Traumasensibles Yoga: Sicherheit finden im Körper

Von Eva Weinmann

In meiner ersten Yoga-Ausbildung vor knapp 20 Jahren lernte ich, wie man Asanas „richtig“ ausführt und dass mit ausreichend Übung auch die herausforderndsten Übungen gelingen würden. Heute wissen wir, dass Körper unterschiedlich sind und dass nicht jede Hüftpfanne das Zeug für den Lotussitz in sich trägt.

So wie unsere Körper sich unterscheiden sind wir Menschen auch psychisch nicht alle gleich aufgestellt. Deshalb erlebt jede und jeder Einzelne die Elemente einer Yogastunde sehr individuell: Manche fühlen sich in großen, andere in kleinen Gruppen wohler, manch eine wird sehr gerne, mancher äußerst ungern berührt, die einen ertragen Stille kaum, die anderen genießen sie...

Wir können nicht in die Hüftpfanne oder die Psyche eines Menschen schauen und es ist auch nicht die Aufgabe von Yogalehrenden, sich mit psychischen Belastungen und Diagnosen auszukennen. Wenn wir aber verstehen, dass nicht alle Menschen eine Yogastunde auf die gleiche Weise erleben, hilft uns das nicht nur, unsere individuelle Wahrnehmung von Situationen liebevoll und wertfrei anzunehmen, sondern auch als Yogalehrende unseren Yogaunterricht zugänglicher zu gestalten.

Besonders wichtig wird diese Zugänglichkeit, wenn wir uns dem Thema Trauma zuwenden. Im Folgenden findest du als betroffene Person wertvolle Anregungen für deine eigene Praxis und als lehrende Person Ideen, wie du deine Angebote traumasensibler gestalten kannst.


Was ist ein Trauma?

Der Begriff „Trauma“ wird in den letzten Jahren zunehmend großzügig interpretiert. Er wird im Kontext so furchtbarer Ereignisse wie Krieg verwendet, aber auch für eher banale Unannehmlichkeiten im Alltag. Deshalb wollen wir als erstes klären, was ein Trauma genau ausmacht.

Bei einem Trauma (griechisch für „Wunde“) handelt es sich um eine Verletzung, deren Spuren Betroffene oft sehr lange begleiten. Die erlebte Gefahr ist bei einem Trauma so groß, dass sie nicht nur mit massiven Gefühlen wie (Todes-)Angst und Hilflosigkeit einhergehen kann, sondern auch die eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung und Verarbeitung übersteigt. 

Um eine bessere Unterscheidungsfähigkeit zu erzielen, werden traumatische Ereignisse in unterschiedliche Kategorien unterteilt:

  • So spricht man bei einem einmaligen traumatischen Ereignis von einem Schocktrauma,
  • bei Traumatisierungen die einen längeren Zeitraum überdauern von Komplextrauma (mit den Unterformen Entwicklungstrauma und Bindungstrauma)
  • sowie von Generationen übergreifenden Traumata (dem so genannten transgenerationalen Trauma)
  • und dem kollektiven Trauma, wenn eine ganze Gemeinschaft betroffen ist.

Unabhängig davon, welche Art von Trauma jemand erlebt hat, ist für Betroffene in erster Linie entscheidend, in welcher Art und Weise das (oftmals lange zurück liegende) Trauma auch auf die Gegenwart seine Schatten wirft und noch heute im eigenen Leben wirkt.

Wie Yoga bei Trauma wirken kann

Wenn wir uns mit Trauma auseinandersetzen zeigt sich, dass Yoga viele Aspekte mitbringt, die dem Erleben von Trauma diametral gegenüber stehen: Traumata gehen mit maximaler Überforderung und Hilflosigkeit, Dysregulation im Nervensystem, einer Trennung von sich selbst und der Gegenwart sowie einer starken Bindung an die vergangenen traumatischen Erfahrungen einher. Yoga dagegen fördert die Selbstwirksamkeit und Eigenermächtigung, trägt zur inneren Balance und Stabilität bei und bezieht sich immer auf die Verbindung zu sich selbst und zur Gegenwart. 

Im traumasensiblen Yoga betonen wir im Gegensatz zu regulären Yogastunden einige dieser Aspekte noch stärker:

1. Die Chance der Wahlmöglichkeit

Da es sehr zur Eigenermächtigung und zum Achten eigener Bedürfnisse beiträgt, werden im traumasensiblen Yoga immer Wahlmöglichkeiten angeboten. So können Teilnehmende für sich entscheiden, ob sie beispielsweise Haltung A oder B üben möchten, die Augen geöffnet oder geschlossen haben, sich für Savasana hinlegen oder sitzen bleiben möchten. 

2. Das Erleben von Sicherheit

Für Menschen, die Trauma erlebt haben, wird der eigene Körper nicht immer als sicherer Ort erlebt. Folglich können langes, nach innen gekehrtes Sitzen, Atemübungen oder passiv gehaltene Asanas oft Stress oder gar Panik auslösen. Im traumasensiblen Yoga werden daher oft stabile Anker im Außen gesetzt, Atemübungen werden modifiziert und in sonst ruhigen Haltungen wird zu kleinen Bewegungen eingeladen.

Da Sicherheit und Vertrauen essentielle Elemente des traumasensiblen Yoga sind, eignen sich naturgemäß geschlossene Kurse mit festen Teilnehmenden am besten. So können die Lehrenden die Teilnehmenden besser kennen- und einschätzen lernen und sich so zielgenauer auf deren Bedürfnisse einstellen. 

3. Das Vermeiden von Extremen

Trauma geht mit einer Dysregulation im Nervensystem einher. So berichten mir Klient:innen häufig, dass sie sich in einer Alarmbereitschaft erleben, einer hohen Anspannung, die immer mal wieder durch tiefe Erschöpfung abgelöst wird. Diesem Ping Pong zwischen den Extremen begegnen wir im traumasensiblen Yoga mit ruhigen Asana-Sequenzen, die genug Pausen zum Nachspüren lassen. Auf Extreme wie sehr kraftvolle Vinyasa-Sequenzen und sehr lang gehaltene Yin-Haltungen verzichten wir dagegen.

Geeignete Übungen für traumasensibles Yoga

Generell gibt es Asanas, die sich für traumasensibles Yoga mehr empfehlen als andere.

Nicht geeignet sind etwa:

  • Haltungen, in denen die Übungen sich gefühlt schutzlos exponieren müssen, etwa Happy Baby.
  • Übungen, in der die Teilnehmenden wenig Orientierung im Raum haben, zum Beispiel längere Sequenzen in Rückenlage.

Geeignet ist alles, was Orientierung, Stabilität und Selbstwirksamkeit unterstützt:

  • Viele Teilnehmer:innen haben mir beispielsweise erzählt, dass sie stehende Balancehaltungen wie den Baum Vrksasana als sehr stabilisierend und zentrierend erleben.
  • Auch die Kriegerhaltungen Virabhadrasana I, II und III werden oft als angenehm empfunden, da sie den Zugang zur eigenen Kraft und Selbstwirksamkeit erleichtern.

Dabei spielt allerdings – wie bei allen Yogapraktizierenden – das subjektive Empfinden eine große Rolle: Vereinzelt berichten Teilnehmende in meinen traumasensiblen Klassen, dass sie sich mit diesen kraftvollen Standhaltungen schwer tun, da mit ihnen eine gewisse Sichtbarkeit einhergeht, die sich für manche von Trauma betroffene Menschen bedrohlich anfühlt. 

Das Gefühl der Stabilität lässt sich außerdem unterstützen durch Hilfsmittel, die alle zu Hause haben:

Yogahaltungen mit dem Stuhl

Übung am Stuhl im Stehen

Aus der Erfahrung heraus, dass Standhaltungen im traumasensiblen Yoga für viele Menschen hilfreich sind, kann das Erleben von Stabilität, Sicherheit und der eigenen Kraft durch einen Stuhl unterstützt werden. 

  • der Baum, Vrksasana, kann durch die optionale Nutzung des Stuhls zugänglicher sein.
  • In Virabhadrasana II, dem zweiten Krieger, und dem Dreieck Trikonasana kann das Üben mit dem Stuhl die Stabilität in der Haltung unterstützen. Zudem kann durch das aktive Abstützen vom Stuhl mehr Bewusstsein und Kraft in das hintere Bein gebracht werden.

Durch genügend Zeit, um die Haltungen in Ruhe einnehmen zu können, können Übende freier entscheiden, auf welcher Höhe sie etwa das Spielbein im Baum ansetzen möchten und wie groß der Schritt in den Standhaltungen sein soll, um sich nicht zu überfordern, sondern in der eigenen Kraft zu unterstützen.


In diesem Video zeigt Anna Trökes eine einfache Yoga-Sequenz mit Stuhl:


Yogahaltungen mit der Wand

Übung an der Wand

Auch die Wand kann als Unterstützung gut genutzt werden. Sei es, um sich zwischen den Haltungen kurz anzulehnen und Halt zu spüren oder um in eine Vorbeuge zu gehen, in der die Wand von hinten Schutz bietet.


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Traumasensible Schlussentspannung

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Wie weiter oben schon erwähnt, können Asanas, die mit viel Ruhe, Passivität und Innenschau einher gehen bei Trauma auch kontraproduktiv sein. Wie kann ein ruhigerer Abschluss einer traumasensiblen Yogastunde demnach gelingen?

Eine Möglichkeit besteht darin, die Stunde im Sitzen zu beenden. Dabei kann auch wieder die Wand genutzt werden. Hier kann es hilfreich sein, den Blick schweifen zu lassen und sich im Außen zu orientieren. Für sich in Stille zu benennen, was man sehen kann wirkt auf viele Menschen stabilisierend. Alternativ könnte eine Eigenberührung helfen, beispielsweise im Gesicht- oder Kopfbereich, bei der sich die Übenden darauf konzentrieren, welche Art der Berührung am stimmigsten und angenehmsten ist.

Wenn die Schlussentspannung Savasana im Liegen möglich ist, kann es hilfreich sein, den Kopf erhöht zu legen. Auch können kleine Bewegungen, wie das Rollen auf der Kopfrückseite und die damit einhergehende Orientierung im Raum, hilfreich sein.

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Du entscheidest, was dir gut tut

Abschließend ist es mir wichtig zu betonen, dass dies nur ein kleiner Auszug davon ist, was traumasensibles Yoga ausmacht. Dabei sind die dargestellten Asanas eher beispielhaft zu sehen. Solltest du merken, dass die Übungen für dich nicht passend sind, ist das ganz normal. Lass dich davon nicht entmutigen, sondern halte weiter nach dem Ausschau, was für dich am passendsten ist. Wir freuen uns, wenn du deine Erfahrungen mit uns in den Kommentaren teilst.


 

Buch Eva WeinmannIm Herbst 2023 ist Eva Weinmanns Buch „Wenn dein Körper sich erinnert“ zu traumasensiblem Yoga im Drömer Knaur Verlag erschienen.

Mehr über Eva Weinmann und ihre Arbeit erfährst du unter yogaundtherapie.info.

 

 

 

 

Eva Weinmann
Eva Weinmann

Eva Weinmann ist Diplom-Psychologin, Therapeutin und seit 2005 Yogalehrerin. Acht Jahre lang leitete sie ihre eigene Yogaschule in Stuttgart, bevor sie ins schöne Chiemgau zog. Sie arbeitet bei Wildwasser e.V., einer Fachberatungsstelle für Frauen*, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und ist als Therapeutin in eigener Praxis am Chiemsee und online tätig. Zudem bietet sie Workshops, Retreats und Fortbildungen in traumasensiblem Yoga an. 

Mehr zu Eva findest du unter www.yogaundtherapie.info und auf Instgram unter @eva.weinmann.

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