Du bist nicht allein: Community im Yoga

Von Kristin Rübesamen

Vor einiger Zeit stand ich auf dem Bahnsteig in Berlin und wartete auf meinen Zug. Wie so oft war ein Zug ausgefallen, ein Zusatzzug wurde in Aussicht gestellt – noch fanden Reparaturen statt – und alle suchten in ihren Handys nach Antworten. Eine Frau wollte nach Halle, und die Zugbegleiterin mit langen, vampirschwarzen Fingernägeln erklärte ihr freundlich, dass sie ihr nicht helfen könne, alle Informationen seien in der App. Welche App, fragte die Frau. Während sie sich unterhielten, kam eine Durchsage, dass ein Zug (welcher auch immer) erfreulicherweise in Halle halten wollte, aber nur in bestimmten Abteilen. Irritation, Handy, Kopfschütteln, Hektik. Die Zugbegleiterin eilte dem herannahenden Zug entgegen, die Dame blieb zurück. Ich sprach sie an und suchte in der DB-App nach einer Alternative, die sie nach Halle bringen würde. Wir kamen ins Gespräch. Was soll ich sagen? Sie kam aus Chennai, sagte im zweiten Satz „Krichnamacharya“ und wir stellten beide fest, wie wichtig dieser Mann für die Entwicklung der globalen Frauengesundheit im 20. Jahrhundert gewesen war. Innerhalb von zwei Minuten waren wir miteinander verbunden. Dann musste ich einsteigen und Amna, die Dame aus Chennai, ging sich einen Kaffee holen, bis ihr Zug kam.


Yogaphilosophie-Fortbildung: Yogasutra von Patanjali


Einzelkämpfer:innen bekommen den meisten Applaus. Was für ein Unsinn.

Vielleicht ist es bei Marathon-Läufer:innen, Fußballer:innen, Tischtennisspieler:innen ähnlich, wenn sie anderen Menschen begegnen: Dieses subkutane Abtasten im Gespräch mit Unbekannten, ob es beim Gegenüber ein Interesse gibt an dem, was einem selbst wichtig ist. Mir geht es jedenfalls so. Ich möchte irgendwann immer wissen, was die anderen Menschen motiviert, stabil hält, resilient macht, auch was ihnen Spaß macht. Ich treffe viele Leute und oft bin ich erstaunt, wie viele von ihnen denken, sie müssten alles alleine schaffen. Das Gefühl, sich alleine durchbeißen zu müssen, hängt mit unserem Zeitgeist zusammen. Einzelkämpfer:innen bekommen den meisten Applaus. Wer dagegen zugibt, besser im Team zu funktionieren oder gar auf die Unterstützung anderer angewiesen zu sein, gilt schnell als schwach. Was für ein Unsinn. 

Geteilte Erfahrungen

Yoga bedeutet Verbindung. Mit uns selbst, aber auch miteinander. Was es bedeutet, keine primären Erfahrungen mit anderen Menschen haben zu können, steckt uns allen noch aus der Corona-Zeit in den Knochen. Erinnert ihr euch noch, wie verrückt es war, auf einmal wieder in ein reales Yogastudio zu gehen und mit anderen unter einem Dach zu üben? Der Raum, den wir teilen, ist kostbar. Auch wenn wir die Aufmerksamkeit nach innen und auf unseren Atem richten in der Praxis, informiert uns der gemeinsame Raum über die anderen Menschen. Wir spüren intuitiv, dass wir nicht alleine sind.

Diesen Raum virtuell zu halten, versuchen wir bei YogaEasy seit Corona mit unseren Live-Klassen, deren Erfolg uns recht gibt: Es gibt ein großes Bedürfnis danach, gemeinsam zu üben, oder genauer gesagt, miteinander nach Innen zu gehen. Das geht weit über Zoom hinaus, es hat eine spirituelle Dimension. Menschen, die das Gefühl haben, alles alleine stemmen zu müssen, Misserfolge alleine durchleiden zu müssen, Erfolgserlebnisse nicht mit anderen teilen zu können, erleben in der gemeinsamen Praxis, dass geteilte Erfahrungen doppelt so wertvoll sind. Gemeinsam in die Krähe, gemeinsam durch die Sonnengrüße schweben, gemeinsam meditieren. 


Zum Weltyogatag haben Isabel Djukanovic und Kristin Rübesamen für YogaEasy einen kostenlosen Online-Workshop zum Thema „Yoga und Verbindung“ gegeben. Schau ihn dir hier an!


Wenn man miteinander redet

Besonders spürbar wird das auf Yoga-Retreats. Ich komme gerade von einem zurück. Als Veranstalterin bin ich immer auf das Schlimmste gefasst. Dass es zu emotional wird, dass Leute ausflippen, sich betrinken, Streit suchen, etwas in Flammen aufgeht, eine Überschwemmung droht, sich jemand verletzt, beleidigt abreist, oder einfach nicht happy ist. Nichts davon passiert. Im Gegenteil, auf jedem Retreat kommt der Moment, wo ich es einfach nicht glauben kann, wie gut es den Menschen tut, gemeinsam zu üben, wie sich dann alles von alleine ergibt. Everything falls into place, sagen unsere englischen Freunde. In all den Jahren gab es einmal eine Teilnehmerin, die sich abends im Gemeinschaftsraum vor den taktvoll verhüllten Fernsehapparat setzte und laut fernsehen wollte. Und letztes Jahr den (nicht am Yoga teilnehmenden) reizenden Freund einer Teilnehmerin, der alle im Hund filmen wollte und damit bei der Gruppe auf Irritation stiess. Nichts davon war tragisch. Für alles findet man eine Lösung, wenn man miteinander redet.

Mehr Maitri bitte

In der Yogasutra des Yoga-Weisen Patanjali wäre für mich der entsprechende Vers 1.33, hier in der Übersetzung meines Kollegen Dr. Ronald Steiner:

भावनातश्चित्तप्रसादनम् 

maitrī-karuṇā-muditopekṣāṇāṁ sukha-duḥkha-puṇyāpuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaś citta-prasādanam

Freundlichkeit (maitrī) und Mitgefühl (karuṇā), Mitfreude (muditā) und Nachsicht (upekṣā) sind die vier Qualitäten Deines Herzens. Kultiviere sie in guten (sukha) wie in schlechten Zeiten (duḥkha). Erinnere Dich an sie, wenn Dir alles gelingt (puṇya), oder auch etwas misslingt (apuṇya). Das verwandelt Deinen inneren Wahrenhmungsraum (citta) und Du erfährst Dich in einer Welt voll heiliger Klarheit (prasādana).

Aufgewachsen in einer Familie mit eigensinnigen Geschwistern, lauten Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins, aufgelesenen Katzen, fetten Hasen und einer Bande Nachbarjungs, mit denen wir an Sommerabenden eine Straßenkreuzung blockierten, um ein seltsames Spiel namens „Papstverband“ zu spielen, und bis heute in einem Milieu unterwegs, welches Individualismus preist egal zu welchem Preis, weiß ich, dass nichts davon einfach ist: Freundlichkeit, Mitgefühl (nicht zu verwechseln mit dem herablassenden Mitleid), Freude und Nachsicht sind fantastische Qualitäten, ohne die ein Leben nur sehr kümmerlich wäre. Also, mehr Maitri bitte.


In diesem Video führt dich Dr. Patrick Broome in eine fortgeschrittene Meditation für Mitgefühl, Liebe und tiefe innere Ruhe: 

Meditation für Fortgeschrittene: Mitgefühl, Liebe und tiefe innere Ruhe


Mein Zug sollte an jenem Tag tatsächlich zwei Minuten früher als geplant ankommen. „Verfrühung“ sagte die Kontrolleurin und strahlte ihren jungen Kollegen an, mit dem zusammen sie das Abteil zu zweit durchkämmte. Beide lachten herzlich: „Aber noch sind wir nicht da“. 

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .