Yogasutra Kapitel 3: Von den Ergebnissen
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Yogasutra von Patanjali: Kapitel 3

Von Sandra von Siebenthal

Das Yogasutra ist in vier Kapitel aufgeteilt. In diesem Artikel nimmt sich Sandra von Siebenthal die 55 Verse des dritten Kapitels vor. Lies gerne auch ihre Ausführungen zum ersten, das zweiten und vierten Kapitel!

3. Kapitel: Trtīyo vibhūti-pādah – Von den Ergebnissen

  • trtīyah: das Dritte
  • vibhūti: Ergebnisse 
  • pādah: Kapitel

Dieses Kapitel handelt von den Eigenschaften des Yogas und den Fähigkeiten, die durch den Weg des Yoga erreicht werden können. Das Kapitel richtet sich an die bereits sehr fortgeschrittenen Yogi:nis. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Weg nach Innen, auf der Erkenntnis der inneren Anlagen und des inneren Wesens sowie in dessen Entwicklung zur eigenen Entfaltung. 

Kapitel 3, Vers 1: Dharana (Konzentration) bedeutet, das Bewusstsein an einen Ort, eine Sache oder eine Idee zu binden.

देशबन्धश्चित्तस्य धारणा॥१॥

Deśabandhaścittasya dhāraṇā||1||

  • desa: Ort
  • bandhah: fixieren
  • cittasya: Bewusstsein, Wahrnehmungsraum
  • dhāranā: Konzentration

Während unser Geist im Alltag von einem Punkt zum anderen springt, bleibt er in der Konzentration auf einen Punkt gerichtet. Das Objekt der Konzentration kann mannigfaltig sein, es kann fassbar, nicht fassbar sein, es kann ein Sinnes- oder Gedankenobjekt sein, ein Konzept oder der eigene Atem. Wichtig ist, dass neben diesem Objekt alle anderen Ablenkungen ausgeschaltet sind.

Kapitel 3, Vers 2: Dhyana (Meditation) ist der ununterbrochene Strom der Wahrnehmung darauf (auf dieses fokussierte Objekt).

तत्र प्रत्ययैकतानता ध्यानम्॥२॥

Tatra pratyayaikatānatā dhyānam||2||

  • tatra: dort, dorthin
  • prataya: Bewusstseinsinhalte, Wahrnehmung
  • ekatānatā: in einem fließenden Strom, ununterbrochener Strom
  • dhyāna: Meditation

In der Meditation geht man noch ein wenig weiter, indem das Bewusstsein über eine längere Dauer auf das fokussierte Objekt gerichtet bleibt. Dabei entsteht eine Verbindung zwischen dem Meditierenden und dem Objekt, die sich immer weiter vertieft.

Kapitel 3, Vers 3: Samadhi (Versenkung) ist, wenn sich das Bewusstsein der eigenen Form (Identität) auflöst und nur das Objekt der Meditation leuchtet.

तदेवार्थमात्रनिर्भासं स्वरूपशून्यमिव समाधिः॥३॥

Tadevārthamātranirbhāsaṁ svarūpaśūnyamiva samādhiḥ||3||

  • tad: dessen
  • eva: es selbst
  • artha: Objekt
  • mātra: nur
  • nirbhāsam: scheinen
  • svarūpa: eigene Form, Identität
  • sūnyam: ohne, abwesend
  • iva: gleichsam, so wie
  • samādhih: Vereinigung, Verbindung, Erfüllung, Vollendung

Irgendwann ist die Verbindung zwischen dem Objekt, über das meditiert wird, und dem Meditierenden so tief, dass sich der Meditierende in seinem Form-Bewusstsein auflöst und das Objekt durch ihn strahlt. Sie werden zu einer Einheit des Seins. 

Kapitel 3, Vers 4: Diese drei (Dharana, Dhyana, Samadhi) werden als Sammlung bezeichnet.

त्रयमेकत्र संयमः॥४॥

Trayamekatra saṁyamaḥ||4||

  • trayam: Dreiergruppe
  • ekatra: vereinigt
  • samyama: Sammlung, Zusammenhalten (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)

Samyama ist der Name für die letzten drei Stufen des achtstufigen Pfades. Sie sind nach innen gerichtet und weisen den Weg immer tiefer nach innen bis hin in die innere Wesensessenz. 

3.5 Durch deren Meisterung erstrahlt das Licht der höchsten Weisheit.

तज्जयात्प्रज्ञालोकः॥५॥

Tajjayātprajñālokaḥ||5||

  • tad: von dieser, davon
  • jayāt: Meisterschaft
  • prajñā: Weisheit, Erkenntnis
  • ālokah: Licht

Wenn auch diese drei Stufen genommen sind, ist der Yogi an seinem Ziel angekommen, alle Schleier haben sich gelüftet, er ruht tief in seinem Sein und hat Zugang zur höchsten Weisheit. 

Kapitel 3, Vers 6: Sie (Samyama, die Sammlung) wird stufenweise erreicht.

तस्य भूमिषु विनियोगः॥६॥

Tasya bhūmiṣu viniyogaḥ||6||

  • tsya: dessen
  • bhūmisu: Stufe um Stufe, stufenweise
  • viniyogah: üben, anwenden

Hier ruft Patanjali nochmals in Erinnerung, dass der Weg keine Abkürzungen zulässt, sondern man ihn nur stufenweise nehmen kann. Eine Stufe bereitet auf die nächste vor, bis man am Ziel angelangt ist. Es ist wie bei einer Wanderung auf einen Berg. Schritt für Schritt steigt man höher, überblickt immer mehr, was man schon geschafft hat. Mit jedem Schritt ist man bereit für den nächsten Schritt, bis man auf dem Gipfel ist und alles überblicken kann. 

Kapitel 3, Vers 7: Diese drei mehr innerlicher Art als die vorherigen Glieder.

त्रयमन्तरङ्गं पूर्वेभ्यः॥७॥

Trayamantaraṅgaṁ pūrvebhyaḥ||7||

  • trayam: diese drei, Dreiergruppe
  • antarangam: innerlich, inneres Glied
  • pūrvebhyah: die Vorangegangenen, die Vorherigen

Während die ersten fünf Glieder mehr auf das Leben auf der Welt bezogen sind, richten sich die drei letzten Glieder mehr nach innen. 

Kapitel 3, Vers 8: Selbst diese drei sind noch äußerliche Aspekte im Vergleich zur keimlosen Versenkung.

तदपि वहिरङ्गं निर्वीजस्य॥८॥

Tadapi vahiraṅgaṁ nirvījasya||8||

  • tad: diese
  • api: sogar
  • bahih: äußerlich 
  • angam: Glied
  • nirbījasya: Einkehr ohne Keime, keimlos

Aber auch in den letzten drei Gliedern sind wir noch mit dem Außen verbunden, insofern wir immer noch in unserem Körper auf der Erde und in der Welt sind. Erst die keimlose Versenkung, in welcher wir uns über uns erheben und alles loslassen, ist eine rein innerliche Erfahrung. 

Kapitel 3, Vers 9: Sowohl im Zustand der Erregung als auch im Ruhezustand tauchen unterbewusste Eindrücke auf. Dazwischen herrscht eine Phase der Stille, in welcher eine Verwandlung stattfinden kann (nirodha parinama).

व्युत्थाननिरोधसंस्कारयोरभिभवप्रादुर्भावौ निरोधक्षणचित्तान्वयो निरोधपरिणामः॥९॥

Vyutthānanirodhasaṁskārayorabhibhavaprādurbhāvau nirodhakṣaṇacittānvayo nirodhapariṇāmaḥ||9||

  • vyutthāna: in aktivem Zustand
  • nirodha: Zur-Ruhe-Kommen, Beruhigung, Kontrolle
  • samskārayoh: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
  • abhibhava: überwinden, verschwinden
  • prādurbhāvau: erscheinen
  • nirodha: Zur-Ruhe-Kommen, Beruhigung, Kontrolle
  • ksana: Moment, Augenblick
  • citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • anvayah: Verbindung, folgend
  • nirodha: Zur-Ruhe-Kommen, Beruhigung, Kontrolle
  • parināmah: Verwandlung, Umwandlung

Am Anfang des Übens ist der Geist unruhig, er schwankt zwischen Erregung und Ruhe hin und her und in beiden Phasen tauchen Prägungen aus dem Unterbewussten auf. Zwischen diesen Phasen kommt es immer wieder kurz zu einer Stille, in der diese Prägungen aufhören zu wirken. Es gilt, diese Phasen zu studieren und aus ihnen zu sehen, was sich zeigt, wenn die Muster und Prägungen aufhören, die sonst unser Alltagshandeln und -denken bestimmen. 

Kapitel 3, Vers 10: Das wiederholte Üben führt zu einem ruhigen Fluß (der Gemütsbewegungen).

तस्य प्रशान्तवाहिता संस्कारात्॥१०॥

Tasya praśāntavāhitā saṁskārāt||10||

  • tasya: dessen
  • prasānta: ruhig, stabil
  • vāhitā: fließend
  • samskārāt: wiederholtes Tun, Übung

Mit der fortschreitenden Dauer des Übens werden diese Phasen der Stille zwischen den Schwankungen länger und intensiver, die uns steuernden Prägungen nehmen ab.

Kapitel 3, Vers 11: Wenn der Geist nicht mehr von vielen Objekten abgelenkt ist und sich nur noch auf einen (durchgängig festgelegten) Punkt konzentriert, nennt sich das samadhi parinama (durch tiefe Erkenntnis geprägter Wandel).

सर्वार्थतैकाग्रतयोः क्षयोदयौ चित्तस्य समाधिपरिणामः॥११॥

Sarvārthataikāgratayoḥ kṣayodayau cittasya samādhipariṇāmaḥ||11||

  • sarvārthatā: viele Objekte, Themen
  • ekāgratā: Sammlung des Geistes auf einen Punkt, auf einen Punkt konzentriert
  • ksaya: abnehmen
  • udaya: aufgehen
  • citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • samādhi: Vereinigung, vollkommene Erkenntnis, Erfüllung, Vollendung
  • parināma: Verwandlung, Umwandlung

Der Geist ist in dieser Form der Konzentration nicht mehr zwischen verschiedenen Dingen hin und her wandernd, sondern es ist nun möglich, ihn an einem Punkt verweilen zu lassen, auf den die Konzentration gerichtet bleibt. Dabei ist der Punkt der Ausrichtung nicht durchgängig derselbe, es kommt noch dann und wann zu Unterbrechungen und einer neuen Wahl des Objekts. Durch die kontinuierliche Übung wird der Geist immer ruhiger, die Ausrichtung auf ein Objekt fällt immer leichter und wird seltener durch das unruhige Umherwandern des Geistes gestört.

Kapitel 3, Vers 12: Wenn die vergehenden und aufsteigenden Erscheinungen zu einem gleichmäßigen Fluss werden, führt das zur einsgerichteten Sammlung des Bewusstseins.

 ततः पुनः शान्तोदितौ तुल्यप्रत्ययौ चित्तस्यैकाग्रतापरिणामः॥१२॥

Tataḥ punaḥ śāntoditau tulyapratyayau cittasyaikāgratāpariṇāmaḥ||12||

  • tatah: daraus
  • punah: nochmals, wieder
  • sānta: still, friedlich
  • uditau: Manifestation, Erscheinung
  • tulya: gleichartig
  • pratyayau: Eindrücke, Wahrnehmung, Vorstellungen
  • cittasya: Geist, „Mind”, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • ekāgratā: Sammlung des Geistes auf einen Punkt, auf einen Punkt konzentriert
  • parināma: Verwandlung, Umwandlung

In diesem Zustand kommt der Geist noch mehr zur Ruhe, er wird nicht mehr abrupt unterbrochen, sondern findet sich in einem gleichmäßigen Fluss der Einsgerichtetheit. 

Kapitel 3, Vers 13: Damit (mit diesen Veränderungsprozessen) sind die drei Verwandlungen in den Elementen und in den Sinnesorganen in Bezug auf ihre Beschaffenheit, ihre zeitbedingten Merkmale und ihren Zustand erklärt.

एतेन भूतेन्द्रियेषु धर्मलक्षणावस्थापरिणामा व्याख्याताः॥१३॥

Etena bhūtendriyeṣu dharmalakṣaṇāvasthāpariṇāmā vyākhyātāḥ||13||

  • etena: dadurch
  • bhūta: grundlegende Elemente (wie Erde, Feuer, Wasser, etc.)
  • indriyesu: in den Sinnesorganen
  • dharma: wesentliche Eigenschaften
  • laksana: Merkmale
  • avastha: Zustand, Stufe der Entwicklung
  • pariāmah: Wandel, Umwandlung
  • vyākhyātah: erklärt sich dadurch

Unser Geist kann unterschiedliche Eigenschaften annehmen, die sich zusammensetzen aus der Beschaffenheit (Funktion und Form), zeitliche Merkmale und den generellen Zustand. Jeder Wandel, der geschieht, basiert auf diesen drei Kriterien. 

Kapitel 3, Vers 14: Die Verwandlungen des Trägers der Eigenschaften (unseres Geistes) sind die gleichen, die auch die Eigenschaften selbst durchmachen, sie können vergangener, gegenwärtiger oder künftiger Natur sein.

शान्तोदिताव्यपदेश्यधर्मानुपाती धर्मी॥१४॥

Śāntoditāvyapadeśyadharmānupātī dharmī||14||

  • sānta: vergangen
  • udita: in diesem Moment erscheinend
  • avyapadesya: noch nicht erschienen, das nicht Hervorgebrachte
  • dharma: essentielle Eigenschaften
  • anupātā: folgend, sich ergebend
  • dharmi: Träger der wesentlichen Eigenschaften

Jeder Träger der Eigenschaften, sei er grobstofflich oder feinstofflicher Natur, macht die gleichen Prozesse durch wie die Eigenschaften selbst. Alle Veränderungen (der Träger und der Eigenschaften) sind zeitbedingt, sie passierten entweder in der Vergangenheit, sind gerade aktiv oder wirken sich in der Zukunft aus. 

Kapitel 3, Vers 15: Unterschiedliche Abfolgen führen zu unterschiedlichen Verwandlungen.

क्रमान्यत्वं परिणामान्यत्वे हेतुः॥१५॥

Kramānyatvaṁ pariṇāmānyatve hetuḥ||15||

  • krama: Stufe, Folge, Reihenfolge
  • anyatva: das Anderssein, Differenz
  • parināma: Verwandlung, Umwandlung: 
  • hetu: Ursache

Je nachdem, wie die einzelnen Eigenschaften sich zueinander verhalten, in welcher Abfolge sie sich verändern, unterscheiden sich auch die Ergebnisse aus den Veränderungen. Man kann sich das zum besseren Verständnis vorstellen wie das Mischverhältnis von Farben. Wenn ich gelb, blau und weiß mische, ergibt sich je nach Mischverhältnis eine hellere oder dunklere, eine eher grüne oder blaue Farbe. 

Kapitel 3, Vers 16: Die Versenkung in die drei erwähnten Verwandlungen führt zu Wissen über Vergangenes und Zukünftiges.

परिणामत्रयसंयमादतीतानागतज्ञानम्॥१६॥

Pariṇāmatrayasaṁyamādatītānāgatajñānam||16||

  • parināma: Verwandlung, Umwandlung
  • traya: dreifach
  • samyamat: aus der Versenkung, aus der Sammlung (der drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • atīta: Vergangenes
  • anāgata: „das noch nicht Gekommene“, das Künftige
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Indem ich mir bewusst bin, dass es diese Arten der Veränderung gibt, und ich über diese meditiere, öffnen sich mir Erkenntnisse über ihre Eigenarten, wodurch es gelingt, sowohl das Vergangene wie auch das Künftige daraus zu erkennen. 

Kapitel 3, Vers 17: Wenn man das Wort, den Gegenstand, den dieses bezeichnet und die Vorstellung davon miteinander verwechselt, entsteht eine Verwirrung. Wenn man sich in der Versenkung auf die klare Unterscheidung der drei vertieft, führt das dahin, die Sprache aller Wesen zu verstehen.

शब्दार्थप्रत्ययानामितरेतराध्यासात्सङ्करस्तत्प्रविभागसंयमात्सर्वभूतरुतज्ञानम्॥१७॥
Śabdārthapratyayānāmitaretarādhyāsātsaṅkarastatpravibhāgasaṁyamātsarvabhūtarutajñānam||17||

  • sabda: Wort
  • artha: Bedeutung, beschriebenes Objekt
  • pratyayam: Eindrücke, Wahrnehmung, Vorstellungen
  • itaretara: miteinander, untereinander
  • adhyāsat: am Falschen haftend 
  • sankara: Vermischung
  • tat: das, dieser, dessen
  • pravibhāga: Unterscheidung
  • samyamat: aus der Versenkung, aus der Sammlung (der drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • sarva: alle
  • bhūta: Element, Wesen
  • ruta: Sprache
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Das Wort, mit dem ich etwas bezeichne, ist nie das Ding an sich, sowie auch meine Vorstellung von etwas nie mit dem Wirklichen identisch ist. Teilweise neigen wir zu Verwechslungen, wir halten unsere Vorstellungen für die Realität und leiten daraus unser Denken, Fühlen und Handeln ab. Dies führt zu Verwirrungen, da wir auf diese Weise nie auf das reagieren, was wirklich ist, sondern nur auf etwas Vorgestelltes, das unter Umständen nie eintreten wird. 

Kapitel 3, Vers 18: Indem wir unsere Prägungen direkt wahrnehmen, erlangen wir Wissen von früheren Existenzen.

संस्कारसाक्षात्करणात्पूर्वजातिज्ञानम्॥१८॥

Saṁskārasākṣātkaraṇātpūrvajātijñānam||18||

  • samskāra: unterbewusste Eindrücke, Prägungen
  • sāksātkarana: unmittelbar sichtbar, wahrnehmbar
  • pūrva: frühere
  • jāti: Geburt
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Was wir früher dachten und taten, bestimmt mit, wie wir heute sind. In vielen Situationen reagieren wir aus Prägungen und Mustern heraus, die uns gar nicht mehr bewusst sind. Sie sind irgendwann in unserer Vergangenheit entstanden, oft in der Kindheit, und haben sich als Glaubenssätze in uns festgesetzt. Wir glauben diese Sätze blind und folgen ihnen spontan. Auf diese Weise reagieren wir immer wieder auf eine Weise, die nicht der aktuellen Situation angemessen ist, sondern sich aus alten Eindrücken speist. Wenn wir uns dessen bewusst werden, können wir herausfinden, woher diese Verhaltensmuster resultieren und erhalten so tiefe Erkenntnisse in unsere früheren Erfahrungen (wobei in den Sutras auch solche aus früheren Leben gemeint sind).

Kapitel 3, Vers 19: Indem ich mich auf die hinterlassenen Eindrücke der anderen ausrichte, erfahre ich mehr über deren Gedanken.

प्रत्ययस्य परचित्तज्ञानम्॥१९॥

Pratyayasya paracittajñānam||19||

  • pratyaya: tiefe Eindrücke, 
  • para: andere, fremde
  • citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

So wie wir von früheren Erlebnissen geprägt sind, sind es auch andere Menschen. Indem wir genau hinschauen, wie sie sich verhalten, können wir erkennen, auf was für Gedanken dieses Verhalten gründet.

Kapitel 3, Vers 20: Kein Wissen können wir erlangen über die Grundlagen dieser Gedanken, da sie nicht für uns wahrnehmbar sind.

न च तत्सालम्बनं तस्याविषयीभूतत्वात्॥२०॥

Na ca tatsālambanaṁ tasyāviṣayībhūtatvāt||20||

  • na: nein
  • ca: und
  • tat: dessen (der andere Geist)
  • sālambana: Stütze, Grundlage, Ursache
  • tasya: deren
  • avisavī: nicht im Wissensfeld, nicht Objekt der Erfahrung oder Wahrnehmung
  • bhūtatva: Wesenheit, So-Sein

Zwar können wir durch ihr Verhalten die Gedanken anderer Menschen ergründen, doch deren Ursprünge sind für uns nicht erreichbar, da wir nie in andere Menschen hineinschauen können. Wir nehmen nur wahr, was sich im Außen zeigt. 

Kapitel 3, Vers 21: In dem man sich in die Erscheinung des Körpers versenkt, wird er unsichtbar, weil so die Kraft, die ihn wahrnehmbar macht, gebannt wird, weil sein (sich offenbarendes) Licht nicht mehr aufs Auge trifft.

कायरूपसंयमात्तद्ग्राह्यशक्तिस्तम्भे चक्षुःप्रकाशासम्प्रयोगेऽन्तर्धानम्॥२१॥

Kāyarūpasaṁyamāttadgrāhyaśaktistambhe cakṣuḥprakāśāsamprayoge’ntardhānam||21||

  • kāya: Körper
  • rūpa: Form
  • samyamat: durch die Sammlung, durch die Versenkung
  • tat: dessen
  • grāhya: gesehen werden
  • sakti: Kraft
  • stambhe: erstarren, starr werden
  • caksu: Augen
  • prakāsa: Licht, Erleuchtung
  • (a)samprayoga: (nicht) treffen
  • antadhāna: unsichtbar werden, verschwinden

Hier haben wir es mit einer übersinnlichen Fähigkeit zu tun. Indem wir uns in unsere Erscheinung versenken, können wir diese anderen gegenüber unsichtbar machen, weil die von uns ausgehenden Lichtstrahlen nicht mehr auf das Auge des anderen treffen.

Für die meisten Menschen westlicher Prägung ist der Inhalt dieses Verses schwer annehm- und vorstellbar. Unter Umständen muss man dieses Sutra so verstehen, dass dies die letzte Stufe wäre, die es anzustreben gilt, wobei es eher unwahrscheinlich ist, sie zu erreichen. Eine andere Deutung wäre, dass jemand, der sich so in seine eigene Erscheinung versenkt, nicht mehr wahrgenommen wird, weil er sich nicht mehr darstellt, sondern in sich gekehrt still ist und damit der Aufmerksamkeit entgeht. 

Kapitel 3, Vers 22: Handlungen zeigen ihre Wirkungen sofort oder erst später. Durch die Meditation über diesen Umstand gelingt es, künftige hinderliche Folgen vorauszusehen und man erhält auch Anzeichen des kommenden Todes oder Erkenntnis seines Zeitpunkts.

सोपक्रमं निरुपक्रमं च कर्म तत्संयमादपरान्तज्ञानमरिष्टेभ्यो वा॥२२॥

Sopakramaṁ nirupakramaṁ ca karma tatsaṁyamādaparāntajñānamariṣṭebhyo vā||22||

  • sopakrama: nachvollziehbar, begründet
  • nirupakrama: anfangslos, unbegründet, nicht nachvollziehbar
  • ca: und
  • karma: Handlung
  • tat: auf diese
  • samyamat: durch Sammlung, durch Meditation
  • aparānta: Zeitpunkt des Sterbens, kommender Tod
  • jñāna: Kenntnis, Wissen
  • arista: Anzeichen des Todes
  • vā: oder

Manchmal ist es vorhersehbar, wie die Folgen unseres Tuns auf uns wirken werden, ob sie gut sind für uns oder nicht. Wenn wir über unser Tun und seine Wirkungen auf uns meditieren, klären sich die Folgen nach und nach und wir können abschätzen, was für uns richtig oder falsch ist. Auf diese Weise erhalten wir auch Kenntnis über unseren nahenden Tod sowie darüber, wann es so weit ist.

Kapitel 3, Vers 23: Indem man sich auf die liebende Güte (maitrī) und die anderen Bhavanas ausrichtet, erlangt man deren seelische Kräfte.

मैत्र्यादिषु बलानि॥२३॥

Maitryādiṣu balāni||23||

  • maitrī: Liebe, liebende Güte, Freundlichkeit zu allen Wesen
  • ādisu: und so weiter, weitere
  • bala: (seelische) Kräfte

Die vier Bhavanas sind die heilenden Qualitäten für unseren Geist, sie helfen, negative Gedanken und Gefühle auszugleichen. Indem wir uns auf diese Qualitäten ausrichten, nehmen sie einen immer größeren Raum in unserem Leben ein, sie durchdringen unsere Seele und wirken in ihr und durch sie. 

Kapitel 3, Vers 24: Durch Sammlung aller Kräfte auf einen Elefanten oder ähnliche Wesen, erwirbt man dessen Fähigkeiten.

बलेषु हस्तिबलादीनि॥२४॥

Baleṣu hastibalādīni||24||

    •    balesu: in Kraft
    •    hasti: Elefant
    •    bala: Kraft
    •    ādi: etc. (ähnliche Dinge)

Indem wir uns sammeln und uns ganz auf etwas ausrichten, verfügen wir über dessen Qualitäten in ihrer ganzen Intensität. Patanjali nennt hier das Beispiel des Elefanten: Wenn wir über ihn meditieren, werden wir stark wie ein Elefant.

Kapitel 3, Vers 25: Durch Sammlung auf das Licht unserer geistigen Wahrnehmung, erreicht man Wissen über subtile, verborgene oder weit entfernte Dinge.

प्रवृत्त्यालोकन्यासात्सूक्ष्मव्यवहितविप्रकृष्टज्ञानम्॥२५॥

Pravṛttyālokanyāsātsūkṣmavyavahitaviprakṛṣṭajñānam||25||

  • pravrtti: Quelle, Ursprung
  • āloka: Licht
  • nyāsāt: durch Hingabe
  • sūksma: subtil
  • vyahita: Verstecktes, hinter Hinternissen Verborgenes
  • viprakrsta: weit entfernt, ausserhalb des Bereichs der Sinne
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Unsere Sinne haben nur eine beschränkte Wahrnehmung, vieles entzieht sich ihnen. Indem wir uns auf unseren inneren Raum ausrichten, das Licht tief in unserem Inneren erkennen, erweitert sich unsere Wahrnehmung über die Sinneswahrnehmungen hinaus und wir nehmen sehr subtile, verborgene oder auch entfernte Dinge wahr. 

Kapitel 3, Vers 26: Durch Sammlung auf die Sonne erfährt man Wissen über den ganzen Kosmos.

भुवनज्ञानं सूर्ये संयमात्॥२६॥

Bhuvanajñānaṁ sūrye saṁyamāt||26||

  • bhuvana: Welten, All, Kosmos
  • jñāna: Kenntnis, Wissen
  • sūrye: die Sonne
  • samyama: Sammlung, Zusammenhalten (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)

Indem wir über die Sonne meditieren, eröffnet sich uns der ganze Kosmos und alle seine Welten. 

Dazu muss man wissen, dass es in der indischen Philosophie vierzehn Welten oder Bereiche des Universums gibt, die auf eine bestimmte Weise angeordnet sind. Der Körper wird als Abbild dieses Universums mit seinen Welten gesehen, so dass sich die Meditation und die dadurch gewonnene Erkenntnis über das Universum auch auf den Körper bezieht: Auch ihn erkennt man in seiner Zusammensetzung und den Beziehungen der einzelnen Teile zueinander.

Kapitel 3, Vers 27: Durch Sammlung auf den Mond erlangt man Wissen von der Formation der Sterne.

चन्द्रे ताराव्यूहज्ञानम्॥२७॥

Candre tārāvyūhajñānam||27||

  • candra: Mond
  • tārā: Stern
  • vyūha: Formation
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Während die Sonne das innerste Sein beleuchtet, steht der Mond für die innersten Sinne, das Bewusstsein. Die Meditation auf den Mond lässt uns die Formation der Gestirne wahrnehmen und damit auch unser Bewusstsein. 

Kapitel 3, Vers 28: Durch Sammlung auf den Polarstern erlangt man Wissen über die Bewegungen der Sterne.

ध्रुवे तद्गतिज्ञानम्॥२८॥

Dhruve tadgatijñānam||28||

  • dhruva: Polarstern
  • tat: dessen
  • gati: Bewegung
  • jñāna: Kenntnis, Wissen 

Die Bewegungen der Sterne stehen für den Lauf der Dinge in unserer Welt. Die Ausrichtung unserer Meditation auf den Polarstern lässt uns das Schicksal voraussehen.

Kapitel 3, Vers 29: Durch Sammlung auf das Nabelzentrum erlangt man Wissen von der Beschaffenheit des Körpers.

नाभिचक्रे कायव्यूहज्ञानम्॥२९॥

Nābhicakre kāyavyūhajñānam||29||

  • nābhi: Nabel
  • cakra: Rad, Zentrum
  • kāya: Körper
  • vyūha: Konstellation
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Indem wir über das Manipura Chakra, das Nabelchakra, meditieren, erlangen wir durchdringende Kenntnis unseres Körpers, wir nehmen ihn mit all seinen Zellen und deren Funktionsweisen wahr. So erlangen wir die Kontrolle über unseren Körper und sind ihm nicht hilflos ausgeliefert. 

Kapitel 3, Vers 30: Durch Sammlung auf die Halsgrube verschwinden Hunger und Durst.

कण्ठकूपे क्षुत्पिपासानिवृत्तिः॥३०॥

Kaṇṭhakūpe kṣutpipāsānivṛttiḥ||30||

  • kantha: Hals
  • kūpa: Grube
  • ksut: Hunger
  • pipāsā: Durst
  • nivrtti: Beendigung, Aufhören

Meditation auf Visuddha Chakra, das Kehlkopfchakra, hilft Heißhunger und starken Durst zum Verschwinden zu bringen.

Kapitel 3, Vers 31: Durch Sammlung auf den Brustbereich erlangt man innere Stabilität.

कूर्मनाड्यां स्थैर्यम्॥३१॥

Kūrmanāḍyāṁ sthairyam||31||

  • kūrma: Schildkröte
  • nādī: Nervenbahn, Energiekanal
  • kūrmanādī: Bereich des Brustbeins, Oberbauch
  • sthairya: Stabilität

Durch Meditation auf den Bereich des Oberbauchs oder Brustbeins kommt man zu völliger Ruhe und Stabilität, sowohl körperlich wie auch geistig. 

Kapitel 3, Vers 32: Durch Sammlung auf das Licht im Scheitel erlangt man das Wissen erleuchteter Wesen.

मूर्धज्योतिषि सिद्धदर्शनम्॥३२॥

Mūrdhajyotiṣi siddhadarśanam||32||

  • mūrdha: Scheitel, Stirn
  • jyotis: Licht
  • siddha: erleuchtetes Wesen
  • darsana: Akt des Sehens, Ansicht

Die Meditation auf den Scheitelbereich öffnet den Zugang zur Weisheit derer, die erleuchtet sind. 

Kapitel 3, Vers 33: Oder man erlangt durch Intuition unbegrenztes Wissen.

प्रातिभाद्वा सर्वम्॥३३॥

Prātibhādvā sarvam||33||

  • prātibha: Essenz, intuition
  • vā: oder
  • sarva: alles

Die vollkommene Weisheit kann sich uns auch erschließen, wenn wir uns mit unserer Intuition verbinden, welche das Wesentliche hinter den Dingen erfasst.

Kapitel 3, Vers 34: Durch die Sammlung im Herzen erlangt man Wissen über sein Bewusstsein.

हृदये चित्तसंवित्॥३४॥

Hṛdaye cittasaṁvit||34||

  • hrdaye: im Herz
  • citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • samvit: genaues Wissen, Verstehen

Anahata Chakra, das Herzchakra, gilt als Sitz des Bewusstseins. Indem wir auf dieses meditieren, erlangen wir Einsicht in unser Bewusstsein, was zur reinen und wahren Erkenntnis führt.

Kapitel 3, Vers 35: Die alltägliche Erfahrung ist nach außen gerichtet, wodurch keine Unterscheidung zwischen citta (dem meinenden Selbst) und dem wahren Wesenskern (purusa) möglich ist. Um purusa zu erkennen, muss man sich statt auf die äußeren Ziele auf die inneren ausrichten.

सत्त्वपुरुषयोरत्यन्तासङ्कीर्णयोः प्रत्ययाविशेषो भोगः परार्थत्वात्स्वार्थसंयमात्पुरुषज्ञानम्॥३५॥

Sattvapuruṣayoratyantāsaṅkīrṇayoḥ pratyayāviśeṣo bhogaḥ parārthatvātsvārthasaṁyamātpuruṣajñānam||35||

  • sattva: physische Natur des Menschen
  • purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
  • atyanta: vollkommen
  • asamkīrnayoh: vermischt
  • pratyaya: Vorstellungen, Eindruck
  • avisesa: nicht Unterscheidung, ohne Erkennen
  • bhoga: Verkettung
  • para: anders, äußeres
  • arthatva: Ziel, Zweck
  • sva: eigen
  • artha: Ziel, Zweck
  • samyama: Sammlung, Zusammenhalten (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Unser alltägliches Denken und unsere Wahrnehmung sind meist durch die Dinge im Außen bedingt. Wir identifizieren uns dabei mit unserem meinenden Selbst, mit unseren geprägten, individuellen Erfahrungen davon, was (vermeintlich) ist. Das führt nicht selten zu Leid, da wir Dinge nicht so sehen, wie sie sind, sondern so, wie wir sind. Nur indem wir unseren Blick vom Außen nach Innen richten, führt uns das zur Sicht von Purusa, der Quelle wirklicher Wahrnehmung. 

Kapitel 3, Vers 36: Daraus (aus der Erkenntnis von purusa) erlangt man subtile/übernatürliche Sinneswahrnehmungen in allen Bereichen (Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen).

ततः प्रातिभश्रावणवेदनादर्शास्वादवार्ता जायन्ते॥३६॥

Tataḥ prātibhaśrāvaṇavedanādarśāsvādavārtā jāyante||36||

  • tatah: daraus
  • prātibha: Wesenskern, Essenz eines Wesens, Licht des eigenen Wesens
  • srāvana: Hören
  • vedanā: Fühlen
  • ādarsa: Sehen
  • āsvada: Schmecken
  • vārtā: Riechen
  • jāyante: hervorgehen, entstehen

Normalerweise unterliegen unsere Sinne unseren eigenen Begrenzungen. Indem wir diese durchbrechen und zu unserem Wesenskern und zur wahren Erkenntnis durchdringen, lösen wir auch die Begrenzungen der einzelnen Sinnesorgane. In der Folge sind wir in allen Bereichen der Sinneswahrnehmung zu unbegrenzter (die alltägliche und natürliche übersteigende) Wahrnehmung fähig. 

3.37 Diese übernatürlichen Kräfte sind Hindernisse für die, welche in samadhi sind, für die in aktivem Zustand (den „Normalsterblichen”) erscheinen sie als Vollkommenheiten.

ते समाधावुपसर्गा व्युत्थाने सिद्धयः॥३७॥

Te samādhāvupasargā vyutthāne siddhayaḥ||37||

  • te: jene
  • samādhau: in der Einheitserfahrung, für die, in dieser Einheit
  • upasargah, Bruch, Unterbrechung, Störung
  • vyutthāne: in wachem Zustand, in aktivem Zustand
  • siddhi: Vollkommeneit, Erlangung, wunderbare Kräfte, übersinnliche Fähigkeiten

Für einen Normalsterblichen klingen all diese Kräfte erstrebenswert, doch sie können auch zu Hindernissen werden. Indem wir sie nämlich zu sehr verklären und an ihnen haften, binden Sie uns wieder zurück und versperren den Weg zu wirklicher Klarheit und Offenheit. Wir vergessen dann gerne, das diese Kräfte nur ein Etappenziel und nicht das wirkliche Ziel sind. 

Kapitel 3, Vers 38: Wenn die Ursache der Bindung an den physischen Körper sich löst und die Bewegungen des Bewusstseins erkannt werden, ist es möglich, in andere Körper einzugehen.

बन्धकारणशैथिल्यात्प्रचारसंवेदनाच्च चित्तस्य परशरीरावेशः॥३८॥

Bandhakāraṇaśaithilyātpracārasaṁvedanācca cittasya paraśarīrāveśaḥ||38||

  • bandha: Bindung
  • kārana: Ursache
  • saithilya: Lockerung
  • pracāra: Bewegung, Gänge, Wandeln
  • samvedanat: Erkennen, Bewusstwerden, durch richtiges Verstehen
  • ca: und
  • citta: Geist, „Mind“, Gemüt, Bewusstsein, innerer Wahrnehmungsraum
  • para: anders, andere
  • sarīra: Lein, physischer Körper
  • āvesa: eintreten

Wer es schafft, alles loszulassen und sich von seinem Körper zu lösen, wer die Bewegungen seines Bewusstseins erkennt, dem steht alles offen, er kann sogar in einen anderen Körper eingehen. Das ist wohl das, was wir „Seelenwanderung” nennen würden. Oder aber es ist das, was nach dem Tod mit der Seele geschieht: Sie geht in einen neuen Körper ein. Durch die Lösung der Bindung an den eigenen Körper ist dieses Eintauchen in einen anderen Körper aber schon zu Lebzeiten möglich. 

Kapitel 3, Vers 39: Durch Kontrolle des aufsteigenden Atems kann man durch Wasser, Schlamm oder Dornen gehen, ohne davon berührt zu werden und man kann sogar kann darüber hinausschreiten (den Körper verlassen).

उदानजयाज्जलपङ्ककण्टकादिष्वसङ्ग उत्क्रान्तिश्च॥३९॥

Udānajayājjalapaṅkakaṇṭakādiṣvasaṅga utkrāntiśca||39||

  • udāna (vayu) aufsteigende Energie, im Kehlbereich wirkender Teil von prana
  • jaya: Besiegen, Meisterschaft
  • jala: Wasser
  • panka: Sumpf, Moor
  • kantaka: Dorn
  • ādisu: und so  weiter
  • asangah: ohne Haftung, nicht anhängend
  • utkrāntih: Hinausschreiten, aufsteigen
  • ca: und

Der aufsteigende Atem bewirkt ein Überwinden der Trägheit, es entsteht eine große Leichtigkeit. Wenn man diesen aufsteigenden Atem kontrollieren kann, ist es möglich, durch die so gewonnene Leichtigkeit über Wasser, Schlamm und durch Dornen zu gehen und sie dabei nicht zu berühren.

Kapitel 3, Vers 40: Durch Kontrolle der Verdauungskraft entsteht ein inneres Feuer.

समानजयाज्ज्वलनम्॥४०॥
Samānajayājjvalanam||40||

  • samāna: Verdauungsenergie, der Teil von prana, der im Verdauungsbereich wirkt
  • jayat: Kontrolle, Meisterschaft
  • jvalanam: Feuer, Glut

In der Magenmitte ist der Samana Vayu lokalisiert, welcher für die Verdauung zuständig ist. Indem man ihn unter Kontrolle hat, entfacht man ein inneres Feuer, welches von Schlacken und Schlamm befreit. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Lebenskraft. 

Kapitel 3, Vers 41: Durch Meditation auf die Beziehung zwischen dem Gehörsinn und Raum (in welchem ein Klang erklingt) erlangt man ein göttliches Gehör.

श्रोत्राकाशयोः सम्बन्धसंयमाद्दिव्यं श्रोत्रम्॥४१॥

Śrotrākāśayoḥ sambandhasaṁyamāddivyaṁ śrotram||41||

  • srotra: Hören, Gehör
  • ākāsa: Raum, All, Äther
  • sambandha: Verbindung
  • samyama: Sammlung, Zusammenhalten (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • divyam: göttlich
  • srotram: Gehör

Ein Laut erklingt immer in einem Raum, wo er durch unseren Gehörsinn wahrgenommen wird. Indem man auf die Beziehung zwischen dem Gehörsinn und dem Raum, in welchem ein Klang erklingt, meditiert, erhält man die Kontrolle über das Element Luft, da diese den Klang als Welle zu unserem Gehörsinn trägt. Dadurch erhält man ein göttliches Gehör. 

Kapitel 3, Vers 42: Durch die Sammlung auf die Beziehung zwischen dem Körper und dem leeren Raum (Äther) und auf die Eigenschaft der Leichtigkeit von Baumwolle erlangt man die Fähigkeit, sich frei im Raum zu bewegen.

कायाकाशयोः सम्बन्धसंयमाल्लघुतूलसमापत्तेश्चाकाशगमनम्॥४२॥

Kāyākāśayoḥ sambandhasaṁyamāllaghutūlasamāpatteścākāśagamanam||42||

  • kāya: Körper
  • ākāsa: Raum, Äther
  • sambandha: Verbindung
  • laghu: leicht
  • tūla: Baumwolle
  • samāpatti: Einswerdung mit dem Gegenstand der Kontemplation, Zusammenfallen, tiefe Erkenntnis
  • ca: und
  • ākāsa: Raum, Äther
  • gamanam: Gehen, Bewegung

In Sutra 3.24 schrieb Patanjali, dass durch die Meditation auf einen Elefanten dem Meditierenden dessen Kräfte erwachsen. Hier geschieht etwas Ähnliches, indem die Sammlung auf den Körper im Raum und die Meditation auf die Leichtigkeit einer Baumwollfaser der Körper deren Leichtigkeit übernimmt und in der Folge fähig ist, frei im Raum zu schweben. 

Kapitel 3, Vers 43: Wenn das Bewusstsein die körperlichen Grenzen durchdringt, lüften sich die Schleier über dem inneren Licht und der Wesenskern wird sichtbar.

वहिरकल्पिता वृत्तिर्महाविदेहा ततः प्रकाशावरणक्षयः॥४३॥

Vahirakalpitā vṛttirmahāvidehā tataḥ prakāśāvaraṇakṣayaḥ||43||

  • bahis: außen
  • akalpita: Vorstellung, die das Objekt durchdringt bis zu seiner Essenz
  • vrtti: Beschäftigung, Tätigkeit, Aufregung, Zustand, Erregung des Geistes
  • mahā: groß
  • videha: körperlos
  • tatah: dann
  • prakāsa: Licht, Erleuchtung
  • avarana: Verschleierung
  • ksayah: Vernichtung

Dieses Sutra übersteigt das letzte noch um eine Stufe. Schwebte man da noch mit den Füßen über dem Boden, verlässt man nun die Körperlichkeit und tritt aus dieser heraus. Dadurch verschwinden die Begrenzungen desselben und die Wahrnehmung wird vollkommen klar und frei. In diesem Zustand ist unsere Wahrnehmung nicht mehr durch all die Erinnerungen, Prägungen und Beeinträchtigungen des Geistes gefärbt, sondern unmittelbar. 

Kapitel 3, Vers 44: Durch die Sammlung auf die grobe und feine Gestalt, die grundlegende Wesensnatur, die Zusammensetzung und die Funktion der Elemente erlangt man Beherrschung über die materielle Welt.

स्थूलस्वरूपसूक्ष्मान्वयार्थवत्त्वसंयमाद्भूतजयः॥४४॥

Sthūlasvarūpasūkṣmānvayārthavattvasaṁyamādbhūtajayaḥ||44||

  • sthūla: grob, grobstoffliche Komponenten eines Objekts 
  • svarūpa: eigene Form, Identität
  • sūksma: subtil, fein
  • anvaya: Verbindung
  • arthavatta: Bedeutung, Wichtigkeit, Sinn, Funktion
  • samyama: Sammlung, Zusammenhalten (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • bhūta: grobstoffliche Elemente
  • jaya: Sieg, Meisterschaft

Materie ist immer eine Zusammensetzung von Elementen, die sich in ihren Erscheinungsformen unterscheiden, aber in einer Beziehung zueinander stehen. Elemente können grob oder fein sein, sie können unterschiedliche Funktionen haben und verschiedene Zusammensetzungen. Indem wir über all das meditieren, gewinnen wir ein tiefes Verständnis der Materie, welches uns befähigt, diese zu kontrollieren. 

Konkret kann man das so verstehen, dass wenn wir zum Beispiel über unseren Körper meditieren, über seine Zusammensetzung aus Elementen, über die Beziehungen zwischen den Organen, über die Stoffwechsel und ihre Funktionen, können wir den Körper unter unsere Kontrolle bringen. 

Kapitel 3, Vers 45: Dadurch entstehen die übernatürlichen Fähigkeiten, wie den Körper atomklein zu machen und so weiter. Der Körper kommt zur Vollkommenheit und ist durch den natürlichen Verfall nicht mehr gestört. 

 ततोऽणिमादिप्रादुर्भावः कायसम्पत्तद्धर्मानभिघातश्च॥४५॥

Tato'ṇimādiprādurbhāvaḥ kāyasampattaddharmānabhighātaśca||45||

  • tatah: daraus
  • animā: Atom, Feinheit
  • ādi: und so weiter
  • animādi: bezieht sich auf die acht großen Fähigkeiten (siddhi): extrem klein oder groß, extrem schwer oder leicht werden, das Entfernteste erreichen, den eigenen Willen durchsetzen, Macht über Objekte gewinnen, ihre Entstehung und ihr Verschwinden kontrollieren
  • prādurbhāvah: erscheinen
  • kāya: Körper
  • sampat: glücken, gelingen, vervollkommnen
  • tat: dessen
  • dharma: kosmische Ordnung, ewiges Gesetz, Natur, Pflicht
  • anabhighātah: nicht betroffen, nicht angreifbar
  • ca: und

Durch dieses umfassende Verständnis und die damit einhergehende Kontrolle des Körpers sind wir in der Lage, diesen nach unseren Vorstellungen zu verändern. Es ist nun in unserer Macht, den Körper zur Vollkommenheit zu bringen, die auch durch den natürlichen Verfall nicht gestört wird. 

Kapitel 3, Vers 46: Die Vollkommenheit des Körpers besteht in der Schönheit seiner Form, seiner Ausstrahlung, der Entwicklung von Kraft und gesteigerter Widerstandsfähigkeit.

रूपलावण्यबलवज्रसंहननत्वानि कायसम्पत्॥४६॥

Rūpalāvaṇyabalavajrasaṁhananatvāni kāyasampat||46||

  • rūpa: Form, Schönheit
  • lāvanya: Anmut, Ausstrahlung
  • bala: Kraft
  • vajra: Diamant, Härte, Widerstandskraft
  • samhananatvāni: Festigkeit, Unschlagbarkeit
  • kāya: Körper
  • sampat: glücken, gelingen, vervollkommnen

In den letzten Sutras haben wir erfahren, wie wir den Körper zur Vollkommenheit bringen, hier ist nun die Definition dessen, was einen vollkommenen Körper auszeichnet: Schönheit, Kraft, Ausstrahlung und Widerstandsfähigkeit. 

Kapitel 3, Vers 47: Durch Sammlung auf die Sinne der Wahrnehmung, den eigenen Wesenskern und das Ich-Bewusstsein sowie die Beziehung dieser drei erlangt man die Beherrschung der Sinne.

ग्रहणस्वरूपास्मितान्वयार्थवत्त्वसंयमादिन्द्रियजयः॥४७॥

Grahaṇasvarūpāsmitānvayārthavattvasaṁyamādindriyajayaḥ||47||

  • grahana: Mittel der Wahrnehmung
  • svarūpa: eigene Form, Wesenskern
  • asmitā: Ich-heit, Ichbewusstsein
  • anvaya: Zusammensetzung, Verbindung
  • arthavattva: Bedeutung, Zweckhaftigkeit, Sinn
  • samyamat: durch die Sammlung (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • indriya: Sinnesorgane
  • jaya: Sieg, Meisterschaft

Wahrnehmung findet dann statt, wenn sich die Sinne, der Gegenstand der Wahrnehmung und der Geist (Ich-Bewusstsein) miteinander verbinden. Indem ich mich auf meinen eigenen Wesenskern besinne, ihn in Beziehung mit den Sinnen und meinem Ich-Bewusstsein bringe durch Meditation, kann ich lernen, meine Sinne zu beherrschen. Sie sind dann nicht mehr durch Prägungen und äußere Reize getrübt, sondern nehmen die Dinge klar wahr. 

3.48 Daraus entsteht Schnelligkeit des Geistes, eine von den Sinnen losgelöste Wahrnehmung und die Beherrschung der Urnatur.

ततो मनोजवित्वं विकरणभावः प्रधानजयश्च॥४८॥

Tato manojavitvaṁ vikaraṇabhāvaḥ pradhānajayaśca||48||

  • tatah: daraus
  • manas: Geist, Denkprinzip
  • javitvam: Schnelligkeit
  • vikarana: ohne Organe
  • bhāva: Qualität, Status, Zustand
  • pradhāna: Urnatur
  • jaya: Sieg
  • ca: und

Durch die Beherrschung der Sinne beschränken diese den Geist nicht mehr, es entsteht eine Unabhängigkeit von der Natur der Dinge, was bedeutet, dass man deren Veränderungen nicht mehr unterworfen ist. 

Wie wir weiter oben sahen, ändern die Elemente der Natur, die drei Gunas, ständig ihre Zusammensetzung, ihr Verhältnis untereinander. Im Alltag sind wir diesen Veränderungen unterworfen, sie prägen unser Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Sein. Unser Geist ist im alltäglichen Zustand den Sinnen unterworfen, indem er allem, was diese wahrnehmen, hinterherrennt, aber auch davon gebremst wird – je nachdem, welches Element gerade vorherrscht, welche Prägung aktiv ist. Indem man die Kontrolle über seine Sinne erlangt, kehrt sich das um. Nun sind nicht mehr die Sinne dem Geist vorgestellt, sondern dieser kann sich von diesen lösen. Nun ist der Geist frei und die Wahrnehmung ungetrübt von den sich ständig verändernden Elementen der Natur und den dieser unterworfenen Sinnesorganen. 

Kapitel 3, Vers 49: Wer den Unterschied zwischen dem meinenden und dem wahren Selbst erkennt, gelangt zur Meisterschaft über alles und zu umfassender Weisheit.

सत्त्वपुरुषान्यताख्यातिमात्रस्य सर्वभावाधिष्ठातृत्वं सर्वज्ञातृत्वं च॥४९॥

Sattvapuruṣānyatākhyātimātrasya sarvabhāvādhiṣṭhātṛtvaṁ sarvajñātṛtvaṁ ca||49||

  • sattva: Sein, das meinende Selbst
  • purusa: inneres Selbst, Wesenskern
  • anyatā: Unterschied, verschiedenheit
  • khyāti: Vorstellung, Erkenntnis, Schau
  • mātrasya: nichts als, rein
  • sarva: alles
  • bhāva: zustand, Sein
  • adhisthātrtvam: Herrschaft, Meisterschaft
  • sarva: alles
  • jñātrtvam: Wissen, Verständnis, Weisheit
  • ca: und

Unser Alltagsverständnis ist von Meinungen bestimmt. Wir stehen als die, welche wir sind, im Leben und nehmen die Welt aus unserem So-Sein heraus wahr. Erst wenn wir erkennen, dass dieses So-Sein eine geprägte und durch diese Prägung auch beschränkte Form unseres Wesens ist, und wir diese Form vom wahren Wesenskern unterscheiden können, welcher verbunden ist mit der allumfassenden Weisheit, erkennen wir sowohl die Beschränktheit unserer Meinungen sowie die allumfassende Weisheit des Seins. 

Kapitel 3, Vers 50: Wer selbst auf diese Vollkommenheit verzichtet, zerstört alle Keime der Unreinheit und gelangt zu völliger Freiheit.

तद्वैराग्यादपि दोषवीजक्षये कैवल्यम्॥५०॥

Tadvairāgyādapi doṣavījakṣaye kaivalyam||50||

  • tad: diese (Fähigkeiten)
  • vairāgya: Gleichmut, Gelassenheit, Loslassen
  • api: sogar
  • dosa: Unreinheit, Makel
  • bīja: Wurzel, Keim, Same
  • ksaya: Rückgang, Zerstörung
  • kaivalya: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Für-sich-Sein

Nun könnte man meinen, damit sei der Höhepunkt des Möglichen erreicht, der Zugang zur Weisheit sei zugleich die Erleuchtung und damit die Erlösung. Das Anhaften an diesen Zustand jedoch ist der letzte Keim, der uns noch hält. Wenn wir den auch noch loslassen, wenn wir nach nichts mehr streben, nichts mehr wollen, nicht mal die höchste Erkenntnis, dann sind wir wirklich frei. 

Kapitel 3, Vers 51: Selbst wenn er von Hochgestellten eingeladen wird, soll der Yogi weder davon berührt noch hochmütig sein, denn dies könnte wieder unerwünschte Folgen haben.

स्थान्युपनिमन्त्रणे सङ्गस्मयाकरणं पुनरनिष्टप्रसङ्गात्॥५१॥

Sthānyupanimantraṇe saṅgasmayākaraṇaṁ punaraniṣṭaprasaṅgāt||51||

  • sthāni: hochstehend, herausragend
  • upa: nahe
  • nimantrane: Einladung
  • sanga: Anhaftung, Kontakt
  • smaya: Hochmut, Selbstgefälligkeit
  • akaranam: nicht annehmen, ohne Handlung
  • punar: wieder
  • anista: unerwünscht
  • prasanga: hingeben

Jede Auszeichnung, über die wir uns erhoben fühlen, jede Zuwendung, von der wir uns etwas versprechen oder auf die wir hoffen, bindet uns an dieses Dasein mit all seinen Beschränkungen, Irrtümern und allem Leid. Natürlich sind Erfolge schön und wir dürfen sie genießen. Wenn wir uns aber davon abhängig machen oder uns daran ausrichten, führen sie einen zurück zum Leiden. Erst das Loslassen jeglichen Haftens an Anerkennung führt zur Befreiung aus jenem Kreislauf des Lebens, der immer wieder neu zum Leid hinführt. 

Kapitel 3, Vers 52: Wendet man die Sammlung auf die einzelnen Momente und ihre Abfolge, führt das zu Erkenntnis, die aus der Unterscheidungskraft entstanden ist.

क्षणतत्क्रमयोः संयमाद्विवेकजं ज्ञानम्॥५२॥

Kṣaṇatatkramayoḥ saṁyamādvivekajaṁ jñānam||52||

  • ksana: Moment, Augenblick
  • at: dessen
  • kramayoh: Stufe, Folge, Reihenfolge
  • samyama: Sammlung (die drei letzten Glieder des achtstufigen Pfades)
  • vivekayam: aus der Unterscheidungskraft entstanden
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Hier kommt die Zeit ins Spiel. In unserem Alltagsbewusstsein fließt sie dahin, ein Augenblick folgt dem nächsten, entsteht aus diesem. Indem wir uns aber auf einen einzelnen Moment ausrichten, erkennen wir in ihm die Ewigkeit, die in jedem Moment steckt, in welchem wir vollkommen präsent sind. In dem Moment gibt es kein Gestern und kein Morgen, das existiert nur, wenn wir aus dem einzelnen Moment wieder auftauchen. Die Meditation auf diesen Umstand eröffnet uns den wahren Zugang zur Zeit und zur Ewigkeit. 

Kapitel 3, Vers 53: Eine daraus entstandene Wahrnehmung kann sogar zwischen zwei Dingen unterscheiden, die aufgrund ihrer Art, der Merkmale und des Ortes ihres Auftretens gleich erscheinen.

जातिलक्षणदेशैरन्यतानवच्छेदात्तुल्ययोस्ततः प्रतिपत्तिः॥५३॥

Jātilakṣaṇadeśairanyatānavacchedāttulyayostataḥ pratipattiḥ||53||

  • jāti: Art, Spezies
  • laksana: Merkmal, Eigenschaft
  • desaih: Ort, Platz des Erscheinens
  • anyatā: unterschiedlich, verschieden
  • anavacchedat: unbestimmt
  • tulyayoh: gleich, ähnlich
  • tatah: daraus
  • pratipattih: Wahrnehmung, Erkennen

Manchmal reagieren wir auf Situationen aus einer Erfahrung der Vergangenheit heraus, nicht der aktuellen Situation angemessen. Diese Reaktion ist ein unbewusster Affekt, welcher sich den tatsächlichen Gegebenheiten gegenüber verschließt. Indem wir unser Bewusstsein schulen und lernen, im Moment zu sein, lernen wir, Dinge zu unterscheiden, die auf den ersten Blick gleich auszuschauen scheinen. Wir lernen, auf die aktuelle Situation einzugehen, weil wir sie wirklich wahrnehmen, statt im Affekt zu reagieren. 

Kapitel 3, Vers 54: Eine auf diese Weise erlösende Erkenntnis, die alles zum Gegenstand hat und es in all seinen Aspekten begreift, entsteht nicht stufenweise, sondern spontan aus der Unterscheidungskraft heraus.

तारकं सर्वविषयं सर्वथाविषयमक्रमं चेति विवेकजं ज्ञानम्॥५४॥

Tārakaṁ sarvaviṣayaṁ sarvathāviṣayamakramaṁ ceti vivekajaṁ jñānam||54||

  • tārakam: klar, transzendent, erlösend
  • sarva: alles
  • visayam: Gegenstand, Situation, Erfahrung
  • sarvathā: zu jedem Zeitpunkt
  • visayam: Gegenstand, Situation, Erfahrung
  • akramam: ohne Abfolge
  • ca: und
  • iti: so
  • vivekajam: aus der Unterscheidungskraft entstanden
  • jñāna: Kenntnis, Wissen

Wenn wir so weit gekommen sind, ist unsere Unterscheidungskraft so weit geschult, dass es uns spontan gelingt, angemessen zu reagieren, wir müssen das nicht stufenweise herbeiführen. 

Kapitel 3, Vers 55: Wenn Reinheit und Gleichheit von meinendem und höherem Selbst realisiert sind, entsteht völlige Freiheit.

सत्त्वपुरुषयोः शुद्धिसाम्ये कैवल्यमिति॥५५॥

Sattvapuruṣayoḥ śuddhisāmye kaivalyamiti||55||

  • sattva: Sein, meinendes Selbst
  • purusa: Geistseele, höchstes geistiges Prinzip, umfassende Seele
  • suddhi: Reinheit, Reinigung
  • sāmye: Gleichheit, Ähnlichkeit
  • kaivalya: Erlösung, Befreiung, Losgelöstheit, Für-sich-Sein
  • iti: so

An diesem Punkt hat sich das meinende Selbst dem höheren angeglichen, es widerspiegelt es. Nun sind wir gänzlich frei von Prägungen, Mustern und Begrenzungen, und damit frei von Leid, das durch diese immer wieder entsteht. 


Quellen:

  • T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali.
  • Ralph Skuban: Patanjalis Yogasutra.
  • B.K.S. Iyengar: Der Urquell des Yoga. Die Yoga-Sutras des Patanjali.
  • R. Sriram: Patanjali. Das Yogasutra.
  • Jaganath Carrera: Inside the Yoga Sutras.
  • Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patanjali.
  • P.Y. Despande (Hrsg.), Bettina Bäumer (Übersetzung): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga.
  • Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Weisheit leben.
  • Eckard Wolz-Gottwald: Die Yoga-Sutras im Alltag leben.
  • Anna Trökes: Die kleine Yoga-Philosophie.
Sandra von Siebenthal
Sandra von Siebenthal

Sandra von Siebenthal ist Autorin und Philosophin. Meist steckt sie ihre Nase in Bücher, über die sie dann schreibt, oder sie denkt sich selbst Geschichten aus. Den Kopf lüftet sie beim Kritzeln von witzigen Hühnerskizzen.