
Sex, Kreatitivät, Beziehung: Svadhisthana Chakra
Vor ein paar Jahren lernte ich auf einer Reise eine erstaunliche Frau kennen. Bei einer Wanderung im Himalaya kam uns ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, entgegen, singend und hüpfend, wie im Märchen. Wir fragten sie auf englisch, mit wem sie unterwegs sei, sie zeigte nur hinter sich und sprang weiter. Tatsächlich kam uns einige Minuten später – erstmal nur als Silhouetten vor dem gewaltigen Bergmassiv zu erkennen – eine Gruppe Wanderer, angeführt von einer Frau, entgegen: Meredith. Wir unterhielten uns, wie man es oft in einsamen Gegenden tut, und sie lud mich und meine Tochter in ihr Haus in Kathmandu ein. Eine Einladung, der wir ein paar Wochen später tatsächlich folgten.
Meredith, eine Amerikanerin, Mutter von fünf Kindern, beschrieb den Moment, als sie vor vielen Jahren aus ihrer schönen Küche in New Hampshire ihren Kindern hinterher sah, als diese in den Schulbus stiegen, als einen Wendepunkt: „Mein Bauch zog sich zusammen, ein schmerzhaftes Rückzugsgefecht aller Organe, ein Gefühl, das mir wohlbekannt war, und das ich an diesem Morgen beschlossen hatte, nicht länger zu ignorieren.“ Sie trennte sich von ihrem damaligen Mann, packte ihre Kinder und einen Koffer und zog nach Nepal in eine verwittertes altes Haus mit einer Veranda und einem großen Garten, in dem Orchideen, Mangos und Magnolien wuchsen.
„Ich wollte immer Kinder und gleichzeitig frei sein. Das war unmöglich in Amerika, das nur einen Wert kennt: Geld und Status. Jetzt bekomme ich ein wenig Geld von den Vätern meiner Kindern und arbeite gelegentlich als Übersetzerin. Die Kinder unterrichte ich selbst, einige beherrschen bereits vier Sprachen und jedes spielt ein anderes Instrument.“ Und sie selbst? „Ich bin hier so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Ab und zu treffe ich andere Amerikaner, die mich natürlich für eine Spinnerin halten, aber das ist mir egal. Ich habe ab und zu Dates und genieße sie auch, aber ich möchte keine feste Beziehung, meine Kinder kommen an erster Stelle.“
Leidenschaft und Sex
Es geht nicht darum, ob ihre Entscheidung richtig oder falsch war oder was wir von „Home Schooling“ halten. Ich erwähne diese Begegnung, weil ich die Beschreibung der körperlichen Befindlichkeit, die ihrer radikalen Entscheidung voranging, so bemerkenswert finde. Ihr Unterleib hatte sich über Monate zusammengekrampft – immer morgens, wenn sie ihre Kinder verabschiedete in ein System, dem sie zunehmend misstraute. Hätte ich ihre Geschichte nur gelesen, wäre mir ihre Entscheidung vermutlich eigennützig (die armen Väter), schrullig und hoch riskant für die Entwicklung der Kinder vorgekommen. Brauchen, wollen die nicht in die Schule?
Aber ihre Kinder, die ich mehrmals traf, waren ausgesprochen lebhaft, liebenswürdig, hellwach und, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte, völlig „normal“. Meredith hatte eine Entscheidung aus dem „Bauch heraus“ getroffen, die genau auf die Themen zielte, die das Svadhisthana Chakra, lokalisiert im Unterbauch, behandelt: Leidenschaft, Beziehungen, Kreativität und Sexualität und, wie Sva (Selbst) und Adhisthana (Wohnstatt) nahelegen, ein Leben, in dem wir uns in uns selbst wohl fühlen.
Feinstofflicher Check-Up
Fast jede Reise, in den Himalaya oder in den Harz, verbinden wir mit der Hoffnung, etwas über uns selbst zu erfahren. So auch bei der Reise durch den Körper. Auf jeder Station, so die Idee, nähern wir uns bestimmten Lebensthemen. Man könnte von einem feinstofflichen Check-Up sprechen, wobei es keinen Beweis dafür gibt, dass es so etwas wie feinstoffliche Anatomie gibt. Wenn wir den Körper sezieren, werden wir keine gegenständlicher Chakras, sprich: Räder, finden. Aber das Konzept der Chakras schadet nicht. Im Gegenteil, es kann uns helfen, auch heikle Themen in den Fokus zu rücken, indem wir sie nicht nur kognitiv, sondern als „Erfahrungsräume“, nun ja, erfahren. Das zweite Chakra versammelt eine Menge solcher heiklen Themen.
Wer bestimmt, welche Sexualität wir leben, wie kreativ wir sein dürfen, wie leidenschaftlich, wie selbstbestimmt oder wie fremdbestimmt? Egal, ob wir Männer oder Frauen sind, ob wir Frauen oder Männer lieben, ob wir uns überhaupt festlegen wollen? Egal, welche Beziehungen wir wählen, an einer kommen wir nicht vorbei: an der zu uns selbst. Nur wenn wir uns selbst lieben, können wir andere Menschen lieben. (Lest bei Erich Fromm nach, der sich bereits im 20. Jahrhundert damit auseinandersetzte, lange bevor der Hashtag Selbstliebe durch die Decke ging.)
Darm und ISG
Im Unterbauch liegt auch der Darm, über dessen „Intelligenz“ seit dem Bestseller „Darm mit Charme“ auch Nicht-Mediziner:innen Bescheid wissen. Auch der untere Rücken, eine der berühmtesten Baustellen unserer modernen Gesellschaft, gehört in diese Region. Damit die Lendenwirbelsäule stabilen Halt findet, müssen wir den Rücken und die tiefe Bauchmuskulatur stärken. Ein instabiles Illiosakralgelenk (ISG) hilft nicht dabei, für sich einzustehen, Belastungen und Herausforderungen anzunehmen, ohne den Halt zu verlieren. Aufgabe ist es, sich in dieser stabilisierenden Funktion wahrzunehmen, ohne hart zu werden, stark zu sein und zugleich offen für die eigenen Wünsche.
„Individuation” und Kundalini
Für alle, denen die Vorstellung von leuchtenden Rädern in unterschiedlichen Farben zu esoterisch ist: Stellen wir uns Chakras als Bewusstseinsebenen vor und die Arbeit mit den Chakras als Prozess der Wahrnehmung. Mit ihrem Interesse daran sind die Yogi:nis in bester Gesellschaft. C.G. Jung spricht vom „Individuationsprozess“, strukturell durchaus ähnlich der yogischen Vorstellung, dass eine Energie (Kundalini) erwacht und entlang der Chakras nach oben aufzusteigen beginnt.
Kein Kreuzverhör
Und noch etwas ist wichtig. Es geht bei der Arbeit mit den Chakras nie um ein Kreuzverhör, sondern um einen Wahrnehmungsprozess. Das bedeutet für das zweite Chakra die Auseinandersetzung mit Themen, die schmerzhaft sein können – unerfüllte Sexualität, unerfüllter Kinderwunsch, unterdrückte Kreativität, verdrängte Leidenschaft. Und gleichzeitig öffnet sich ein Raum, der voller Möglichkeiten steckt, ein körperlicher Andachtsraum mit einem weiten Horizont. Seinen Unterbauch als lebendig, pulsierend, anregend und stimulierend zu erfahren, ist ein entscheidender Schritt zu einem erfüllten Leben, also eines, indem du ganz und gar Zuhause bist.