Mitgefühl & Yoga: Die 4 Qualitäten des Herzens

Von Katharina Goßmann

In schwierigen Phasen gibt kaum etwas Schöneres, als zu wissen, dass es Menschen gibt, denen man sich voll und ganz anvertrauen kann, die den Raum halten können für Schmerz, Verzweiflung und Trauer und helfen, wo sie können – kurz: Menschen, die dir ihr Mitgefühl schenken. 

Was genau ist mit Mitgefühl?

Wenn Mitgefühl in dir aufsteigt, merkst du das daran, dass du die Erfahrung eines anderen Menschen wirklich „mitfühlen” kannst, dich dadurch mit ihm oder ihr verbunden fühlst und du das Bedürfnis hast, das Leiden des/der anderen zu lindern. 

Mitgefühl ist ein relativ komplexes Gefühl. Es erfordert, dass du emotional mit deinem Gegenüber in Resonanz gehen kannst (Empathie), dich diesem Gefühl öffnen kannst, ohne dadurch selbst emotional gestresst zu sein, und den Wunsch haben musst, zu helfen – auch wenn das für dich mit Aufwand verbunden ist (Altruismus).

Die vier Tugenden: Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut

Yogi:nis kennen Mitgefühl aus dem dritten Kapitel von Patanjalis Yogasutra. Dort finden sich die folgenden vier Grundtugenden, die auf Sanskrit Bhavanas genannt. Patanajali meinte, dass die vier Tugenden zu einer Realität voll heiliger Klarheit führen würden – sprich: Eine effektive Unterstützung auf dem Weg zur Erleuchtung sind.

  • Liebe – Maitri oder Mettā genannt
  • Mitgefühl – Karuṇā
  • Mitfreude – Muditā
  • Gleichmut – Upekkhā/Upeksha

Tugend Nr. 2 ist also Karuna, das Mitgefühl. Laut Wikipedia ist Karuna „eine Haltung des Mitgefühls, in der sich alle dualistischen Vorstellungen und die damit verbundenen Widerstände und Abneigungen auflösen: Allen Wesen und allen Erscheinungen dieser Welt wird mit derselben alles umfassenden Liebe und Hilfsbereitschaft begegnet.”

Hier zeigt sich schon, dass Karuna auch die anderen drei Grundtugenden in sich vereint: 

  • Um Karuna zu praktizieren, ist es unabdingbar in wirklicher Liebe (Metta) mit allen Wesen verbunden sein. Wenn dir jemand egal ist, oder du ihn oder sie verachtest, wird Mitgefühl eher selten in dir entstehen.
  • Wenn du aber mit offenem Herzen auf Menschen zugehst, in dieser Weise mit deinen Mitmenschen verbunden bist, wirst du dich auch mit ihnen freuen, wenn ihnen Gutes wiederfährt (Mudita).
  • Eine wichtige Grundlage für diese liebevolle Verbundenheit ist eine Haltung inneren Gleichmuts (Upeksha). Damit ist nicht Gleichgültigkeit gemeint, sondern eine innere Ruhe und Klarheit, die unabhängig davon ist, was im Außen gerade passiert und wie das vielleicht von anderen erlebt oder eingeschätzt wird. Gemeint ist also nicht, dass uns das Geschehen oder die Gefühle anderer egal sind, oder dass wir so uns so hoffnungs- oder machtlos fühlen, dass wir einfach alles geschehen lassen. Vielmehr geht es darum, dass wir alle und alles so annehmen, wie es gerade ist. Denn erst diese Haltung ermöglicht es uns, unabhängig von eigenen Werturteilen oder Befürchtungen wirklich mitzufühlen, und im Zweifelsfall einzugreifen und zu unterstützen, wo es nötig und sinnvoll ist.

Patanjali hat die vier Bhavanas übrigens aus den budddhistischen Lehren übernommen, wo sie als Bhramavihara bekannt sind. 


Exkurs: Empathie, Mitgefühl & Mitleid – die feinen Unterschiede

Oft werden Empathie, Mitgefühl und Mitleid als Synonyme verwendet. Diese Begriffe lassen sich aber voneinander abgrenzen.

Nehmen wir folgendes Beispiel: 

Deine beste Freundin erzählt dir, dass ihr Mann sich von ihr getrennt hat. Um die Situation der Freundin nachempfinden zu können, musst du empathisch sein. Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle einer Person in einer bestimmten Lage nachvollziehen zu können, also quasi deren Perspektive einnehmen zu können. Wenn du empathisch mitschwingst, kannst du – aus der emotionalen Distanz – nachempfinden, was Menschen in einer akuten Trennungssituation wahrscheinlich fühlen.

Das ist aber noch nicht Mitgefühl. Denn bei einer Freundin werden wir ihren Schmerz eben nicht nur theoretisch und aus der Ferne nachempfinden. Wir werden tief mitfühlen, wirklich Anteil nehmen am Schmerz unserer geliebten Freundin und uns so gut wie möglich um sie kümmern, sie unterstützen in dieser herausfordernden Lebensphase.

Wenn wir aber selbst gerade etwa in einer Ehekrise sind, könnte es sein, dass dadurch in uns Gedanken und Gefühle hochkommen, die uns ins Mitleiden rutschen lassen: Vielleicht bekommen wir selbst Angst vor dem Verlassenwerden, malen uns Horrorszenarien aus, wie die Kinder reagieren werden etc. Sobald ich mitleide, bin ich in sogenanntem „empathischen Stress” – also so von der Situation belastet, dass ich keine wertvolle Unterstützung mehr für dich bin. Ebenso wenig hilfreich wäre es, wenn wir – vielleicht auch aus Angst und zur Abwehr unangenehmer Gefühle in uns – in die emotionale Distanz gehen und Mitleid empfinden für die arme Freundin, die nun all die unangenehmen Folgen einer Scheidung ertragen wird müssen.


Warum ist Mitgefühl eine so wichtige Fähigkeit?

Stell dir mal vor, dein Kind ist hingefallen und hat sich verletzt. Oder eine Kundin ruft verzweifelt an, weil das bestellte Geschenk noch nicht angekommen ist. Oder vielleicht hat dein Partner gerade eine sehr stressige berufliche Phase und ist deshalb wochenlang gereizt. Wie gut könntest du mit diesen Situationen umgehen, wie adäquat könntest du auf die Bedürfnisse der betreffenden Person reagieren, wenn du kein Mitgefühl empfinden könntest? Wohl eher schlecht. Ohne Mitgefühl siehst du nur ein schreiendes Kind, eine aggressive Kundin, hörst nur den unangenehmen Ton in der Stimme deines Partners. Wenn du aber verstehst, was dein Gegenüber gerade durchmacht, was ihn oder sie belastet, dann verstehst du auch, warum sie sich so verhalten. Und kannst dann so reagieren, dass sich die Situation zum Besseren wendet.

Mitgefühl ist dadurch auch essentiell für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Es sorgt dafür, dass wir Menschen unser Herz öffnen, die wir nicht kennen, die sich vielleicht stark von uns unterscheiden – einfach, weil wir ihre Erfahrung nachfühlen können. Mitgefühl ist damit die Basis für Mitmenschlichkeit und die gute alte Nächstenliebe. Konkreter: Ohne Mitgefühl ist ein erfolgreiches Zusammenleben von Menschen nicht möglich. Das zeigt sich etwa an Menschen, die nicht oder sehr eingeschränkt zur Empathie fähig sind – sie sind landläufig als Psychopath:innen bekannt und neigen zu Gewalt und Konflikten mit dem Gesetz. Ohne Mitgefühl wären Begriffe wie Liebe, Freundschaft, Verständnis, Fürsorge und Rücksichtnahme nur leere Worthülsen und eine solidarische Gemeinschaft nicht möglich.

Mitgefühl ist übrigens kein Zustand, der einen auslaugt oder kraftlos zurücklässt. Ganz im Gegenteil: Mitgefühl zu geben und zu empfangen fühlt sich positiv an – warm, verbunden, nährend. Wenn wir unser Mitgefühl kultivieren, in Verbindung gehen, solidarisch handeln, dann geht es uns besser. In einer Gesellschaft, die auf Mitgefühl basiert (statt auf Spaltung, Neid, Ausgrenzung), ginge es folglich allen – auch denen, die mehr geben als die anderen – besser.

Wie kann man Mitgefühl entwickeln? 

Es lohnt sich also eine Haltung von Mitgefühl zu pflegen und zu kultivieren. Wir haben 4 Tipps für mehr Mitgefühl für dich: 

1. Meditation als Weg zum Mitgefühl

Mitgefühl ist eine Eigenschaft, die sich wie ein Muskel trainieren lässt. Es ist erwiesen, dass Mönche mit jahrelanger Meditationspraxis viel schneller ins Mitgefühl gehen können. Besonders gut geeignet ist die traditionelle buddhistische Metta-Meditation. In ihr sendest du immer wieder Liebe und Glück zu dir und deinen liebsten Menschen – aber auch zu Menschen, denen du neutral gegenüber stehst und sogar solchen, die du nicht magst oder die dir Leid zugefügt haben.

Wenn du diese Metta-Meditation von Laura Malina Seiler regelmäßig übst, wird es dir auch in Alltagssituationen immer leichter fallen, allen Menschen mit liebender Güte zu begegnen:

2. Schenke dir selbst Mitgefühl

Kennst du das Sprichwort, dass du nur dann andere lieben kannst, wenn du dich selbst liebst? So, wie du auf dich selbst blickst, so blickst du auch auf andere Menschen. Wenn du also beim kleinsten Fehler hart und gnadenlos mit dir selbst ins Gericht gehst, wirst du das auch bei deinen Kindern, Freund:innen und Kolleg:innen tun.

Wirkliche Selbstakzeptanz und Selbstliebe hat so viele positive Effekte auf dein Leben, dass es in jedem Fall sinnvoll ist, einen milden, liebevolle Blick auf sich selbst zu entwickeln. Mitgefühl für dich selbst zu praktizieren, ist aber auch der schnellste Weg dein Mitgefühl für andere zu stärken. 

Probiere doch mal folgendes:

  • Nimm heute mal ganz achtsam wahr, wie du mit dir sprichst, wenn du etwas machst, was du nicht gut findest – Schokolade essen oder die Kinder ausschimpfen. Ganz schön hart, wie du dich da verurteilst, oder?
  • Wenn du merkst, dass du dich gerade abwertest oder mit dir schimpfst, dann sage (laut oder in deinem Kopf) „Stopp!” und höre auf damit.
  • Jetzt stell dir vor, wie deine beste Freundin, dein bester Freund auf dein Verhalten reagieren würden. Vielleicht: „Das ist gerade eine so herausforderne Zeit für dich, ein bisschen Schoki ist da genau das Richtige.” Oder: „Ich glaube, du brauchst dringend eine Pause. Und wenn du dich ein bisschen erholt hast, gehst du zu deinen Kindern, knuddelst sie und entschuldigst dich, und erklärst ihnen, dass dein Ton nichts mit ihnen zu tun hat.”
  • Probiere dann selbst dein bester Freund, deine beste Freundin zu sein und sprich verständnisvoll und sanft mir dir. Das fühlt sich herrlich an, oder?

3. Befreie dich von Urteilen

Wenn wir aufwachsen, übernehmen wir die (Vor-)Urteile unserer Umwelt: Frauen sind so, Männer anders, die eine Religion ist besser als die andere, schlank ist attraktiver als dick und so weiter. Manchmal, aber doch eher selten sind solche Schubladen hilfreich: „Aggressive Menschen mit einem Messer in der Hand sollte man nicht reizen.” etwa könnte sich als hilfreiches Vorurteil herausstellen. Meistens aber hindern diese Schubladen uns daran, den Menschen hinter den äußeren Merkmalen zu sehen. Und das ist nicht nur schade – denn wer von uns will nicht gerne vorurteilsfrei angenommen werden? –, es hindert uns auch daran, zu erkennen, dass wir als Lebewesen auf diesem Planeten alle zusammengehören, das gleiche Schicksal teilen, vor den gleichen Herausforderungen stehen.

Die buddhistische Lehrerin Pema Chödron sagt, dass Mitgefühl erst dann entstehen kann, „wenn wir uns unseres gemeinsamen Menschseins bewusst werden” . Wenn du mehr darüber wissen willst, wie es dir gelingen kann, weniger zu urteilen und mehr anzunehmen, dann empfehlen wir dir unseren Artikel „Judgement Detox: Wie du aufhören kannst zu urteilen”.

4. Heile deine Angst 

Wie schon erwähnt, kippt Empathie in Mitleid(en), wenn das Leid anderer sich für dich bedrohlich anfühlt, dir Angst macht. Dieses Phänomen nennt sich „empathischer Stress”. Im Gegensatz zu Mitgefühl, das positive Gefühle wie Wärme und Verbundheit auslöst, führt der empathische Stress dazu, dass wir andere nicht mehr unterstützen können. Dafür müssen wir uns selbst erst wieder emotional regulieren. 

Um ohne Stress mitfühlen zu können, musst du dich sicher fühlen – auch im Angesicht von Leid, Schmerz, Trauer. Viele von uns haben nie gelernt, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und mit den unweigerlich auftauchenden unangenehmen Gefühlen umzugehen. Es ist eine Lebensaufgabe, sich ganz neu dem Leben gegenüber zu positionieren und mutig Gefühle zu fühlen, die uns scheinbar den Boden unter den Füßen wegziehen. 

Vielleicht probierst du in den kommenden Wochen mal Folgendes: Immer, wenn dir eine Situation Angst macht, wenn ein Problem auftaucht, beginnst du entspannt und tief zu atmen, schließt vielleicht die Augen und wiederholst folgende Affirmation so lange, bis du dich wieder sicher fühlst: „Alles ist gut. Ich bin sicher. Ich bin geliebt.”

Vielleicht wird diese wunderbare Affirmation der amerikanischen Autorin Louise Hay ja zu deinem neuen Lebensmotto – für ein Leben voller Mitgefühl für dich, und für alle anderen Wesen in diesem Universum. 


Quellen (neben den im Text verlinkten):


Das Beste vom Yoga für dich nach Hause – 7 Tage gratis

Katharina Goßmann
Katharina Goßmann

Katharina ist Mutter, Yogalehrerin und Psychologin. Bei YogaEasy ist sie das Herz der Redaktion und schreibt über Yoga, wahres Glück und Heilung. Ihre Artikel werden unter anderem im „Yoga Journal” und in der „Happy Way” veröffentlicht.