Welcome Yoga – Yoga für (wirklich!) alle

Von Birgit Feliz Carrasco

Schau dich mal um in den Yogagruppen, an denen du teilnimmst oder die du leitest. Wen siehst du da? Sehr wahrscheinlich sportliche, bewegliche Menschen mit hochwertigen Matten, in hochpreisiger Yoga-Kleidung. Der Markt für genau diese Zielgruppe – Alter 20 bis 50, sportlich, schlank und und fit – wächst und wird nicht nur mit Leggings aus High-Tech-Materialien, innovativem Equipment und nachhaltigen Wasserflaschen bedient, sondern eben auch mit unzähligen Yogakursen.

Was aber ist mit allen Menschen, die nicht in diese Kategorie passen? Müssen die zuhause bleiben? 

Welcome Yoga für alle

Wer nicht angesprochen und eingeladen wird, fühlt sich nicht willkommen. Und kommt dann eben auch nicht. Das ist nicht nur bei Parties so, sondern auch beim Yoga. Das Image von Yoga ist geprägt von Bildern, die schlanke Personen in beeindruckenden Körperpositionen zeigt. Solche Abbildungen entmutigen die Mehrzahl aller Menschen, Yoga auch nur auszuprobieren.

Mittlerweile wissen viele Menschen, dass Yoga mehr zu bieten hat als Muskelkräftigung. Dass es beispielsweise ungemein heilsam sein kann bei Rückenproblemen, bei einem überreizten Nervensystem, bei Erschöpfung – also bei Problemen, die alle Menschen betreffen können, aus jeder Altersgruppe, mit jedem Gewicht, mit unterschiedlicher Grundkonstitution. Wenn Menschen aber aufgrund der öffentlichen Repräsentation von Yoga sicher sind, dass sie zu dick, zu ungelenkig, zu unsportlich sind, um (wenigstens mit halbwegs intakter Würde) durch eine Yogastunde zu kommen – dann gehen sie eben nicht hin. 

Yoga bedeutet Vereinigung, Einheit. Also lasst uns die (bewusste und unbewusste) Ausgrenzung von Menschen mit Nicht-Model-Körpern beenden und eine neue Kultur des „Welcome Yoga” begründen! 

Neue Zielgruppen warten

Es ist nicht nur tragisch, dass die inszenierten und airgebrushten Marketing-Bilder unendlich viele Menschen davon abhalten, die heilende Wirkung von Yoga zu erfahren. Es ist auch so, dass die Yogastudios sich mit ihren Angeboten auf eine sehr kleine Zielgruppe beschränken. Denn schlanke, sportliche Erwachsene von 20 bis 50 sind tatsächlich nicht die größte Bevölkerungsschicht in Deutschland.

In Deutschland....

  • haben etwa 50 Prozent Mehrgewicht (Tendenz steigend)
  • haben 4 Millionen Menschen Lipödeme oder Lymphödem
  • sind 4,7 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt (Tendenz steigend)
  • haben etwa 50 Prozent körperliche Einschränkungen wie z.B. Knie-, Schulter- oder Hüftgelenkprobleme
  • haben etwa 60 Prozent der Menschen Beschwerden an der Wirbelsäule
  • gibt es fast 8 Millionen Schwerbehinderte
  • etwa 1,5 Millionen Rollstuhlfahrer:innen
  • rund 80.000 Gehörlose
  • rund 70.000 Blinde
  • leben aktuell etwa 2 Millionen Geflüchtete
  • und knapp 20 Millionen Menschen sind über 65

Fortbildungsbedarf bei Yogalehrenden

Die Schwerpunkte von Yogalehrer:innen-Ausbildungen sind Asana-Didaktik, Ausrichtung, Anatomie sowie Philosophie. Genügt das, um bisher ignorierte Zielgruppen anzusprechen und die Heilwirkungen des Yoga näher zu bringen? Ich sehe Nachholbedarf.

Yogalehrende tragen in der Zeit der Yogastunden die Verantwortung für die Unversehrtheit und Gesundheit ihrer Kursteilnehmer:innen. Das bedingt ohnehin eine individuelle Anpassung der Asana-Formen an individuelle Körperfähigkeiten – die zu oft nicht angeboten wird. Für eine Welcome-Yoga-Kultur kommen Yogalehrende nicht umhin, sich fortzubilden und individualisierte Unterrichtskonzepte zu entwickeln. Sie brauchen ein solides Wissen über mögliche Variationen, die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von Hilfsmitteln, potentielle Kontraindikationen bei häufigen Beschwerden etc. Und sie sollten zudem fähig sein, in einer ermutigenden und ermächtigenden Sprache zu unterrichten, die nicht in Kategorien wie „einfach” und „fortgeschritten” einteilt.

Wenn Yogalehrende ihre Aufgabe ernst nehmen, Yoga allen Menschen zugänglich zu machen, müssen auch die oben erwähnten Zielgruppen nicht von Yogatherapeut:innen betreut werden oder im Einzelunterricht. So wird Yoga als Gruppenerlebnis mit Gleichgesinnten möglich.

Yoga anders denken

Die Darstellung von Yoga-Posen in der Öffentlichkeit auf Fotos, in Büchern, Medienberichten und auch in Yoga-Lernvideos zeigen meistens Personen, die sich super verbiegen und bewegen können. Selbst in der Kategorie „Anfänger:innen” fühlen sich viele Anfänger:innen überfordert, weil diejenigen, die Yoga lehren und seit Jahren praktizieren, sich wohl kaum (mehr) vorstellen können, wie es ist Neu-Yogi:ni zu sein. Einfühlungsvermögen und Erinnerungen an die persönlichen Anfänge der Yoga-Praxis können hier helfen. 

Liebe Lehrer:innen, bitte denkt daran, dass nicht alle jeden Tag Yoga machen können oder wollen! Und vergesst nicht, dass Yoga keine Akrobatikübung ist – sondern Liebe und Achtsamkeit mit dem eigenen Körper, so wie er zum jeweiligen Zeitpunkt gerade ist.

„Die Yoga-Praxis muss sich dem Menschen anpassen und nicht der Mensch dem Yoga.”

Krishnamacharya

Der Yogameister Krishnamaychara, sein Sohn Desikachar und deren Nachfolger lehren den Yogastil Viniyoga mit dem Ziel, so viele Menschen mit dem Konzept des Yoga zu erreichen und zu bereichern. So werden beispielsweise im von Krishnamacharya gegründeten Yoga-Mandiram in Chennai/Indien auch körperlich- und geistig behinderte Menschen in der Asana-Praxis unterrichtet.


Anusara Alignment mit Barbra Noh – YogaEasy Academy


Selbstreflektion als Teil von Yoga

Der Yoga-Weise Patanjalis empfiehlt in seinen Yoga Sutra „Svadhyaya”, die Selbsterforschung, als Teil des Yoga-Weges. Auch im Hinblick auf deine Yoga-Praxis oder deinen Yoga-Unterricht ist es wertvoll, regelmäßig zu reflektieren, mit wem du dich umgibst, welche Botschaften du sendest und wo du deine Schwerpunkte setzt.

Wie fühlst du dich in deiner Yoga-Praxis als Yogaschüler:in?

  • Bist du umgeben von Gleichgestellten in deinem Yogakurs?
  • Fühlst du dich beim Yoga (durchgängig) überfordert?
  • Brauchst du detailliertere, variierte Anweisungen für die Asanas?
  • Hast du Schmerzen, während oder nach der Yoga-Praxis?
  • Konntest du ein persönliches Gespräch mit dem Yogalehrenden führen?
  • Hast du dich eventuell wieder von Yoga abgewendet, weil du denkst, das kannst oder lernst du nie?

Hier ein kleiner Impuls für Yoga-Praktizierende: Bitte gebt euren Yogalehrer:innen Feedback! Sei es, dass ihr ein neues Studio ausprobiert und in der Anfänger:innen-Stunde fast zusammenbrecht oder dass euer Lieblingslehrer keine Alternative zu einer Armbalance ansagt und einfach davon ausgeht, dass in einer Open-Level-Stunde jede:r den Mut und die Kraft hat, sich elegant in Bakasana zu heben. Seid liebevoll in euren Formulierungen, aber gebt Denkanstöße, indem ihr etwa nach der Stunde zur Lehrerin geht und sagt: „Ich war heute zum ersten Mal bei dir in der Beginner-Stunde und fand den Flow sehr schnell. Ich hätte mir mehr Hinweise zur Ausrichtung und zur Atmung gewünscht und die Aufforderung in die Kindhaltung zu gehen, wenn es zu anstrengend wird.” Oder indem ihr darauf hinweist, dass es Schüler:innen gibt, die sich nicht trauen, Anweisungen nicht Folge zu leisten und deshalb – auf potenziell selbstgefährdende Weise – über ihre psychischen und physischen Grenzen gehen, wenn ihnen keine Alternativen geboten werden.

Wenn alle, die mit dem bestehenden Unterricht nicht zurechtkommen, einfach nicht mehr zum Yoga gehen, ist nichts gewonnen. Viele Yogalehrende haben bestimmte Formulierungen und Methoden von ihren Lehrer:innen übernommen und können mit Hilfe von konstruktiver Rückmeldung zu einer authentischeren und inklusiveren Art des Unterrichts finden.

Natürlich solltest du dir grundsätzlich ein Studio suchen, das so unterrichtet, dass es dir wirklich guttut und deine Ansprüche erfüllt. Und selbstverständlich darf jede und jeder Yogalehrende seine eigenen Prioritäten setzen und in seinem persönlichen Stil unterrichten – der eben nicht allen gefallen muss. Es geht nicht um Gleichmacherei oder dass du jederzeit genau so unterrichtet wirst, wie du es dir vorstellst. Auch Yoga-Unterricht, der dir weniger zusagt, kann eine sehr wertvolle Erfahrung sein. Weil er dich dazu auffordert, Verantwortung zu übernehmen für dein Handeln, dich lehrt deine Grenzen wahrzunehmen und zu achten und dir wertvolle Erkenntnisse schenken kann – etwa dazu, was Yoga für dich ist und was eben nicht. Yogalehrende sollten aber immer bereit sein, sich zu reflektieren (s. Svadhyaya), dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln. Und dabei kann ihnen liebevolles Feedback helfen. 

Wie siehst du dich in deinem Yoga-Ansinnen als Lehrende?

  • Achtest du auf Menschen, die nicht der Yoga-Norm entsprechen?
  • Was denkst du, wenn du z.B. dicke Menschen im Supermarkt siehst?
  • Was bietest du Menschen mit Einschränkungen an, um Yoga-Asana oder Meditation zu praktizieren?
  • Welche Rand-Zielgruppen (ich mag dieses Wort nicht besonders, aber es drückt aus, was gemeint ist) würden dich herausfordern und dir gegebenenfalls Freude bereiten zu unterrichten?
  • Was brauchst du bzw. welche konkreten Schritte müsstest du gehen, um eine Yogastunde für diese besondere Zielgruppe anzubieten?

Was kann ich konkret tun?

In den Yoga Sutras wird auch „Tapas” beschrieben, das innere Feuer, die Begeisterung, der Enthusiasmus für etwas. Aktiviere dein Tapas, um in deinem Umfeld eine neue Welcome-Yoga-Kultur zu etablieren!

Tipps für Yogalehrer:innen

  • Erweitere dein Portfolio in alle Yogabereiche – von Asana über Pranayama bis Meditation.
  • Formuliere Angebote an neue Zielgruppen und in der Zusammenstellung der Kurse deutlich: Schreibe nicht nur in die Informationen zum Kurs „Auch Menschen mit Mehrgewicht sind willkommen”, sondern biete spezielle Kurse für X-Larger, Senior:innen etc. an. Mit Kursen für Gleichgesinnte ermöglichst du vielen Menschen den Zugang zum Yoga, die sonst nie den Weg auf die Matte gefunden hätten, und förderst das Gemeinschaftsgefühl.
  • Richte auf deiner Website einen Bereich für Yoga für außergewöhnliche Zielgruppen ein.
  • Bilde dich weiter als Yogalehrer:in für Menschen mit Mehrgewicht oder Ödemleiden.
  • Lerne Gebärdensprache.
  • Überlege dir Unterrichtseinheiten, die Menschen im Rollstuhl ausführen können.
  • Biete kostenlose Kurse für Menschen an, die aus ihren Heimatländern flüchten mussten.
  • Biete Yogakurse in Seniorenheimen an, z.B. als „Yoga auf dem Stuhl”.
  • Schenke Teilnehmer:innen, die offensichtlich überfordert sind, mehr Aufmerksamkeit und biete ihnen Haltungsvarianten an.
  • Biete individuellen Einzelunterricht an.
  • Motiviere die Leitung des Yogastudios, in dem du Kurse gibst, mutig zu sein und die Kategorien der üblichen Kursangebote namens „Anfänger:innen”, „Geübte” und „Fortgeschrittene” noch mehr zu diversifizieren: „Absolute Beginners” oder „Anfänger:innen 0”, „Anfänger:innen 1”, „Anfänger:innen 2” etc.
  • Biete spezielle Welcome Workshops zur Einführung an.
  • Mache dir bewusst, das Flow Yoga nur für Fortgeschrittene geeignet ist. 
  • Reflektiere dein Auftreten: Erhebe ich mich über meine Schüler:innen? Führe ich gerne vor, wie gut ich herausfordernde Asanas beherrsche?
  • Erspüre, wie Menschen sich (in deinem Unterricht) fühlen, die noch nie Yoga gemacht haben.

Tipps für Yogaschüler:innen

  • Als Yoga-Interessierte fordert bitte in den Yogastudios eurer Wahl Spezial-Kurse ein. Je mehr Menschen ihr Recht auf Yoga einfordern, desto mehr wird sich ändern. Wenn ihr etwa nach einem Behindertengerechten Zugang zum Studio fragt, kann das wie ein Weckruf wirken.
  • Lass dich bei deiner Teilnahme in Kursen oder Praxis mit Yoga-Lehrvideos nicht von der Perfektion der Yogalehrenden beeindrucken oder einschüchtern. Du sagst ja auch nicht zu einem Französisch-Lehrenden „Sie sprechen aber toll französisch”!
  • Lasse dich ausbilden und werde selbst die Art von Yogalehrer:in, die du dir wünschst!

Tipp: Yoga-Lehrausbildungen oder Yoga-Fortbildungsangebote in „Yoga X-Large ©"”und „Physiologisches Yoga ©” findest du auf meiner Website.

Eine Einladung an alle

Die Einweihung in den Yogaweg ist und sollte immer eine Ehre sein – für Yogaschüler:innen und Lehrer:innen. Wertschätze die Yogameister:innen der Vorzeit, die Yogabegeisterten der Jetztzeit und behandele deinen eigenen Körper und die der anderen mit Offenheit, Achtsamkeit und Sorgfalt. 

Lasst uns die Arme ausbreiten, unsere Herzen weiten und wirklich alle Menschen zum Welcome Yoga einladen!

Love and Light,
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco ist Heilpraktikerin, Seelen-Coach und Yogatherapeutin sowie renommierte Buchautorin und Bloggerin. Sie hält regelmäßig Seminare für spirituelle Bewusstheitsentwicklung, bei denen Interessierte und Yogalehrende, die sich fortbilden wollen gleichermaßen willkommen sind. Informationen zu ihrer beratenden Tätigkeit, Hellfühligkeit und Channeling findest du unter birgitfelizcarrasco.com.

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