
Embodiment im Yoga: Ganzheitlich ins Vertrauen
Wenn Gewahrsein und Empfindungen zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind, kann Veränderung geschehen.
Peter Levine
Was genau bedeutet Embodiment?
Das Wort Embodiment wird im Deutschen als „Verkörperung” übersetzt. Es beschreibt vereinfacht gesagt die Einheit von Körper und Geist. Forschungen rund um Embodiment beruhen auf der Annahme, dass Körper und Psyche stets in Beziehung zueinanderstehen und ineinandergreifen. Die Grundannahme von Embodiment ist das Wissen darum, dass unser Körper einen immensen Einfluss auf unsere Gedanken, Emotionen und Handlungen hat – ebenso wie die Qualität unserer Gedanken und Emotionen einen immensen Einfluss auf unseren Körper und unsere Gesundheit haben.
Embodiment im Yoga
Wer mit der Yoga-Brille auf den Ansatz des Embodiment blickt, mag sich an dieser Stelle etwas verwundert am Kopf kratzen und sagen: „Ja und? Soweit nichts Neues.“ Aus Sicht des Yoga ist uns das Anliegen gut bekannt, psychische und physiologische Zustände in einem Menschen wieder in einen kohärenten Austausch zu bringen. Der Hatha-Yoga, auf den ich mich in diesem Artikel beziehe, verwebt Asanas (Körperhaltungen), Pranayama (Atemübungen), Bandhas (Energietore), Mudras (Handgesten) und Mantras (Energieworte), sowie spirituelle Philosophie miteinander. Durch Asanas werden die Chakren (Energiezentren) zwischen dem physischen und feinstofflichen Körper wieder geöffnet, um den menschlichen Geist und die Psyche zu beeinflussen.
Wer den Yoga lehrt und ausübt weiß: Alle Übungen haben das Anliegen, Prana, die vitale Lebenskraft, zu lenken und bewusst zu kontrollieren. Prana, welches vergleichbar ist mit Chi aus der Chinesischen Medizin, gilt als höchste Lebenskraft und Lebensatem. Es durchzieht den ganzen Körper in Energiekanälen, Nadis genannt, die verantwortlich sind für die gesunde Aktivität jeder einzelnen Zelle im Körper. Swami Satyananda Saraswati schreibt in seinem Grundlagenwerk „Asana Pranayama Mudra Bandha”, dass der Körper und der Geist nicht getrennt voneinander existieren, sondern eine Einheit darstellen und durch die Praxis von Asanas harmonisiert werden. Der Swami stellt fest: Jede psychische Spannung hat eine entsprechende muskuläre Spannung – und vice versa (vgl. Swami Satyananda Saraswati, 1969). Jeder, der den Yoga liebt und sich öfter auf der Matte wiederfindet, weiß um diese verkörperte Wahrheit: Nach dem Yoga fühlt man sich einfach besser – der Kopf ist ruhiger, der Körper freier, das Herz weiter.
Der Yoga schenkt uns eine verkörperte Perspektive und ein tiefes Wissen, das in der westlichen Welt (bis heute) Zeit braucht, um grundlegend anerkannt zu werden. Man könnte auch sagen: Der Yoga war (und ist) der westlichen Welt voraus, die nach wie vor um die wissenschaftliche Beweisführung von Embodiment (Einheit von Körper und Geist) ringt. Ein Grund dafür ist, dass im Zuge der Christianisierung der Geist als höher angesehen wurde als der Körper, der als minderwertig galt. Als eine Folge gab es in Europa viele Jahrhunderte lang keine nennenswerten Therapien, die von einer Körper-Geist-Seele-Einheit ausgingen (vgl. Gattnar, 2018).
Im Video „Embody the Pulse of Life” führt dich Stine Lethan durch eine fließende Embodiment-Sequenz, die dich mit intuitiver Bewegung von Blockaden in der Wirbelsäule befreit:
Ursprünge des Embodiment in Bewegungs- und Körpertherapien
In der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm eine Wieder-Entdeckung des Atems ebenso wie eine neue Form der Körpergewahrsamkeit ihren Anfang. In dieser Zeit des Expressionismus spielte Rhythmus eine tragende Rolle: Rhythmus war ein essentielles Element in der Atemtherapie, im Ausdruckstanz, in der Gymnastik, aber auch in Malklassen. Nennenswert ist hier die Arbeit von Elsa Gindler, die als einer der ersten proklamierte, dass Erfahrung auf der Wahrnehmung von Körper und Seele gründet. Revolutionär war, dass es in ihrem Ansatz der somatischen Körperarbeit keine vorgeschriebenen Ziele gab, sondern nur Impulse zur Bewegung und die individuellen Reaktionen darauf. Ihre Schülerin Charlotte Selver begründete nach ihrer Emigration in die USA die Methode Sensory Awareness. Ein Ansatz, der das Schärfen des Bewusstseins für die eigenen Sinne im Fokus hat, um eine tiefere Verbindung zum eigenen Körper zu entwickeln. Weitere Pioniere auf diesem Gebiet waren Moshé Feldenkrais und Ida Rolf, die ebenso entdeckten, dass Haltung und Bewegung den Zustand eines Menschen ausdrücken. Während Feldenkrais Veränderung über die Funktion erreichen wollte, legte Ida Rolf ihr Augenmerk auf die Struktur und das tiefe Bindegewebe eines Körpers, um die Psyche des Menschen zu beeinflussen (vgl. Gattnar 2018).
Dieses Wiederentdecken des Körpers, des Atems und der Bedeutung von Rhythmus bereitete den Boden für unser heutiges Verständnis von Embodiment in der Bewegungs- und Körperpsychotherapie.
Interview mit Yogalehrerin Stine Lethan: „Es geht nicht um mehr, sondern um tiefer.”
YogaEasy: Du hast dich intensiv mit dem Thema Embodiment beschäftigt und sogar ein Embodiment-Programm für uns entwickelt. Was ist Embodiment für dich?
Stine Lethan: Ich bin Vinyasa-Yoga-Lehrerin und Life Coach und war professionelle Tänzerin. Yoga Embodiment verkörpert genau das, was ich liebe und lebe: Es ist eine ganzheitliche Verschmelzung von Vinyasa Yoga, Elementen aus dem Modern Dance und Konzepten aus dem Life Coaching. Für mich ist es eine Ausdrucksform und Lebenseinstellung mit therapeutischen Ansätzen, die Körper, Geist, Seele und Herz vereint: Organisch ineinander gewobene, fließende Asanas werden durchdrungen von einem ausgewählten psychologischen und spirituellen Thema, das so in der Yogaklasse verkörpert wird. Der Fokus liegt dabei auf der Ausrichtung – in meinem Fall basierend auf den Prinzipien des Anusara Yoga – und auf dem bewussten, heilsamen Atem, der jede Asana, jede Bewegung von Innen und Außen ummantelt. Die Verköperung des Themas wird untermalt und unterstützt von einem atmosphärisch ausgewählten Musikkonzept.
Wie bist du auf Embodiment aufmerksam geworden?
Meine Yogaausbildungen in Berlin und Mysore sind mein Gerüst, mein Fundament und meine Wirbelsäule als Yogalehrerin. Durch die Erfahrungen, die ich mit all den Schüler:innen gemacht habe, habe ich aber nach einigen Jahren des Unterrichtens gespürt, dass ich Yoga mit meinen eigenen Inspirationen befruchten möchte. Yoga mit Tanz, Philosophie, Kunst, Psychologie und Coaching, Poesie, Musik und Spiritualität zu fusionieren, einen neuen, eigenen Stil zu kreieren und zum Leben zu erwecken. Weicher, lebendiger, wilder und tiefgründiger. Mir persönlich hatte das Feminine gefehlt. Yoga war mir zu maskulin, zu streng und geradlinig. Ich habe mich einfach mehr eingebracht und meine Erfahrungen als Tänzerin, Schauspielerin und Frau zugelassen.
Was ist es, was dich am Embodiment-Ansatz so begeistert? Welche Wirkung hat Embodiment auf dich?
Mich interessiert es, meinen Unterricht zu verknüpfen mit der tiefen Komplexität des Menschsein – mit dem Moment, dem Lebensabschnitt in dem ich mich gerade befinde, mit den Themen, die mich gerade beschäftigen. Das inspirierende Studium des Yoga und der ständige Wandel des Lebens treibt mich an und spiegelt sich in meinem Unterricht. Mit 80 Jahren wird mein Unterricht ganz anders sein als jetzt. Es geht nicht um mehr und mehr, sondern tiefer und tiefer.
Was willst du den Teilnehmer:innen deines Embodiment-Programms vermitteln?
Mein Unterrichtsstil ist geprägt von dem Weg des Herzens, um ein erfülltes und wahres Leben zu leben. Durch den Flow und die Verbindung zu den eigenen Ressourcen das eigene Potenzial zu finden und auszuschöpfen, um zu erkennen, wer wir eigentlich sind. Meine Klassen wollen den Teilnehmer:innen sagen: Höre nie auf zu wachsen. Bleibe offen und lebendig. Sei neugierig, höre auf dich und folge deinem Herzen. Lebe aus deiner Fülle und Authentizität.
Liebe Stine, wir danken dir herzlich für dieses Interview!
Mehr über Stine erfährst du unter www.stinelethanyoga.com.
Embodiment und das Autonome Nervensystem
Fast ein ganzes Jahrhundert später begründete der Psychiater und Neurowissenschaftler Dr. Stephen Porges die Polyvagaltheorie, die uns ein tiefes Verstehen über unser Autonomes Nervensystem und seine verschiedenen Zustände schenkt. Unsere Nervensystemzustände können stark vereinfacht in dysreguliert oder reguliert unterschieden werden – also ein Nervensystem in Dysbalance oder ein Nervensystem in Balance.
Bei den dysregulierten Zuständen unterscheiden wir grob zwei Zustände: Einen Zustand einer sympathikotonen Übererregung und der parasympathischen Untererregung. In der sympathikotonen Übererregung sind wir in einem hohen Stresserleben, das uns dazu veranlasst zu fliehen oder zu kämpfen, um wieder Sicherheit herzustellen. In der parasympathisch Untererregung ist das hohe Stresserleben in einen Erstarrungsimpuls gekippt. In diesem Zustand fehlt es uns an Energie und unser Nervensystem versucht über das Konservieren von Energie wieder Sicherheit herzustellen. Aus diesen beiden dysregulierten Zuständen können unterschiedliche körperliche und psychische Symptome entstehen.
In einem Zustand eines regulierten Nervensystems, eines balancierten Nervensystems befinden wir uns ebenfalls in einer parasympathischen Erregung, allerdings in einem anderen Zweig des Parasympathikus, nämlich des Vagusnervs. In einem balancierten Zustand schenkt uns der Vagusnerv tiefe Momente der innigen Freude, Verbundenheit und des authentischen Selbstausdrucks und Kontakts mit anderen Menschen.
„Free your Body
Express your heart,
Empty your mind
Awaken your soul
Embody your spirit”
Gabrielle Roth, Gründerin der 5Rhythms Tanzbewegung
Die Weisheit und heilende Kraft von Embodiment im Yoga
Unter anderem durch die Polyvagaltheorie gilt es heute als wissenschaftlich erwiesen, dass unsere subjektive Erfahrung stets eine körperliche Komponente aufweist, ebenso wie alle körperlichen Erfahrungen eine mentale Komponente haben. In der Körperpsychotherapie wissen wir auch um die wertvollen Tools aus spirituellen Traditionen, die das Tolerieren und die Integration tiefgehender emotionaler und sensorischer Zustände erleichtern (vgl. Levine 2015). Der Ansatz der „Embodied Polyvagal-Theorie” kann eine Yogastunde durch wertvolle Elemente der Regulation für das Nervensystems bereichern. Der Yoga schenkt uns wertvolle Tools – Atem-, Bewegungs- und Meditationstechniken –, die es uns ermöglichen, unsere innere Kapazität zu weiten und innere Ressourcen zu bauen. Das individuelle Embodiment der Asanas und die körperliche Arbeit mit unterschiedlichen Zuständen steht hier im Fokus und eine Regulation des Nervensystems wird ganz konkret angestrebt.
Aber neben all diesen Goodies schenkt uns das Anerkennen und Verstehen von Embodiment im Yoga vor allem eines: Freiheit. Freiheit, uns so bewegen zu können, wie es uns zu diesem Zeitpunkt und an diesem Tag entspricht. Freiheit nach dem individuellen Ausdruck zu suchen, der von innen nach außen stimmig erscheint. Freiheit, uns selbst zu erkunden und uns in Achtsamkeit, Gewahrsamkeit und liebevoller Zugewandtheit uns selbst gegenüber zu üben. Freiheit im Vertrauen auf einen organischen Prozess der Selbstregulation und unsere innere Matrix.
Für mich ist Embodiment im Yoga daher auch ein Ausdruck von Selbstliebe. Die uralte Weisheit des Yoga und das moderne Verständnis von Embodiment lehrt uns: Lausche nach innen, ehre was du wahrnimmst, finde deinen Ausdruck.
Praxisübung: Embodiment im Vierfüßlerstand
Wenn du die Wirkung von Embodiment selbst erleben möchtest, folge mir nun für ein kleines Experiment. Du kannst dir zu Beginn vor Augen führen, dass in diesem Experiment eine potenziell neue Erfahrung im Vordergrund steht – ohne in tieferliegende Themen einzusteigen. Wenn du magst, sage zu dir: „Wir schauen mal, was der Körper zu sagen hat…“
Finde dich im Vierfüßler ein. Beginne nun sanft, deine Wirbelsäule zu bewegen und zu mobilisieren. Finde, was sich gut anfühlt und dir jetzt, in diesem Moment, entspricht. Du könntest in Katze-Kuh-Bewegungen finden, deine Hüfte kreisen oder den gesamten Rumpf rotieren. Lausche auf deinen inneren Rhythmus und dein Tempo. Konzentriere dich dann auf deine Wirbelsäule. Wenn du magst, stelle dir vor, sie wäre eine Wasserpflanze, die sanft in der Strömung des Meeres hin und her bewegt wird. Folge dieser Bewegung und beobachte, was in deinem Inneren als Reaktion darauf geschieht – Lebendigkeit, Ruhe, Zentrierung? Du könntest dich in dieser Übung auch aufrichten und deinen gesamten Oberkörper und Arme in die Bewegungen einbeziehen. Sei einfach präsent, lass dich führen von deiner inneren Weisheit und genieße das Fließen der Wellen durch deinen Körper.
Literatur
- Gattnar, Heike: Die Wurzeln von Somatic Experiencing (SE), Vortrag im Rahmen der 2nd European Conference on Somatic Experiencing (SE), 2018.
- Levine, Peter A.: „Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn”, Penguine Random House Verlag: 2015.
- Swami Satyananda Saraswati: „Asana Pranayama Mudra Bandha”, Yoga Publications Trust, Munger, Bihar, India: 1969.
Weiterführende Informationen
- www.mysafetyplace.de: Ausführlichere Informationen über den Vagusnerv und die Zustände des Autonomen Nervensystems
- Dorsch „Lexikon der Psychologie” zum Stichwort „Embodiment”
- Polyvagal-Akademie: Informationen zur Polyvagal-Theorie und die Diskussion um eine Kritik an der Polyvagal-Theorie