
Ecstatic Dance & Co.: Tanz mit dem Leben
Es ist die Magie des Moments, wenn in einem Raum viele Welten gleichzeitig zum Ausdruck kommen: In einer Ecke rollt sich jemand lachend über den Boden, auf der anderen Seite des Raums schauen sich zwei Menschen tief in die Augen. Im Zentrum steht jemand still mit geschlossenen Augen, während drum herum verschwitzte Leute wild springen und tönen...
Es gibt nicht viele Orte, an denen du deinen eigenen Impulsen so frei folgen kannst wie beim achtsamen freien Tanzen. Wahrscheinlich liegen solche Conscious Dance Events – so der Überbegriff – genau deshalb im Trend. Immer mehr Menschen zieht es zu Veranstaltungen wie Ecstatic Dance, 5Rhythmen oder Trance Dance. Darunter auch viele Yoginis und Yogis. Manche sind neugierig, andere suchen nach Verbindung, wollen sich selbst spüren oder einfach nüchtern feiern.
„Im Kern ist Conscious Dance ein Selbsterfahrungsraum, in dem vieles möglich ist und alles da sein darf“, sagt Arati Jericho, Facilitator von Ectstatic Dance Events im Allgäu. „Beim Tanzen können wir alle Masken, Normen und Erwartungen loslassen und für einen kurzen Zeitraum einfach sein.“ Seit fünf Jahren bietet Arati seine Dances an. Zu Beginn kamen 20, manchmal 30 Leute. Heute sind es regelmäßig mehr als hundert. Er sieht einen klaren Trend hin zum achtsamen Barfußtanzen, denn in unserer doch ziemlich konformen und vom Verstand dominierten Gesellschaft berührt es auf
einfache und spielerische Weise etwas Tiefes in uns: „Menschen suchen nach Lebendigkeit, nach einem Gefühl von Freiheit und Gemeinschaft.“
Was ist Ecstatic Dance und wie läuft ein Ecstatic Dance Event ab?
Bild: Lucas Saccon
Conscious Dance ist heute ein Überbegriff für verschiedene Formate des freien Tanzens. Darunter zählen zum Beispiel Ecstatic Dance, 5Rhythmen, Movement Medicine, Contact Impro, Trance Dance oder Biodanza. Einige davon stellen wir dir weiter unten vor. Was alle vereint, ist der authentische Ausdruck durch Bewegung zur Musik und die Hinwendung zum Körper.
Vom Rahmen her unterscheiden sich die Formate. Bei manchen geht es mehr um den Kontakt zum Selbst, bei anderen um Interaktion. Mal gibt es viel, mal minimalen Input von außen. Gemeinsam haben die meisten Conscious Dance-Veranstaltungen, dass der Raum mit einem Warm Up eröffnet und einer Ruhe- oder Integrationsphase geschlossen wird.
Die Musik spielt immer eine zentrale Rolle und die DJs und DJanes variieren Tempo, Stil und Intensität, um verschiedene emotionale und energetische Zustände zu unterstützen. Die Musik soll inspirieren, aber nicht forcieren. Mit Überraschungen, einer Dramaturgie, mit Feingefühl und Humor wird eine Geschichte erzählt und eine Reise kreiert.
Freies Tanzen wie beim Ecstatic Dance liegt im Trend, ist aber trotzdem nichts neues. Tanz ist schon immer fester Teil des Lebens in Gemeinschaft. In vielen Kulturen und spirituellen Traditionen wurde Tanz als Mittel genutzt, um tranceähnliche Zustände zu erzeugen und die Gemeinschaft zu stärken, etwa in schamanischen Tänzen oder dem Drehritual der Sufi-Derwische.
Wenn wir uns das alte Ritual des Tanzens auf moderne Weise wieder zugänglich machen, braucht es Feingefühl, um die Erfahrung nicht zum Konsumprodukt werden zu lassen. „Wichtig ist, dass die lunaren (Mond-, Anm. der Redaktion) und solaren (Sonnen-, Anm. der Redaktion) Energien balanciert sind und beide zusammengebracht werden. Prana und Apana, wenn du so willst“, sagt Oliver Euchner, 5Rhythmen-Lehrer in Berlin, der von Tanzpionierin Gabrielle Roth selbst in New York gelernt hat. Für ihn bedeutet Conscious Dance im Hier und Jetzt auch dem in uns Raum zu geben, was eng oder nicht so leicht zu fühlen ist. „Es geht nicht nur um das High, den ekstatischen Wow-Moment – das Loslassen nach unten muss auch dabei sein.“ Ähnlich wie beim Yoga können wir üben, innere Körperbewegungen nichts so schnell zu interpretieren oder ihnen anzuhaften, Dingen beizuwohnen, die wir vielleicht sonst schnell als Schmerz bezeichnen, und offen zu bleiben, so Oliver.
Conscious Dance kann also nicht nur richtig Laune machen, sondern hat auch viel Potenzial für Persönlichkeitsentwicklung. Außerdem kann es sich positiv auf die mentale Gesundheit auswirken, wie eine Studie der University of California belegt. Über 90 Prozent der rund 1.000 Befragten gaben an, Conscious Dance verbessere ihre Stimmung und helfe ihnen, sich ihrer Gefühle bewusster zu werden. Tanzen unterstütze sie dabei, belastende Gedanken loszulassen und gebe ihnen mehr Selbstvertrauen und Mitgefühl.
In der Freiheit gehalten sein
Bild: Franziska Messner
Damit all das möglich ist, braucht es Sicherheit. Einen klaren Rahmen, der beim freien Tanzen über die Anleitung des Facilitators und über Guidelines entsteht, die das Loslassen in der Gruppe überhaupt erst möglich machen. Räume wie Ecstatic Dance oder 5Rhythmen sind ein alkohol- und drogenfreier Raum. Es wird nicht gesprochen und auch Handys bleiben in der Tasche. Getanzt wird barfuß und ohne Bewertungen. Ganz wichtig ist Consent. Wer mit einem anderen Menschen in Kontakt gehen will, wartet auf eine klare Einladung über eine Geste oder Augenkontakt. „Um Vertrauen und Sicherheit zu schaffen, appelliere ich auch an die Bewusstheit, die in jedem Menschen inhärent ist“, sagt Oliver. „Spüre deine eigene Empfindsamkeit.“
Es ist gerade auch der soziale und gemeinschaftliche Aspekt, der Conscious Dance für viele so attraktiv macht. Zusammenkommen mit dem eigenen Tribe, mit Leuten, die ähnlich ticken wie man selbst. Dabei ist vieles möglich, aber nichts muss. Arati nimmt eine große Sehnsucht vieler Menschen nach Berührbarkeit in unserer heutigen Welt mit Krieg, Inflation oder Klimawandel wahr. „Wir leben in einer sehr intensiven Zeit. Darum haben viele eine gewisse gesunde Schutzschicht entwickelt, um das halten zu können.“ Gleichzeitig werden Kontakte sehr schnelllebig und oberflächlich. Es fehle oft Tiefe und wirkliche Nähe zu sich selbst und zu anderen Menschen. „Es gibt bestimmte Räume wie Ecstatic Dance, die möglich machen, wieder berührbar und berührt zu werden. Es ist ein schöner, leichter Zugang dazu, ein erster Schritt wieder hin zu sich selbst und zur Gemeinschaft.“
So sieht es auch Marius Beyer, Veranstalter der erfolgreichen Ecstatic Dance-Events in Hamburg: „Ich glaube, die Bewegung wächst deswegen so schnell, weil die Menschen ein großes Bedürfnis nach authentischer und herzlicher Begegnung haben, besonders zu Zeiten immer stärkerer digitaler Blasenbildung und gesellschaftlicher Vereinzelung. Wir Deutschen sind häufig sehr verklemmt und steif, wenn es darum geht, Gefühle zu zeigen. Aber eigentlich sehnen wir uns danach, so gesehen und angenommen zu werden, wie wir in Wirklichkeit sind. Und die Gemeinschaft, der Tribe, beim Ecstatic Dance ermöglicht genau das.”
Die bekanntesten Formate zum Freitanzen
Bild: Franziska Messner
Dich zieht es auf die Tanzfläche? Hier stellen wir dir einige der bekanntesten Formate des freien Tanzens kurz vor. In den meisten deutschen Großstädten findest du mittlerweile Events dazu.
5Rhythmen
5Rhythem wurde als meditative und dynamische Praxis von Tanzpionierin und Musikerin Gabrielle Roth in den 70ern in den USA entwickelt. Dabei wird durch fünf Wellen oder Bewegungsphasen mit verschiedenen Qualitäten getanzt: Fließend, Stakkato, Chaos, Lyrisch und Stille. Der Körper wird dabei zum Ausdrucksmittel fundamentaler Energien, die in der Natur und im Menschen zu finden sind. „Es ist eine ästhetische und gleichzeitig authentische Art, Teile von dir selbst wahrzunehmen und ihnen auf kreative Weise Ausdruck zu geben – auf eine ganz großzügige Art“, sagt Oliver.
Ecstatic Dance
Ecstatic Dance, wie wir ihn heute kennen, ist eine lebendige Fusion verschiedener Einflüsse und je nach Facilitator und DJ:ane mal mehr spirituell oder mal eher achtsame Party. Die Guidelines schaffen den sicheren Raum für den freien Ausdruck. Ecstatic Dance entstand um die Jahrtausendwende angelehnt an die 5Rhythmen. So soll Mark Fathlom sie auf Hawaii mit Elektromusik kombiniert haben und von hier wuchs die Ecstatic Dance Community über die USA weiter über Städte wie Amsterdam oder Berlin.
Trance Dance
Beim Trance Dance wird mit verbundenen Augen und einer klar definierten Intention getanzt. Dabei geht es primär um den Tanz mit dir Selbst, auch wenn Trance Dance im Gruppensetting stattfindet. Durch verschiedene Rhythmen der Musik, den bewussten Einsatz des Atems und die verbundenen Augen wird der Zugang zur Intuition und dem inneren Wissen möglich. Das Trance Dance Ritual hat seine Ursprünge im Schamanismus, seine moderne Form bekam er von Frank Natale in den 1960er Jahren.
Contact Improvisation
Bei Contact Impro geht es um Begegnung: Zwei oder mehr Menschen schauen, was aus dem Moment heraus im Tanz entstehen will. Hier werden Möglichkeiten der Bewegung und des Ausdrucks des Körpers erforscht, wobei absichtslose Achtsamkeit zentrales Prinzip ist. Bei einem „Contact Jam“ wird gerollt, geklettert, mit Gewicht, Kontakt, Schwerkraft und Balance gespielt. CI wurde in den 70ern von einem Künstler*innenkollektiv um Steve Paxton in New York aus Modern Dance weiterentwickelt.
Interviewpartner
Arati Jericho
Arati begleitet Menschen auf verschiedene Weise in achtsame Räume der Persönlichkeitsentfaltung. Sein Herz schlägt für das Tanzen, insbesondere als Ecstatic Dance Facilitator, und die Männerarbeit. Mit Leidenschaft nutzt er seine Erfahrungen als Gestalttherapeut i.A., Yogalehrer und Gruppenleiter, um authentische Räume der Selbsterforschung zu schaffen sowie tiefe Verbindungen und Wachstum zu fördern. Mehr über Arati findest du unter breathe-backtolife.com.
Marius Beyer
Marius ist Eco Coach, Ecstatic Dance DJ und Veranstalter von Ecstatic Dances in Hamburg und Umgebung. Darüber hinaus ist er Didgeridoo-Künstler, Kletter-Yogalehrer und hat an der Leuphana Universität Diplom Umweltwissenschaften studiert. Der gebürtige Hamburger ist in einem Dörfchen an der Castor-Transportstrecke aufgewachsen und wurde stark von der Umweltbewegung geprägt. Mehr über Marius uns seine Veranstaltungen findest du unter ecstaticdance.events.
Oliver Euchner
Oliver ist akkreditierter 5Rhythmen-Lehrer. Er wurde in New York City von der 5Rhythmen-Gründerin Gabrielle Roth und ihrem Sohn Jonathan Horan persönlich ausgebildet. Sein Tanzangebot reflektiert stark die Essenz und Verkörperung seiner langjährigen Praxis von Sacred Movements & Meditation (in der direkten, mündlich tradierten Linie von G.I. Gurdjieff) und Ashtanga basiertem Yoga (von Richard Freeman zertifizierter Lehrer). Oliver lebt in Berlin und unterrichtet weltweit. Mehr über Oliver erfährst du unter 5rhythms.com.
Buchtipp:
- Gabrielle Roth: Sweat Your Prayers: The Five Rhythms of the Soul. Movement as Spiritual Practice. Random House N.Y. 1998.