Jessamyn Stanley Portrait
Alle Bilder des Artikels: Löwenzahn Verlag/Christine Hewitt

Jessamyn Stanley: Yoga ist kein Klischee

Von Katharina Goßmann

Hin und wieder treffe ich Menschen, die wenig über Yoga wissen. Wenn sie dann erfahren, dass ich Yogalehrerin bin, ernte ich oft irritierte Blicke. Und manchmal Bemerkungen wie: „Wirklich? Bist du dafür fit genug?” oder „Du bist irgendwie gar nicht der Typ…” Dann muss ich immer sofort an Jessamyn Stanley denken. 

Jessamyn Stanley: Yogalehrerin, Aktivistin, Mensch

Jessamyn Stanley ist eine US-amerikanische Yogalehrerin aus North Carolina, die vor gut zehn Jahren anfing, auf Instagram Bilder von sich beim Üben zu teilen. Mit ihrer herausfordernden Yoga-Praxis und ihrer ehrlichen Art fand sie dort schnell ein Publikum. Heute hat sie knapp eine halbe Million Follower. Und die interessieren sich nicht nur für die Posts und Videos, in denen es um Yoga geht. Denn Jessamyn Stanley ist alles andere als eine prototypische Yogalehrerin.

Tatsächlich ist Jessamyn eher die Antithese einer Yogalehrerin. Sie zeigt ihre Yoga-Flows auf Instagram auch mal in Onesie und Wollmütze vor ihrem unaufgeräumten Wohnmobil. Und während andere Produkte anpreisen, setzt sie sich aktiv gegen Diskriminierung in der Yoga-Community ein und kämpft für mehr Diversität und Inklusivität in Yoga-Studios. Wenn sie sich nicht gerade – als eine der bekanntesten Vertreterinnen der Body-Positivity-Bewegung in den USA – halbnackt oder in sehr engen Klamotten präsentiert oder auf ihre Nacktyoga-Stunden auf OnlyFans hinweist. Dass sie lesbisch ist, thematisiert Jessamyn gerne und häufig und in ihrem Podcast spricht sie viel über ihre (polyamourösen) Beziehungen. Wenn sie einen schlechten Tag hat, versteckt sie das nicht, sondern schimpft und flucht sich ihre Wut einfach in einem Instagram-Video von der Seele. Wobei Jessamyn auch an Tagen mit guter Laune schon ziemlich viel flucht. 

Kurz: Sie macht all das, was der vegan-minimalistische Yogi und die quasi-erleuchtete Yogini auf dem acht-gliedrigen Yogaweg niemals tun würde. Also, wenigstens nicht öffentlich. 

Jessamyn Stanley beim Yoga

Every Body Yoga – Yoga für alle!

Jessamyn ist die pralle Portion Menschlichkeit. Sie zeigt sich uns mit allen Höhen und Tiefen, Schwächen und Stärken, sie spiegelt uns all unsere Widersprüche und unsere Orientierungslosigkeit, und all unsere Schönheit, Stärke und Liebe. Und befreit uns so von den Fesseln der schönen Oberfläche. Sie zeigt uns, dass durch Yoga nicht alles gut, schön (und schlank) wird – sondern tiefer, wahrer und lebendiger. 

„Du musst nichts anderes verkörpern als dein wahrstes und ehrlichstes Selbst, um Yoga zu machen. Du musst die Traurigkeit, Wut und all die anderen „hässlichen” Gefühle, die unsere Leben prägen, nicht aussparen.
Du musst niemand anderes sein als du selbst.”

Auszug aus den Buch „Every Body Yoga – Yoga für alle” von Jessamyn Stanley

Auf ihre Art vermittelt Jessamyn – so laut, anstrengend und provokativ sie für manche auch rüberkommen mag – die Essenz des Yoga authentischer als es die meisten weiß-gekleideten Yoginis und Yogis mit sanfter Stimme jemals könnten. Denn die verkaufen am Ende oft auch nur das „höher, schneller, weiter”-Mantra unserer Leistungsgesellschaft, nur eben im spirituellen Gewand. Indem sie sich zu lebenden Werbefiguren für die positiven Effekte von Yoga hochzüchten und zu Quasi-Erleuchteten stilisieren. „Sieh mich doch mal an!”, scheinen sie zu rufen, „Mit Yoga wirst du auf allen Ebenen BESSER, und siehst dabei auch noch richtig GUT aus!”

Diese Art von (Selbst- und Fremd-)Täuschung ist Jessamyn gänzlich fremd. Radikale Ehrlichkeit heißt ihr Motto. In ihrem Buch „Every Body Yoga – Yoga für alle” (das nun endlich auf deutsch erschienen ist) schreibt Jessamyn Stanley nicht nur über ihre erste Yogastunde, die sie aufgrund von Kreislaufproblemen größtenteils liegend verbrachte („Meine erste Erfahrung mit Yoga war die Hölle auf Erden“), sondern auch über ihre obsessive Begeisterung für Cheerleaderinnen und Schönheitswettbewerbe, ihr schweriges Verhältnis zum Essen, ihre (launische) psychische Gesundheit und ihren langen Weg zur Selbstakzeptanz.


Der YogaEasy-Podcast „Besser leben mit Yoga”: In dieser Folge spricht Kristin Rübesamen mit den Yogalehrerinnen Isabelle Rivera und Elisa Braun über geschützte Räume für BIPoC in der Yogawelt, fehlende Selbstreflexion der Weißen und warum Yoga immer auch politisch ist.


Und dann schreibt Jessamyn Stanley noch über ihre Liebe zum Yoga. Wer „Every Body Yoga” liest, spürt wie tief Jessamyn im Yoga verwurzelt ist – auf allen Ebenen ihres Seins, ihres Lebens, ihres inneren Weges. Jede Seite des Buchs macht deutlich, wie wichtig es ihr ist, Yoga als heilende Kraft für alle zugänglich zu machen. Jessamyn bringt den Leser:innen nicht nur die Geschichte und Philsophie des Yoga nahe und beantwortet alle Fragen, die Anfänger:innen haben könnten (Was soll ich kaufen? Welche Yogastile gibt es?). Sie ermutigt auch mit persönlichen Geschichten und empowered ganz explizit immer wieder vor allem diejenigen, die mit inneren Hürden kämpfen (Was ist, wenn ich die fetteste* Person im Kurs bin und alle mich anstarren?). „Every Body Yoga” ist der perfekte Einstieg für alle, die eigentlich wissen, dass sie Yoga machen wollen, aber aus Unsicherheit noch zurückschrecken vor den Unwägbarkeiten dieses Unterfangens. „Hab keine Angst und probier es einfach!” ist Jessamyns Message. 

Jessamyn Stanley Anjali Mudra

Selbstakzeptanz und Heilung

Jessamyn und ihre Mission sind deshalb so wichtig, weil Yoga oft gerade die Menschen, die es am meisten bräuchten – als praktizierte Selbstliebe und Akt der Selbstfürsorge – nicht erreicht. Menschen, die wenig Geld haben (wie Jessamyn, als sie anfing mit Yoga). BIPoC (Black, Indiginous, and Peope of Color), die sich nicht wohl fühlen im meist sehr weißen Umfeld klassischer Yogastudios. Dicke, kranke, alte Menschen, weil es keine passenden Angebote gibt. All diese Menschen haben keinen Zugang zur heilsamen Wirkung von Yoga, weil sie sich Yoga nicht leisten können, weil sie sich nicht ins Yoga-Studio trauen, weil dort alle so anders sind als sie, oder weil sie sich nicht willkommen und unterstützt fühlen. 

„I began to utilize my practice as a means of accepting myself – not trying to fix myself, which is what the media and internet push.”  –  „Ich begann meine Yoga-Praxis als Methode zur Selbst-Akzeptanz zu nutzen – und nicht um mich besser zu machen, wie es die Medien und das Internet propagieren.”

Jessamyn Stanley in „Diversity Woman”, 2021

Kurz: Jessamyn ist die öffentlichkeitswirksame Stellvertreterin für alle, die nicht zum klassischen Yogastudio-Publikum gehören. Sie ist nicht entrückt oder erleuchtet, sie ernährt sich nicht super-gesund und ist nicht super-schlank. Sie ist einfach sie selbst. Auch im Social-Media-Universum der Zahn-aufgehellten Dauerlächler, der seelenlosen Produktplatzierungen, der immer-glücklichen Fake-Beziehungen ist sie damit eine Ausnahme und Inspiration. Eine Gallionsfigur für alle, die sich immer irgendwie komisch oder fehl am Platz fühlen, nur weil sie nicht so sind wie das – zwar vielfach propagierte, aber völlig unrealistische und damit eigentlich total alberne – Ideal.

Jessamyn Stanley Chakrasana

Ein Hoch auf Jessamyn

Früher, wenn ich meine Periode hatte oder nach den Weihnachtsfeiertagen, habe ich mich für meinen dicken Bauch geschämt. Habe ihn in zu enge Jeans gequetscht, ihn eingezogen, unter weiten Shirts versteckt. Die Idee, nur ein Bustier beim Yoga zu tragen, hätte ich damals völlig absurd gefunden – wenn ich sie denn gehabt hätte. 

Wenn ich heute beim Yoga in die Vorbeuge gehe, dabei auf meinen runden, weichen Bauch blicke und plötzlich zweifle, ob ich ok bin, so wie ich bin – dann denke ich an Jessamyn Stanley. Wie toll sie aussieht, wie stark und voller Energie und Lebensfreude. Und dann entspanne ich mich, höre auf mich zu vergleichen und freue mich einfach an mir, an meinem starken, gesunden Körper, und meinem auffälligen, engen Outfit. Danke, Jessamyn! 


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* Jessamyn betont, dass „fett” hier als Platzhalter für jede Unsicherheit steht, die du möglicherweise hast. 


Buch-Tipp: 

Buch Jessamyn Stanley Every Body Yoga

 

 

 

Jessamyn Stanley: „Every Body Yoga – Yoga für alle”, erschienen im Löwenzahn Verlag.

 

 

 

Katharina Goßmann
Katharina Goßmann

Katharina ist Mutter, Yogalehrerin und Psychologin. Bei YogaEasy ist sie das Herz der Redaktion und schreibt über Yoga, wahres Glück und Heilung. Ihre Artikel werden unter anderem im „Yoga Journal” und in der „Happy Way” veröffentlicht.

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