göttliche, Mächtige
Es folgt nun eine Aufzählung all dessen, was Gott ist und was ihn ausmacht. Zuerst stellt ihn Patanjali als unberührbar dar. Nichts, was passiert oder auf ihn zukommt, kann ihn in irgendeiner Form berühren. Er ist ewig und beständig, durch nichts zu beeinflussen.
Kapitel 1, Vers 25: Gott (isvara) ist allwissend und der Keim allen Wissens.
तत्र निरतिशयं सर्वज्ञवीजम्॥२५॥
Tatra niratiśayaṁ sarvajñavījam||25||
tat: das, dieser, dessen
niratisaya: das höchste Maß erreichend, komplette Manifestation
sarva: alles
jña: wissend
bīja: Samen
Gottes Wissen geht über das Wissen des Menschen sowie dessen Fähigkeiten, zu wissen, hinaus. Alles, was der Mensch wissen kann, gründet im Wissen Gottes, kommt aus diesem heraus.
Kapitel 1, Vers 26: Er ist der Meister aller früheren (Meister), weil er nicht durch die Zeit begrenzt ist.
पूर्वेषामपि गुरुः कालेनानवच्छेदात्॥२६॥
Pūrveṣāmapi guruḥ kālenānavacchedāt||26||
sah: er (Isvara)
esah: das, dieser, dessen
pūrva: früher
api: sogar
guru: Lehrer, Meister
kāla: Zeit, Dauer
anavaccheda: unbedingt, unbegrenzt
Gott ist die Urquelle allen Wissens, er ist der erste Meister, der vor allen Meistern war und über allen kommenden Meistern steht. Er ist der Meister aller kommenden Meister. Alles, was sie lehren, gründet in ihm, geht auf ihn zurück.
Kapitel 1, Vers 27: Der Name/Klang, der ihn widerspiegelt, ist Om.
तस्य वाचकः प्रणवः॥२७॥
Tasya vācakaḥ praṇavaḥ||27||
tasya: sein, dessen
vācaka: Ausdruck
pranavah: die heilige Silbe OM
Verschiedene Religionen kennen unterschiedliche Namen und Bezeichnungen für Gott. Schlussendlich kommt es nicht darauf an, wie wir die Größe nennen, der wir die entsprechenden Fähigkeiten zuschreiben, sondern an diese Entität zu glauben und auf deren Fähigkeiten in diesem hier gemeinten göttlichen Sinne zu vertrauen. In der indischen Tradition ist es die Silbe Om, welche all seine Qualitäten, seinen allumfassenden Geist darstellt.
Kapitel 1, Vers 28: Das wiederholte, aufmerksame Murmeln dieses Om-Lautes (japa) führt zur inneren Vergegenwärtigung seines Sinnes.
तज्जपस्तदर्थभावनम्॥२८॥
Tajjapastadarthabhāvanam||28||
tat: das, dieser
japa: Gebet, (hörbar oder innerlich) gemurmelte Wiederholung des Namens eines Gottes, eines Mantras oder eben des OM
tat: das, dieser, dessen
artha: Sinn, Zweck
bhāvana: Vergegenwärtigung, intensive Imagination
Nachdem Patanjali erläutert hat, was Gott ist, fährt er nun damit fort, aufzuzählen, wie man sich ihm nähern kann, wie man sich auf ihn beziehen kann. Eine Form ist das wiederholte Murmeln des Lautes Om. Durch diese Wiederholungen prägt sich der Laut in uns ein und mit ihm auch das, wofür er steht. Gott (isvara, das göttliche Prinzip) wird so im Inneren gegenwärtig erfahrbar.
Kapitel 1, Vers 29: Dadurch wendet sich die Aufmerksamkeit nach innen und die Hindernisse auf dem Weg zu samadhi lösen sich auf.
ततः प्रत्यक्चेतनाधिगमोऽप्यन्तरायाभावश्च॥२९॥
Tataḥpratyakcetanādhigamo’pyantarāyābhāvaśca||29||
tatah: dann, von da aus
pratyak: innen, nach innen, abgewendet
cetana: Wahrnehmung
adhigama: Ergebnis, Gewinn, Erreichen
api: sogar
antarāya: Hindernisse
abhāvah: Abwesenheit, Nichtvorhandensein, Verschwinden
ca: und
Indem man dies (das wiederholte Murmeln des Lautes Om) längere Zeit praktiziert, wendet sich die Aufmerksamkeit mehr und mehr nach innen, man wird des eigenen Wesenskerns gewahr. Gleichzeitig lösen sich die Hindernisse auf dem Weg hin zum Ziel langsam auf, Samadhi, der Zustand der Einheit mit allem, stellt sich ein.
Kapitel 1, Vers 30: Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Nachlässigkeit, Faulheit, Gier, falsche Anschauung, fehlendes Fundament (des Yoga), fehlende Kontinuität – diese neun sind die Zerstreuungen des Geistes, die Hindernisse auf dem Yogaweg.
व्याधिस्त्यानसंशयप्रमादालस्याविरतिभ्रान्तिदर्शनालब्धभूमिकत्वानवस्थितत्वानिचित्तविक्षेपास्तेऽन्तरायाः॥३०॥ Vyādhistyānasaṁśayapramādālasyāviratibhrāntidarśanālabdhabhūmikatvānavasthitatvāni cittavikṣepāste’ntarāyāḥ||30||
vyādhi: Krankheit
styāna: Stumpfsinn, geistige Trägheit
samsaya: Zweifel
pramāda: Unbesonnenheit, Nachlässigkeit, Irrtum
ālasya: Trägheit, Faulheit, Erschöpfung
avirati: Unbeherrschtheit, Gier
bhrantidarsana: falsche Wahrnehmung, Irrtum
alabdhabhūmikatva: Nicht-Erreichen des festen Grundes, fehlendes Fundament
anavasthitatvāni: Unbeständigkeit, Nicht-Ausharren auf dem einmal erreichten Grund
citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
viksepāh: das Zerstreuen, Zerstreuung
te: diese
antarāyāh: Hindernisse
Patanjali nennt neun Hindernisse, die auf dem Weg zu Samadhi stören:
- Krankheit: Wer einmal krank war, weiß, wie sehr die Krankheit die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Mitunter identifizieren wir uns sogar mit der Krankheit, vergessen, dass uns mehr ausmacht als nur diese.
- Geistige Trägheit: Ein träger Geist ist verschleiert, er sieht nicht klar.
- Zweifel: Wo Zweifel ist, herrscht kein Vertrauen. Dieses wäre aber nötig auf dem Weg.
- Nachlässigkeit: Nur die klare Ausrichtung, das eifrige Bemühen führen zum Ziel. Nachlässigkeit steht dem im Weg.
- Faulheit, Erschöpfung: In diesem lähmenden Zustand ist kein voller Einsatz möglich.
- Gier: Wer immer mehr will, ist nie mit dem zufrieden, was er hat. Getrieben von äußeren Reizen vergessen wir, was wirklich zählt – das innere Wesen.
- Falsche Wahrnehmung: Wer nicht sieht, was wirklich ist, wird nie den richtigen Weg finden und gehen. Hier ist auch die fehlende Unterscheidungskraft zwischen dem, was Bestand hat, und dem Vergänglichen gemeint.
- Fehlendes Fundament: Man fasst keinen Fuß in der Praxis, sie wird nicht zur Basis des Weges.
- Fehlende Kontinuität: Wer nicht über eine lange Zeit übt, wird die Früchte des Tuns nie ernten.
Kapitel 1, Vers 31: Leid, Trübsal, Körperschwäche, unnatürliches Ein- und Ausatmen sind die Begleiterscheinungen eines (durch die neun Hindernisse) zerstreuten Geistes.
दुःखदौर्मनस्याङ्गमेजयत्वश्वासप्रश्वासाविक्षेपसहभुवः॥३१॥
Duḥkhadaurmanasyāṅgamejayatvaśvāsapraśvāsāvikṣepasahabhuvaḥ||31||
duhkha: Leid, Not
daurmanasya: Trübsal, Verzweiflung, Gemütsstörung
angamejayatva: Körperschwäche, Zittern des Körpers
svāsa: (gestörte, unnatürliche) Einatmung
prasvāsah: (gestörte, unnatürliche) Ausatmung
viksepa: (mentale) Zerstreuung
sahabhuva: gemeinsam erscheinend, Begleiterscheinung
Die neun Hindernisse, die Patanjali im letzten Sutra genannt hat, führen zu einem zerstreuten Geist, welcher weitere Auswirkungen hat: Leid, Trübsinn, Körperschwäche und eine unkontrollierte, unnatürliche Atmung sind die Folgen.
Kapitel 1, Vers 32: Durch beharrliches Meditieren über das zu erreichende Ziel können diese Hindernisse beseitigt werden.
तत्प्रतिषेधार्थमेकतत्त्वाभ्यासः॥३२॥
Tatpratiṣedhārthamekatattvābhyāsaḥ||32||
tat: das, dieser, dessen
pratisedha: Abwehr, Verhüten, Zurückhalten
artham: zum Zweck, als Ziel
eka: eine
tattva: Wahrheit, Realität, Essenz
abhyāsa: Übung, unablässiges Bemühen, an einem Thema dranbleiben
Ein Weg, diese Hindernisse zu beseitigen, ist die wiederholte Meditation auf das zu erreichende Ziel. Indem man beharrlich an dem dranbleibt, was man erreichen will, gelingt es, das auf dem Weg Störende auszublenden und ihm so die Kraft zu nehmen. Das entspricht auch dem Satz, dass Energie Energie folgt: Energie fließt dahin, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Das, was wir füttern, wird groß werden, das andere versiegt.
Kapitel 1, Vers 33: Die Verwirklichung von Liebe, Mitleid, Heiterkeit und Gleichmut in Bezug auf Freude und Leid, Tugend und Laster, führt zur Klärung des Geistes.
मैत्रीकरुणामुदितोपेक्षाणां सुखदुःखपुण्यापुण्यविषयाणांभावनातश्चित्तप्रसादनम्॥३३॥Maitrīkaruṇāmuditopekṣāṇāṁsukhaduḥkhapuṇyāpuṇyaviṣayāṇāṁbhāvanātaścittaprasādanam||33||
maitrī: Liebe, liebende Güte, Freundlichkeit zu allen Wesen
karunā: Mitleid, Mitgefühl, Barmherzigkeit
upeksā: Gleichmut
sukha: Glück
duhkha: Leid, Not, Unglück
punya: Tugend
apunya: Laster
visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
bhāvanā: Meditation als Verwirklichung, als Werden
citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
prasādana: Klärung, ungestörte Ruhe
Wie oft beneiden wir andere, für das was sie haben? Wie oft missgönnen wir ihren Erfolg, schielen darauf und möchten ihn für uns haben, oder aber denken, wir hätten ihn mehr verdient? Wie kann aus einer solchen Haltung heraus innerer Frieden entstehen? Wie wäre es möglich, mit diesen unsere Wahrnehmung steuernden Gefühlen einen klaren Blick zu bewahren?
Klarheit im Fühlen und Denken gewinnen wir nur, wenn wir unvoreingenommen in die Welt schauen, wenn wir uns freuen können mit denen, die Glück haben, wenn wir denen zur Seite stehen, die leiden, wenn wir die guten Seiten an anderen wahrnehmen und die schlechten nicht verurteilen, sondern mit einer Haltung der Großmut und des Verständnisses akzeptieren. Dies alles im Wissen, dass dies auch die Haltung wäre, die wir uns für uns wünschen würden.
Kapitel 1, Vers 34: Oder diese (Ruhe des Geistes) kann auch durch kontrolliertes Ausatmen und Anhalten des Atems (nach dem Ausatmen) erreicht werden.
प्रच्छर्दनविधारणाभ्यां वा प्राणस्य॥३४॥
Pracchardanavidhāraṇābhyāṁ vā prāṇasya||34||
pracchardana: Ausatmung
vidhāranābhyām: Anhalten
vā: oder
prāna: Atem, Lebensatem
Wenn wir uns aufregen, geht unser Atem automatisch schneller. Wenn wir uns fürchten, stockt er. Dies sind nur zwei Beispiele, wie unser Gemütszustand unseren Atem beeinflusst. Allerdings ist das keine Einbahnstraße, es geht auch andersrum: Wir können durch unseren Atem unseren Gemütszustand beeinflussen. Wenn wir aufgeregt sind, können wir bewusst ausatmen und mit jeder Ausatmung etwas mehr in die Ruhe kommen. Wenn wir ängstlich sind, können wir bewusst atmen, immer mit der Betonung der Ausatmung, denn diese führt mehr und mehr zu innerer Ruhe und wir können die lähmende Angst loslassen.
Den gleichen Effekt hat das bewusste Anhalten des Atems nach dem Ausatmen. In dieser Atempause ist alles leer und ruhig. Diese Pause ist nicht zu verwechseln mit einem unbewussten Stocken, das aus einer Anspannung heraus geschieht – es ist das bewusste Herbeiführen von Entspannung, eine Lösung der Anspannung.
Kapitel 1, Vers 35: Oder die Meditation über feine Sinneswahrnehmungen führt zu einem ruhigen Geist.
विषयवती वा प्रवृत्तिरुत्पन्ना मनसः स्थितिनिबन्धिनी॥३५॥
Viṣayavatī vā pravṛttirutpannā manasaḥ sthitinibandhinī||35||
visayavat: Sinnesobjekt
va: oder
pravrttih: Tätigkeit, Bemühung, Beschäftigung
utpanna: entstehen
manas: Geist, engl. „mind“, Denkorgan
sthiti: verweilen, standhaft bleiben
nibandhanī: bindend, fixierend
Normalerweise sind unsere Sinne nach außen gerichtet, sie nehmen (oft auch unbewusst) auf, was sich in der Welt um uns abspielt. Wenn wir nun unser ganzes Bewusstsein auf einen dieser Sinne und dessen Wahrnehmung richten und darüber in Meditation versinken, kann das zur Beruhigung des Geistes führen, bis er schlussendlich in sich ruht. So können auch die Tore zur Welt zum Tor zu einem selbst werden. Dies ist wieder ein Zeichen dafür, dass die Dinge an sich keine Bedeutung haben – wir erst geben sie ihnen.
Wir können die Sinne auf verschiedene Weisen nutzen oder uns gar zu ihren Sklaven machen, indem wir sie wild umherspringen lassen und ihnen blind folgen – oder wir können sie bewusst dazu nutzen, unser Ziel des in sich ruhenden Geistes zu erlangen.
Kapitel 1, Vers 36: Oder aber wir meditieren über den lichtvollen Zustand in unserem Innern, der frei von Leid ist. (Auch so gelangen wir zu einem ruhigen Geist.)
विशोका वा ज्योतिष्मती॥३६॥
Viśokā vā jyotiṣmatī||36||
viśokā: kummerfrei, sorgenlos, frei von Leid
vā: oder
jyotismat: leuchtend, lichtvoll
Das Herz, als Sitz der Seele gesehen, ist frei von jeglicher Beeinträchtigung von außen und dadurch frei von Leid. Im Herzen leuchtet das helle Licht unserer Wesenheit, hier ist alles ruhig, friedlich, hell und frei von allen Schleiern, Dunkelheiten, Trübungen. Indem wir auf diesen Herzensraum meditieren, breitet sich dieses innere Licht in uns aus, es strahlt durch uns hindurch und wir sind mit jeder Faser unseres Seins davon erfüllt. In dem Zustand kommt auch der Geist zur Ruhe.
Kapitel 1, Vers 37: Oder wir meditieren über einen Menschen, der frei von Begierde nach Sinnesgegenständen ist. (Auch so gelangen wir zu einem ruhigen Geist.)
वीतरागविषयं वा चित्तम्॥३७॥
Vītarāgaviṣayaṁ vā cittam||37||
vīta: frei von, befreit
rāga: Leidenschaft, Verhaftung, Gier
visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
vā: oder
citta: Geist, engl. „mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
Vor allem in jungen Jahren neigen wir dazu, Menschen, die das verkörpern, was wir bewundern, zu unseren Idolen zu erklären und ihnen nachzustreben. Wir saugen förmlich auf, was sie tun, wie sie sind. Solche Vorbilder können eine gute Motivation sein, sich anzustrengen, weil man an ihnen sieht, dass es möglich ist, das Ziel zu erreichen. Wenn wir am Anfang unseres spirituellen Weges stehen, wenn die Einheitserfahrung, die unser Ziel ist, weit weg erscheint, hilft es, Menschen zu suchen, die den Weg schon gegangen sind, die erreicht haben, was wir anstreben.
Das Studium ihres Lebens kann helfen, eine authentische, tiefe Vorstellung zu entwickeln vom eigenen Weg und dem Ziel, das an seinem Ende steht. Auch die Begegnung mit einer solchen Person kann diese Wirkung haben. Das ist auch einer der Gründe, wieso Yoga früher immer von einem Guru weitergegeben wurde. So konnte der schon Erfahrene mit gutem Beispiel und den richtigen Lehren den Weg weisen. Dazu war es wichtig, zu wissen, wo die Schüler standen, denn von jedem Ort führt ein anderer Weg hin zum Ziel, jeder fängt an einem anderen Ort an zu gehen.
Kapitel 1, Vers 38: Oder die Meditation über die Natur des Träumens oder des traumlosen Schlafes führt zu einem ruhigen Geist.
स्वप्ननिद्राज्ञानालम्बनं वा॥३८॥
Svapnanidrājñānālambanaṁ vā||38||
svapna: Traum
nidrā: Tiefschlaf, Dumpfheit
jñāna: Kenntnis, Wissen
ālambana: sich stützen auf, beruhen auf
vā: oder
Im Traum machen wir – ohne bewusstes Denken – Erfahrungen. Es ist ein Strom, der aus dem Unterbewussten kommt und sich in den Wahrnehmungsraum begibt. Im Schlaf hat man so Zugang zu unterbewussten Erkenntnissen und Erfahrungen, zu denen man durch reines Denken nicht kommen kann. Da dieses Erkennen ohne Geistesbewegungen, also ohne Denken passiert, ist der Geist in diesem Stadium ruhig. Durch die Meditation auf diesen Traumfluss kommt mein Geist zur Ruhe, weil ich mich durch die Meditation in das Stadium des Traumes hineinbegebe.
Kapitel 1, Vers 39: Oder man gelangt durch Meditation über etwas, das man sich wünscht, zu einem ruhigen Geist.
यथाभिमतध्यानाद्वा॥३९॥
Yathābhimatadhyānādvā||39||
yathā: so wie, ebenso
abhimata: Sehnen, Wunsch, gewünscht, ersehnt
dhyāna: Meditation
vā: oder
Eine weitere Methode, den Geist zur Ruhe zu bringen, ist die Meditation über einen Gegenstand, den man sich wünscht. Natürlich ist vorausgesetzt, dass dieser Wunsch eine erhebende, erhellende Wirkung auf den Geist hat. Dass es sich also um etwas handelt, das der richtigen Gesinnung entspringt und nicht von Gier oder anderen niederen Instinkten geprägt ist. Indem man nun die Aufmerksamkeit auf den gewünschten Gegenstand richtet, verschwinden nach und nach die vielen Störgeräusche im Geist und es bleibt nur Ruhe zurück.
Kapitel 1, Vers 40: Durch die Beherrschung des gefestigten Geistes erschließt sich alles, vom kleinsten Atom bis zur Unendlichkeit des Himmels.
परमाणुपरममहत्त्वान्तोऽस्य वशीकारः॥४०॥
Paramāṇuparamamahattvānto'sya vaśīkāraḥ||40||
paramanu: kleinster Teil, Atom
anu: kleinstes, winzigstes
parama: äußerst, höchstes
mahattva: größtes, Grösse
anta: Grenze
asya: dessen
vsaīkāra: Meisterschaft
Wer es geschafft hat, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, ist in der Lage, alles wirklich zu erkennen – vom allerkleinsten bis zum größten Ding. Nichts übersteigt mehr seinen Horizont, der Blick ist klar, die wahre Erkenntnis dessen, was ist, möglich.
Kapitel 1, Vers 41: Wenn die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe gekommen sind, wird der Geist transparent wie ein Kristall, kommt es zu einer Einheit von dem, der erkennt, dem Erkennen und dem erkannten Gegenstand. Das Verweilen in diesem Zustand heißt samapatti (Vereinigung mit dem Gegenstand der Kontemplation).
क्षीणवृत्तेरभिजातस्येव मणेर्ग्रहीतृग्रहणग्राह्येषु तत्स्थतदञ्जनता समापत्तिः॥४१॥
Kṣīṇavṛtterabhijātasyeva maṇergrahītṛgrahaṇagrāhyeṣu tatsthatadañjanatā samāpattiḥ||41||
ksīna: völlig geschwächt, minimiert
vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
abhijāta: edel, besonders, rein
iva: gleichsam, als ob
maner: Diamant, Juwel
grahītri: Wahrnehmender, Wissender
grahana: Wahrnehmen
grāhyesu: das Wahrzunehmende, das Wissen
tat: das, dieser, dessen
stha: stehend
añjanatā: das eingefärbt sein von
samāpatti: Einswerdung mit dem Gegenstand der Kontemplation
Die Ruhe des Geistes führt zu einer Klarheit des Erkennens. In diesem Zustand erkennt der Sehende, dass er eine Einheit darstellt mit dem Sehen und dem Gesehenen, dass alles eins ist. Man kann das mit einem Spiegel vergleichen, der frei von jeder Trübung das Bild zurückwirft, so dass der, welcher sieht, auch der Gesehene mit seinem Sehen ist. Noch klarer wird das Bild, wenn man sich einen Bergsee vorstellt, dessen Untergrund aufgewühlt ist, so dass das Wasser trüb von Schlamm ist, und dessen Oberfläche gebrochen ist. Wenn das Wasser zur Ruhe kommt, der Schlamm sich setzt und die Oberfläche klar wird, sieht sich der, welcher reinschaut, sehend wieder.
Kapitel 1, Vers 42: Bei dieser Betrachtung verschmelzen Wort, Bedeutung und Erkenntnis, es ist eine mit dem (analysierenden) Denken verbundene Meditation.
शब्दार्थज्ञानविकल्पैः सङ्कीर्णा सवितर्का समापत्तिः॥४२॥
Śabdārthajñānavikalpaiḥ saṅkīrṇā savitarkā samāpattiḥ||42||
tat: das, dieser, dessen
sabda: Wort, Name
arhta: Objekt, Form, Bedeutung
jñāna: Kenntnis, Wissen
vikalpa: Vorstellung, Imagination, Fantasie
samkīrna: vermischt mit
savitarka: mit Denken
samāpatti: Einswerdung mit dem Gegenstand der Kontemplation
Auf dieser Stufe ist das Denken noch in die Meditation involviert, es ist noch eine Meditation, die auf analytischer Logik beruht und damit immer noch geprägt ist von unserer Geisttätigkeit.
Kapitel 1, Vers 43: Wenn der Geist von Eindrücken der Erinnerung völlig gereinigt ist, ist er von einer eigenen Form befreit und es leuchtet nur die Wirklichkeit durch ihn hindurch. Bei dieser Vertiefung hat alles Denken aufgehört.
स्मृतिपरिशुद्धौ स्वरूपशून्येवार्थमात्रनिर्भासा निर्वितर्का॥४३॥
Smṛtipariśuddhau svarūpaśūnyevārthamātranirbhāsā nirvitarkā||43||
smrti: Erinnerung, erinnertes Wissen
parisuddhau: bei vollkommenem Reinwerden, völlig gereinigt
svarūpa: eigene Form, Identität
sūnya: ohne, abwesend
iva: gleichsam, als ob
arthamātra: nur die Sache selbst
nirbhāsa: hell scheinen
nirvitarka: ohne zu denken
Erinnerungen sind tief in unserem Gedächtnis gespeichert. Sie sind eine Form von Wissen, das immer mit Denken verbunden ist. Wenn wir uns erinnern, sind das Rückstände von vergangenen Erfahrungen, die in unserem Geist aktiv bleiben und unser heutiges Denken und Tun beeinflussen. Wenn der Geist nun auch von den Erinnerungen gereinigt ist, wird er leer und still, so dass das unendliche Bewusstsein hell durch ihn scheinen kann, ungetrübt von eigenem Denken.
Kapitel1, Vers 44: Auf die gleiche Weise, wie diese Vertiefungen in grobstoffliche Gegenstände funktioniert, tut es dies auch mit den feinstofflichen Objekten. Es gibt sie sowohl mit wie auch ohne Denken.
एतयैव सविचारा निर्विचारा च सूक्ष्मविषया व्याख्याता॥४४॥
Etayaiva savicārā nirvicārā ca sūkṣmaviṣayā vyākhyātā||44||
etaya: auf die gleiche Weise, gleichfalls
eva: auch
savicārā: unter Erwägung, durch Überlegung
nirvicāra: ohne Erwägung, ohne Überlegung
ca: und
sūksma: subtil
visayā: Aspekt, Objekt
vyākhyāta: erklärt
Patanjali geht von außen nach innen. Beschrieb er vorher die Meditation über grobstoffliche Gegenstände und die zwei Funktionsweisen derselben, so postuliert er in diesem Sutra, dass es bei den feinstofflichen Gegenständen die gleichen beiden Funktionsweisen der Meditation gibt.
Kapitel 1, Vers 45: Das tiefe Eindringen durch Meditation über feinstoffliche Objekte führt schlussendlich zu einem Zustand ohne charakteristische Merkmale.
सूक्ष्मविषयत्वं चालिङ्गपर्यवसानम्॥४५॥
Sūkṣmaviṣayatvaṁ cāliṅgaparyavasānam||45||
sūksma: subtil
visayatvam: Objekthaftigkeit
ca: und
alinga: Merkmallosigkeit, ohne (charakteristische) Merkmale
paryvasānam: Ende
Je tiefer man taucht, desto mehr lösen sich die Formen auf, bis nur noch das reine Bewusstsein übrigbleibt. An diesem Punkt angekommen, ruht der Geist und bringt keine eigenen Formen mehr hervor.
Kapitel 1, Vers 46: Diese vier Arten der Betrachtung werden als „keimhafte Versenkung” bezeichnet.
ता एव सवीजः समाधिः॥४६॥
Tā eva savījaḥ samādhiḥ||46||
tat: das, dieser, dessen
eva: auch
sabījah: mit einem Keim, keimhaft
samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
Die bislang genannten Formen der Versenkung sind solche mit Keim. Das heißt, sie sind abhängig von einem Objekt, das mit dem Intellekt (buddhi) erfasst werden kann und in Zusammenhang steht mit dem Ich-Bewusstsein (asmita). Schon hier ist eine Richtung vom Groben hin zum Subtilen sichtbar, die in der Folge weiter geht, indem auch der letzte, feinste Keim wegfällt. Dann ist nur noch reines Sein, nur noch der Seher übrig ohne Gesehenes oder Sehen desselben.
Kapitel 1, Vers 47: Im vollkommenen Zustand der von jeglichem Denken freien Betrachtung leuchtet das höchste Selbst hell auf.
निर्विचारवैशारद्येऽध्यात्मप्रसादः॥४७॥
Nirvicāravaiśāradye’dhyātmaprasādaḥ||47||
nirvicāra: ohne Erwägung, ohne Überlegung
vaisāradye: völlige Klarheit, Erfahrung
adhyātma: das eigentliche Selbst, das höchste Selbst
prasāda: Abgeklärtheit, Transparenz, Gnade, Güte
Wenn alles Denken zur Ruhe gekommen ist, wenn die Versenkung samenlos ist, leuchtet das innere Licht hell auf. Dann ruht der Seher in seiner wahren Natur.
Kapitel 1, Vers 48: Dort findet man die Weisheit der reinen Wahrheit.
ऋतम्भरा तत्र प्रज्ञा॥४८॥
Ṛtambharā tatra prajñā||48||
rtam: ewige Ordnung, kosmisches Gesetz, Wahrheit
bhara: tragend
tatra: dann
prajñā: Wissen, Weisheit
Wirkliche Weisheit findet sich nur jenseits des Denkens, sie ist mit dem Denken nicht erfahrbar, da dieses immer begrenzt ist. Die Weisheit übersteigt alles Wollen und Streben, die geistigen Möglichkeiten des Selbst. Erst wenn dieses über sein Ich-Bewusstsein hinausgeht, frei von Denken ist, erfährt es die höchste Weisheit, dann öffnet sich der Zugang zum allumfassenden Erkennen dessen, was ist.
Kapitel 1, Vers 49: Dieses wahrhafte Erkennen basiert nicht auf Erinnerungen oder Schlussfolgerungen, es ist ein unmittelbares besonderes Wissen.
श्रुतानुमानप्रज्ञाभ्यामन्यविषया विशेषार्थत्वात्॥४९॥
Śrutānumānaprajñābhyāmanyaviṣayā viśeṣārthatvāt||49||
sruta: Gehörtes
anumāna: Schlussfolgerung, über den Intellekt erkennen
prajñā: vom Wissen ausgehend
anya: der/das andere
visaya: Gegenstand, Situation, Erfahrung
visesa: Verschiedenheit, Besonderheit, vorzüglich
arthatva: von einer Zielrichtung ausgehend, Beziehung zum Objekt, zur Wahrnehmung
Diese höchste Weisheit ist anders als das Wissen, das wir in der Schule oder aus Büchern lernen. Es ist weiter und geht tiefer, es ist nur durch direkte Erfahrung möglich.
Kapitel 1, Vers 50: Die aus dieser Weisheit entsprungenen Eindrücke verdrängen die anderen Eindrücke.
तज्जः संस्कारोऽन्यसंस्कारप्रतिबन्धी॥५०॥
Tajjaḥ saṁskāro’nyasaṁskārapratibandhī||50||
tat: das, dieser, dessen
jah: geboren
samskāra: Eindrücke, Prägungen
anya: ein anderer
samskāra: Eindrücke, Prägungen
pratibandhi: überwinden, unterbinden
Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, beginnt quasi ein neues Leben. Alles was war, das alte Wissen, die begrenzten Sichtweisen und behindernden Prägungen, sind ausgelöscht und ein Leben in Klarheit liegt vor einem, in welchem keine neuen Prägungen entstehen.
Kapitel 1, Vers 51: Wenn selbst diese (der Weisheit entsprungenen) Eindrücke zur Ruhe kommen, kommt alles zur Ruhe, und daraus entsteht die reine Versenkung.
तस्यापि निरोधे सर्वनिरोधान्निर्वीजः समाधिः॥५१॥
Tasyāpi nirodhe sarvanirodhānnirvījaḥ samādhiḥ||51||
tasya: das, dieser, dessen
api: sogar
nirodha: Zur-Ruhe-Kommen, Beruhigung, Kontrolle
sarva: alles
nirbījah: keimlos, ohne Keim
samādhi: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung
An dem Punkt ist es wichtig, nicht in diesem Zustand verharren zu wollen, ihn nicht fassen zu wollen. Einerseits würde jedes Anhaften den Zustand auflösen und einen zurückwerfen, andererseits gibt es noch eine höhere Stufe: Die des Loslassens sogar dieser allumfassenden Weisheit. Wenn der Übende diesen Zustand überschreitet, tritt er ein in die absolute Ruhe, in die keimlose Versenkung. Hier strahlt seine Seele in Klarheit. Hier ist er angekommen im vollkommenen Sein.
Quellen:
- T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali.
- Ralph Skuban: Patanjalis Yogasutra.
- B.K.S. Iyengar: Der Urquell des Yoga. Die Yoga-Sutras des Patanjali.
- R. Sriram: Patanjali. Das Yogasutra.
- Jaganath Carrera: Inside the Yoga Sutras.
- Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patanjali.
- P.Y. Despande (Hrsg.), Bettina Bäumer (Übersetzung): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga.
- Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Weisheit leben.
- Eckard Wolz-Gottwald: Die Yoga-Sutras im Alltag leben.
- Anna Trökes: Die kleine Yoga-Philosophie.