Sukhasana – Schneidersitz
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Hatha Yoga Pradipika: Die Leuchte auf deinem Weg

Von Birgit Feliz Carrasco

Die Geschichte der Pradipika

Vermutlich ist die Hatha Yoga Pradipika um 1500 nach Christus oder etwas früher entstanden. Geschrieben wurde das Werk von Swami Swatmarama – und zwar in einer Zeit, in der die Menschen im alten Indien begannen, sich mit Körper, Gesundheit und Seelenheil auseinander zu setzen und immer mehr Erkenntnis verlangten und erlangten, statt der gebildeten Gesellschaftsklasse der Brahmanen das Wissen darüber zu überlassen. Es war eine Epoche des Umbruchs und des wachsenden Interesses am Sinn des Lebens, der Schöpfung und aller Zusammenhänge, die auch in anderen Kulturen gravierende Veränderungen auslöste – beispielsweise in Europa durch Martin Luther und seiner Übersetzung der Bibel für das Volk.

Die bekannteste deutsche Übersetzung der „Hatha Yoga Pradipika” stammt von Hermann Walther aus dem Jahr 1893, der mit der Philosophischen Fakultät München in Verbindung stand und das Originalwerk von Swami Swatmarama sowie englische Übersetzungen der Pradipika studierte. Aus Walthers Schriftwerk stammen die Zitate in diesem Artikel.


Yogaphilosophie-Fortbildung: Yogasutra von Patanjali


Pragmatisch statt philosophisch

Hatha yoga pradipika Kapitel 1 Fischpose

Im Gegensatz zu Patanjalis philosophischen Werk „Yogasutra”, das ungefähr im Jahr 400 vor Christus entstand, ist die deutlich jüngere „Hatha Yoga Pradipika” ein Buch mit konkreten Übungen, die den Körper verfeinern und vervollkommnen. Hatha Yoga meint hier also den Yoga-Weg, der sich mit den körperlichen Techniken des Yoga beschäftigt.

Pradipika bedeutet übrigens Licht, Lampe oder Leuchte – die „Hatha Yoga Leuchte" will also die Anleitung für deinen Weg zur Erleuchtung sein. Allerdings eine Anleitung, die nur dem Guru bekannt sein sollte und weniger den Übenden: 

„Von dem Yogin, der nach Vollendung strebt,
muss die Kenntnis des Hatha Yoga sorgfältig geheimgehalten werden,
denn geheimgehalten ist sie wirksam, kundgegeben aber wirkungslos.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 1, Vers 11

Wenn wir diese Aussage aus einer Zeit ernst nehmen, in der Yoga vielen noch als Geheimlehre galt und die Schüler bedingungs- und erklärungslos den Anweisungen des Lehres folgten, dürfte es diesen Artikel nicht geben. Und auch keine Yogastudios, Yogabücher und -videos, und keine weltweite Yoga-Community. Das wäre schade, nicht wahr?

Lesen, nachmachen und spüren

„Man lege den rechten Fußknöchel auf die linke Seite des Rückens und den linken auf die rechte Seite.
Das ist Gomukha, welches das Aussehen eines Kuhgesichtes hat.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 1, Vers 20

Zu unserer aller Freude existiert Hatha Yoga heute noch und wurde von vielen Yogalehrenden erweitert und variiert, sodass jeder Körper Yoga zum individuellen Vorteil praktizieren kann. Interessant ist es, die überlieferten, ursprünglichen Anleitungen zu lesen. Ich empfinde dabei immer eine Art Energieübertragung, als ob die Schwingungen der vielen Gurus und Yogis, die Yoga praktizierten und heimlich weitergaben, bis in das Jetzt ausstrahlen und uns über alle Zeitschienen hinweg vereinen.

Die Lehren der Hatha Yoga Pradipika

Es ist nicht ganz einfach zu verstehen und nachzumachen, was in der „Pradipika” als Übungsanleitung niedergeschrieben wurde. Aber vielleicht hilft es uns ja trotzdem auf dem Weg zur Erleuchtung! 

Kapitel 1. Übungsplatz und Ablauf

Hier finden wir Rituale, Ziele und Vorschriften zur Praxis von Asanas, Lebensführung nach Yama und Niyama sowie Ernährung.

Laut Hatha Yoga Pradipika sollen wir die Asana-Praxis mit der Verehrung des Gottes Shivas beginnen, der die Lehre des legendären ersten Yoga-Meisters und -Lehrers Matsyendra verkündet hat.

Matsyendra und andere Yogis in seiner Nachfolge gelangten durch Hatha Yoga zur Erleuchtung:

„Sind Personen durch Hatha Yoga hochvollkommen geworden,
überwanden sie die Macht des Todes und schweifen durch das Weltall.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 1, Vers 9


Das Aussehen eines idealen Yoga-Übungsplatzes wird in der Vorschrift 13 als eine kleine Zelle beschrieben, die eine Tür, aber kein Fenster hat, deren Wände mit Kuhmist bestrichen sind und die frei von Ungeziefer sein soll. Außen soll sie mit Laub und innen mit einem Altar und einem Brunnen verschönert werden. Ich gehe davon aus, das wir heute andere Baustoffe verwenden dürfen...

Zudem wird in der „Pradipika” der Charakter des Körperyoga als eine einsam auszuführende Praxis deutlich dargestellt. Von Yoga-Festival mit hunderten Teilnehmer:innen also keine Rede.

„Unter mäßiger Nahrung versteht man milde und süße Speise, von der aber bloß drei Viertel,
und zwar nur um das Leben zu fristen, genossen werden.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 1, Vers 20


Kapitel 2. Pranayama und Kriyas

Kapitel 2 befasst sich mit der Lehre der Lebensenergie des Prana, den Atemübungen Pranayama und den Kriyas (Reinigungsritualen).

Pranayama soll erst nach der Beherrschung aller Asanas praktiziert werden. Kumbhaka, also das Anhalten der Atmung wird als wichtigste Übung zur Verlängerung des Lebens beschrieben – solange der Atem im Körper bleibt, wird dies Leben genannt und als Tod, wenn der Atem den Körper verlässt.

„Ist der Atem tätig, so ist auch der Geist tätig.
Ist der Atem untätig, so ist auch der geist untätig.
Der Yogin sucht vollkommene Ruhe zu erlangen, daher halte er seinen Atem an.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 2, Vers 2


Dabei werden klassische und bis heute bekannte Pranayama-Übungen wie z.B. Ujjayi, Sitali, Bhastrika, Bhrahmari oder Sitkari beschrieben.

„Die Zunge zur Praxis von Sitkari zwischen die Lippen legen und die Luft
über den Mund einziehen und über die Nase ausatmen.
Wer dies tut, wird gleich an Zaubermacht dem Kreise der Yogini und ist im Stande,
die sichtbare Welt zu vernichten.
Es entstehen weder Hunger, Durst, noch Trägheit oder Schlaf.
Der Körper wird stark und der Yogin wird vor allen Angriffen auf diesem Erdenrund bewahrt.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 2, Vers 54-56

Zudem widmet sich die Pradipika den sechs geheimen Reinigungsübungen (Kriyas) – die etwas ausgefallenen Magen-Darm-Trakt-Übungen Dhauti, Basti und Nauli, die Nasenspülung Neti, die Augenübung Trataka und die Atemübung Kapalabhati. Sie sollen von allen Krankheiten befreien und für Reinheit in Körper und Geist sorgen und damit für jeden ernsthaften Yogi eine Pflichtaufgabe darfstellen. Mehr über die Kriyas erfährst du in unserem ausführlichen Artikel.

Kriyas Neti Nasenspülung

Kapitel 3. Kundalini rising

In diesem Kapitel wird die Lehre der Urkraft der Kundalini erläutert. Durch Praxis von diversen Mudras mit dem Körper (wie z.B. Mahamudra), Bandhas (Mahabandha, Kechari – das auch in Kapitel 4 noch mal aufgegriffen wird, Mulabandha, Uddiyanabandha, Jalandharabandha) und tantrischen Energieübungen wird die Kundalini-Energie aktiviert und ihr blockadefreier Aufstieg durch den Körper vorbereitet.

„Man übe Kechari so lange, bis man sich im Yogaschlaf befindet.
Für den im Yogaschlaf Befindlichen gibt es keinen Tod.
Nachdem man den Geist unabhängig gemacht hat, denke man an gar nichts.
So ist man gleich eines Kruges, der leer ist, während sich außen Äther und innen Brahma befinden.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 4, Vers 49-50


Bandhas: Entschlüssele deine Energie


Kapitel 4. Erleuchtung

Im letzten Kapitel wird die erhabene Disziplin des Samadhi erläutert, also die Erlangung und Erhaltung des Zustands der Erleuchtung.

„Samadhi ist die vollkommene Identität des Individuums mit der Allseele, die Paramatman genannt wird und das höchste, größte Selbst ist. Samadhi vernichtet alles irdische Verlangen.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 4, Vers 7

Wie würde unser Sein, unser Zusammenleben und unser Umgang mit der Erde aussehen, wenn wir alle von irdischem Verlangen befreit wären? Wenn wir vollkommen in unseren weisen Herzen wohnten und mit der Urliebe der Schöpfung in steter Verbundenheit lebten? Für mich gibt es keinen Zweifel: Es wäre das Paradies.

„Ohne Verbindung mit dem Höchsten glänzt die Erde nicht.
Ohne Verbindung mit dem Mond glänzt die Nacht nicht (...)
Wer die Yoga-Unterweisung gemäß der Überlieferungen erteilt,
wird selbst ein Sriguru, ein verkörperter Ishvara.”

Hatha Yoga Pradipika, Kapitel 3, Vers 126 und 129

Kein Wunder, dass die Praxis von Hatha Yoga über Jahrtausende als eine Geheimlehre gehandhabt wurde. Damals wie heute gab und gibt es Strukturen, die Verlangen als Lebensprinzip fördern. Wir tun gut daran, die Geheimlehre des Hatha Yoga und die Loslösung von Verlangen und Erwartungen weiter zu verbreiten.

Paradise in Love and Light
wünscht dir,
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco ist Heilpraktikerin, Seelen-Coach und Yogatherapeutin sowie renommierte Buchautorin und Bloggerin. Sie hält regelmäßig Seminare für spirituelle Bewusstheitsentwicklung, bei denen Interessierte und Yogalehrende, die sich fortbilden wollen gleichermaßen willkommen sind. Informationen zu ihrer beratenden Tätigkeit, Hellfühligkeit und Channeling findest du unter birgitfelizcarrasco.com.

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