Alles ist Material: Yoga und Kreativität

Von Kristin Rübesamen

Seit die Ressourcen überall auf der Welt zu Neige gehen, interessieren wir uns mit einem Mal wieder für Material. Woraus etwas besteht, ist heute nicht nur Statussymbol. Vorbei sind die Zeiten, wo „100% Cashmere“ als Gütesiegel galt. Es geht uns um eine ganz bestimmte Qualität, die in Deutschland im Moment von knapp 20 ökologischen Kontrollstellen gemessen wird. Es geht dabei aber auch um die Frage, wie wir mit dem Material – ob Rohmaterial oder Ruinen – umgehen. Je respektvoller, oder wie wir im Yoga sagen, je achtsamer, desto wertvoller ist, so meine These, was hinterher herauskommt.


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Unser Material sind Körper und Geist, unser Werkzeug der Atem

Das alles ist für uns Yogi:nis nichts Neues. Unser Material sind Körper und Geist, unser Werkzeug ist der Atem. Die Qualität unserer Atmung verrät uns, wie es um die Seele und den Zustand unserer Gedanken bestellt ist. Ich behaupte mal, kein:e Yogi:ini wird den Moment vergessen, an dem wir das erste Mal unsere Atmung bewusst in bestimmte Körperregionen haben fließen lassen. Niemand außer uns (und neuerdings ein paar Neurowissenschaftler) kann sich überhaupt vorstellen, was wir damit meinen. Der Atem ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir mit unserem Körper generell umgehen. In Zeiten großer Anspannung haben wir das Gefühl, manchmal über Stunden nicht ausatmen zu können, und erst nach der Anspannung löst sich mit einem großen Seufzer der Druck auf der Brust.

Atem und Inspiration

Den Atem zu beobachten, ist eine der wichtigsten Techniken in der Meditation. Unseren Umgang mit dem Thema Atmen zu beobachten, verrät uns viel über den Zustand unserer Gesellschaft. Gefürchtet während der Pandemie ist der Atem zeitgleich zum Must-Have-Item geworden. Die Leute sprechen heute über Atem wie über eine Luxusimmobilie. „Atmen“, sagen die Leute, „ist mega.“ Dass Atem auch etwas mit Inspiration zu tun hat, liegt auf der Hand: Inspiriert leitet sich vom Lateinischen ab und heißt  „eingehaucht”. Die Griechen kannten die „Atemseele”, die indische Philosophie Atman.

Breathwork in Megacities

Dass Breathwork in den letzten Jahren so in Mode gekommen ist, ist ein Symptom dafür, dass wir genau wissen, dass wir als Individuen nicht im Gleichgewicht sind. Die Hoffnung, durch die richtige Atmung wieder in Balance zu kommen, ist berechtigt. Die Qualität der Luft in Megacitys wird dadurch allerdings noch nicht besser. Wir müssen nicht nur die Atemwege reinigen, wir brauchen auch die längst überfällige Verkehrswende. Für einen Breathwork-Workshop müssen wir uns nur bequem und aufrecht hinsetzen, für die Verkehrswende dagegen müssen wir kämpfen, wenn uns das Klima wichtig ist. Ein Breathwork- oder Yogaworkshop kann uns die Kraft spenden für diesen Kampf. Mit Kraft alleine ist es aber nicht getan. 


Programmbanner Breathwork


Not macht erfinderisch

Der September ist eine schöne Zeit, die Zeit der Ernte, und mehr und mehr gibt es nun Gruppen von Menschen, die zusammen töpfern, stricken, basteln, recyclen, irgendetwas einkochen oder mitten in der Stadt auf spärlichen, dafür freigegebenen Freiflächen werkeln. Sie gehen mit dem ihnen anvertrauten Material respektvoll um, und so entstehen Urban Gardening, hübsche Pullover, Energiesparhäuser aus Holz oder auch ganz schlicht schöne Yogaleggings aus recyceltem Plastik. Die Menschen eignen sich das nötige Wissen an, aber und darum geht es hier, sie agieren oft auch aus der Not heraus. Denn Not macht erfinderisch. Wir entwickeln Träume, eine Fantasie.

Maitri braucht Fantasie

Patanjali, man muss es leider sagen, ist zum Thema „Kreativität“ nicht viel eingefallen. Auch das Wort „Fantasie“ fällt nirgends in seiner Yoga-Sutra. Was mit Fantasie aber möglich ist, beschreibt Patanjali mit dem Begriff „maitri“ in der Sutra 1.33. Er fordert uns auf, sich für die zu freuen, die glücklich sind, denen zur Seite zu stehen, denen es schlecht geht, das Gute an den Menschen zu feiern, und das Schlechte an ihnen nicht zu verdammen. Kurz, er fordert uns auf zur Empathie. Um sich aber in andere hineinzuversetzen, braucht es Einfühlungsvermögen und Fantasie. 

Neue neuronale Verknüpfungen

Wie sieht das auf der Matte aus? Yoga zu kombinieren mit Ecstatic Dance, wie es in den letzten Jahren in Mode gekommen ist, unkontrollierte (was sonst?) Schüttel-Meditationen wie bei Osho, das ist auch eine Reaktion auf den starren Dogmatismus in den einzelnen Yoga-Traditionen im 20. Jahrhundert. Dahinter steckt aber auch die Hoffnung, etwas in Bewegung zu bringen, für das noch keine Sanskrit-Bezeichnung gibt. Etwas Neues.

Für uns Yogis ist alles Material. Unsere Zellen, unsere Gelenke, unsere Faszien, unsere Erinnerungen, unsere Gefühle, unsere Gedanken. Nicht nur unsere Körper sind Material, eine kostbare Ressource, die wir im Burn-Out verheizen, alles um uns herum ist Material. Wenn Neurologen untersuchen, wie wir mit Yoga und Meditation neue neuronale Verknüpfungen im Hirn schaffen können, dann auch in der Hoffnung, dass uns zur globalen Krise mehr als Jammern einfällt. 

Patanjali: Stiram und Sukham

Wir leben, indem wir üben, zu leben. Das ganze Leben ist Praxis. Jeder Tag bietet eine neue Chance. Und wie wollen wir üben? So wie Patanjali vor über 2000 Jahren vorschlug: mit Stabilität (stiram) und Süße (sukham).

Was ich modern übersetzen würde: mit einem guten Netzwerk und guter Laune. Ein Netzwerk schafft Vertrauen und Vertrauen schafft Stabilität. Alleine werden wir es nicht schaffen. Und gute Laune bedeutet Zuversicht und Leichtigkeit, den Kopf nicht hängenzulassen. 

Fantasie ist eine soziale Tätgikeit

Ich glaube, zu diesen beiden Bausteinen muss im 21. Jahrhundert ein dritter Aspekt dazukommen: Fantasie.

Der Entwicklungspsychologe Professor Hannes Rakoczy schreibt im Max-Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation, dass die Fantasietätigkeit von Anfang an, also von Kindheit an, eine soziale, gemeinsam mit anderen betriebene Tätigkeit ist. Etwas Neues auszuhecken, das passiert in Gemeinschaft, passiert, wenn wir uns trauen, passiert, wenn wir uns ermutigen anstatt zu canceln. 

So wie der Atem sich durch Pranayama neue Wege bahnt, entstehen auf diesen neuen Wegen neue Gedanken und neue Ideen. In der Präsenz der anderen. Weniger durch Konzentration als vielmehr durch die Kunst des Loslassens. In der Pause entstehen kreative Durchbrüche. In der Pause nach der Ausatmung werden wir kreativ. Probiert es auch und lasst euch überraschen. 

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .

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