Somatisches Yoga – heilsam oder nur ein Hype?

Von Birgit Feliz Carrasco

Im Gegensatz zum klassischen Hatha Yoga geht es bei somatischem Yoga (auch: „Somatic Yoga“) nicht um Yoga-Philosophie und Spiritualität oder Asanas und Muskelaufbau. Es ist auch kein „Body Shaping Workout” – auch wenn es aktuell in den sozialen Medien häufig als Wundermittel zur Gewichtsabnahme und Körperoptimierung gepriesen wird. 

Somatischen Yoga hat vielmehr das Ziel, psychosomatische Symptome mit gezielten Yoga-Bewegungen zu reduzieren. Es ist ein Heilungs- und Erinnerungsprozess für den Körper, der durch die somatische Yoga-Praxis in seinen natürlichen Zustand zurückfindet – bevor Fehlhaltungen, Verspannungen und innere Blockaden das Regime übernahmen.


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Neurologische Grundlagen des Somatischen Yoga

Was bedeutet „somatisch“? „Soma“ ist ein altgriechisches Wort, das mit „Körper“ oder „Leib“ übersetzt wird und somit die Biologie und Physiologie des Körpers umfasst. So auch das Nervensystem des Menschen, das in zwei Kategorien unterteilt wird:

  • Das vegetative Nervensystem steuert lebenserhaltende Organfunktionen (Atmung, Verdauung etc.) ohne das man darüber nachdenken muss.
  • Das somatische Nervensystem ist unter anderem verantwortlich für die Wahrnehmung sowie Steuerung gezielter Körperbewegungen und Handlungen. Interozeption ist der Obergriff für die eigene Wahrnehmung des Inneren, die beispielsweise signalisiert, wann man Durst oder Hunger hat oder auf Toilette gehen muss. Dazu gehören Propriozeption, die Wahrnehmung von Körperlage und -Bewegung in Relation zum umgebenden Raum, sowie Viszerozeption, die Empfindung von Organtätigkeiten sowie Muskel- und Gelenkwahrnehmung.

Was ist somatisches Yoga genau?

Somatisches Yoga, also „leibliches Yoga“, lehrt, wie körperliche Verspannungen und ihre potentiellen organischen Folgebeschwerden durch mehrere Minuten lang wiederholte, sanfte Schaukelbewegungen gelöst werden können. Es zielt darauf ab, das somatische Nervensystem durch die Bewegungen und deren bewusste Wahrnehmung neu zu justieren, um vorhandene Blockaden und Traumata des Körpers zu lösen. Dies gelingt, weil die Wahrnehmung des somatischen Nervensystems sich an den ursprünglichen, heilen Urzustand des Körpers erinnert und sich vom Zustand einer Blockade instinktiv befreien möchte.

Hier schließt sich der Kreis zum Thema Abnehmen. Menschen, die sich im Dauerstress befinden, haben hohe Menge von Stresshormonen im Blut. Im Stresszustand werden viele Prozesse im Körper unterdrückt, damit alle Ressourcen des Körpersystems für die aktuelle Stresssituation zur Verfügung stehen. Unter anderem hemmen diese Stresshormone die Fettverbrennung. Bei Menschen, die unter Dauerstress stehen, kann es deswegen sein, dass sie es trotz geringer Nahrungsaufnahme und viel Bewegung nicht schaffen, abzunehmen. Solchen Menschen kann somatisches Yoga nicht nur dabei helfen, das Nervensystem zu regulieren – also das Stresslevel zu reduzieren – und dadurch endlich erfolgreich ihr Übergewicht abzubauen. 

Die Entwicklung des somatischen Yoga: Synergien aus verschiedenen Jahrzehnten

Somatisches Yoga wird manchmal „Yoga von Innen nach Außen“ genannt. Dieser Ansatz ist der Psychosomatik entlehnt, einem anerkannten Teilgebiet der Medizin, wie es sich auch beim Traumasensitiven Yoga findet.

Somatisches Yoga reiht sich in die fließenden Yogastile ein, die nicht wie klassisches Hatha Yoga statisch praktiziert werden. Es ist eine Synergie aus fließender Yoga-Praxis, der Feldenkrais-Methode, Atemarbeit nach Prof. Ilse Middendorf sowie der Psychosomatik-Lehre, die vom amerikanischen Philosophieprofessor und Bewegungstheoretiker Thomas Louis Hanna manifestiert wurde (der wiederum in den 1970iger Jahre von Moshé Feldenkrais inspiriert wurde). Die Zusammenhänge und gegenseitige Beeinflussung von Psyche (mentale und emotionale Verfassung) und Soma (körperlicher Zustand) war als Denkweise damals revolutionär. Heute ist Psychosomatik das Fundament aller ganzheitlicher Behandlungsmethoden. Thomas Louis Hanna schrieb 1979 ein Buch zum diesem Thema unter dem Titel „The Body of Life“.

Die meisten Lebewesen kommen mit einem gesunden Körper auf die Welt. Das hochentwickelte menschliche Nervensystem hat die Fähigkeit, sich an diesen Urzustand zu erinnern. Veränderungen, die der Körper durch eine sitzende Lebensweise, permanenten Leistungsdruck oder emotionalen Stress erleidet, sind deshalb umkehrbar – jedenfalls wenn wir den Körper zu lesen lernen, seine Botschaften und sein Leiden ernst nehmen. Hinter jedem Symptom oder Erkrankung verstecken sich kleine und größere körperliche, mentale und emotionale Traumata. Und so ist für viele Naturheilpraktiker:innen und therapeutisch ausgebildete Yogalehrer:innen bei der Anamnese von Klient:innen die Integration von Soma und Psyche ganzheitlicher Standard.

Wie übe ich Somatisches Yoga?

Somatisches Yoga wird wie gesagt als „Yoga von Innen“ bezeichnet, weil der Fokus während der Übungspraxis auf drei integrierten Komponenten beruht:

  1. Viszerozeption: Wahrnehmung der Organ-, Muskel- und Gelenktätigkeiten
  2. Propriozeption: Wahrnehmung von Körperlage und Bewegung im dreidimensionalen Raum
  3. Zeit-Entschleunigung: Wahrnehmung der Veränderung des Körpers über einen Zeitabschnitt von mehreren Minuten als dritte Dimension

Die angegebenen Zeitvorgaben sind essentiell, da die erwünschten Wirkungen sich mit der Dauer der Übung und verstärkt durch regelmäßige, am besten tägliche Wiederholungen einstellen. Die Praxis mag anfangs lang(weilig) erscheinen. Wenn du es aber schaffst, den Punkt zu überwinden, an dem du nicht mehr weitermachen möchtest, wirst du die Praxis anfangen zu genießen!

Beispielübung für einen verspannten Beckenraum: Z-Sitz

Wirkung: Lockerung der Hüftgelenke, des Ileosakral-Bereichs sowie Dehnung der Po- und Oberschenkelmuskel, wohliges Vibrationsgefühl im Inneren.

  1. Auf der Matte sitzend die Beine grätschen.
  2. Die Körperwahrnehmung auf den Beckenraum fokussieren, Symptome wie Steifheit o.a. wahrnehmen.
  3. Den Oberkörper etwas nach links drehen, das linke Bein anwinkeln und Richtung Beckenboden ablegen (Fußaußenkante berührt die Matte). Die linke Hand neben der linken Hüfte stützend auf dem Boden aufsetzen.
  4. Das rechte Bein anwinkeln und nach hinten in Richtung Gesäß ablegen (Fußinnenkante berührt die Matte). Beide Beine, die Füße und der Po haben jetzt Kontakt zur Erde. Die rechte Hand liegt locker auf dem linken Oberschenkel oder der Knieinnenseite.
  5. Nun die rechte Hüfte langsam und immer wieder sanft anheben, sodass der rechte Oberschenkel tiefer zur Matte gedrückt wird.
  6. Bewusst im Inneren die kleinen Veränderungen mit jeder Bewegung spüren und nach Beendigung vorher/nachher vergleichen.
  7. Nach etwa fünf Minuten den Oberkörper und die Beine nach rechts drehen und die Übung dort ebenfalls für etwa fünf Minuten ausführen.

Beispielübungen gegen einen verspannten Rücken: Kamelritt und Sufi-Kreise

Sufikreisen Rumpfkreisen im somatischen Yoga

Wirkung: Bewegliche Wirbelsäule in allen Abschnitten, Schultergürtel-Entspannung, mentale und emotionale Gelassenheit.

  1. Schneidersitz auf der Yogamatte, Hände auf den Oberschenkeln.
  2. Langsam aus dem Lendenwirbelbereich Wirbel für Wirbel bewegen, bis der Oberkörper aufgerichtet und die Wirbelsäule leicht rückbeugend geformt ist (Pferderücken).
  3. Wiederum langsam Wirbel für Wirbel bewegen bis die Wirbelsäule rund und der Oberkörper gebeugt ist (Katzenbuckel).
  4. Abwechselnd die Wellenbewegung gemächlich auf und ab fließen lassen (ca. 2 Minuten).
  5. Nach und nach Halswirbelsäule und Kopfbewegung sanft in der Wirbelsäule-Welle miteinbeziehen (ca. 2 Minuten).
  6. Sufi-Kreise: Kreisende Bewegungen des Oberkörpers (eine Weile nach rechts, dann nach links) mit Wirbelsäulen-Verformung (rückwärts- und vorwärtsbeugend) kombinieren (ca. 2 Minuten).

Für wen ist somatisches Yoga geeignet?

  • Bewegungs- und Yoga-Anfänger:innen
  • Menschen mit einer anderen intensiven körperlichen Praxis, die weicher und beweglicher werden wollen
  • Menschen mit einem (dauerhaft) hohen Stresslevel
  • Yoga-Praktizierende, die ihre Asanas auf schaukelnde Art genießen möchten
  • Menschen, die ihren Körper innerlich als lebendig wahrnehmen wollen
  • Leute, die nicht gerne stillsitzen oder stillliegen oder generell nervös sind
  • Personen, die unter Einschlafstörungen und/oder Morgensteifheit leiden
  • Menschen, die trotz eines gesunden Lebensstils Schwierigkeiten haben ihr Übergewicht abzubauen

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Resümee: Entspannen, sein, heilen 

Somatisches Yoga hat einen erstaunlichen Effekt, weil man über Minuten immer wieder die gleichen Bewegungen macht. Das könnte langweilig werden, tut es aber nicht. Aufgrund der Sanftheit der Bewegungen, die meist im Sitzen oder Liegen ausgeführt werden, wird nicht nur den Körper weicher, sondern auch das Gemüt sanfter. Stille, gedankliche Bewertungen, ob alles richtig im Körper oder ob die Ausführungen der Übungen korrekt ist, verebben beim „schaukeln“. Zudem musst du dir keine Gedanken darüber machen, welche Asana als nächstes ausgeführt wird, was die Aufmerksamkeit aus dem Jetzt ja wieder in die Zukunft entfleuchen lässt. Durch die fließende, fast eintönige Bewegung des Körpers ist der Kopf einerseits ganz aufmerksam und doch auch in einer Art Trance, also im Alpha-Zustand des Gehirns. Die Praxis wird zu einer Meditation in sanfter Bewegung. Der selbstauferlegte Leistungsmodus wird abgeschaltet, weil du aus dem Inneren heraus intuitiv fühlst, was jetzt für den Körper und wie lange richtig ist. Du bist im somatischen Sein, das mit Psyche (altgriechisch für Seele) und Spiritus (lateinisch für Geist) im Einklang ist. Körper, Geist und Seele erholen und harmonisieren sich tief und nachhaltig.

Zweifelsohne bieten auch viele moderne Yoga-Stile wie Restorative oder Yin (um nur zwei zu nennen) eine sanfte Yoga-Praxis und Entschleunigung für den modernen Menschen. Somatisches Yoga hat sehr wohl seine Berechtigung und ist überzeugend, sobald man sich über die Funktionsweise des Nervensystems als Führungsrolle in unserem Sein bewusst wird. Wir haben die Wahl: Wir können unseren Verstand als Teil des Nervensystems unkritisch unser Denken und Handeln mit entsprechenden (manchmal traumatischen) Auswirkungen auf unseren Körper bestimmen lassen. Oder wir können unser Nervensystem dafür nutzen, uns zu heilen und neu zu programmieren. Ich bevorzuge letzteres, denn das ist schließlich das, was auch Patanjali in vielen seiner Sutras empfiehlt:

„Obgleich unser Geist durch zahllose Strukturen unterschiedlicher Art gefärbt ist,
dient er immer der erkennenden Kraft in uns.“

Patanjali Sutra 4.24

Kurz: Somatisches Yoga ist wie in einer Wiege geschaukelt zu werden und sich ganz so zu fühlen, wie wir einst waren, als wir auf die Welt kamen – ein wunderschöner, heilsamer Zustand.

Love and light,
Birgit Feliz Carrasco


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Birgit Feliz Carrasco
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco ist Heilpraktikerin, Seelen-Coach und Yogatherapeutin sowie renommierte Buchautorin und Bloggerin. Sie hält regelmäßig Seminare für spirituelle Bewusstheitsentwicklung, bei denen Interessierte und Yogalehrende, die sich fortbilden wollen gleichermaßen willkommen sind. Informationen zu ihrer beratenden Tätigkeit, Hellfühligkeit und Channeling findest du unter birgitfelizcarrasco.com.