
Kopf hoch: Was dein Atlaswirbel alles kann
Vor einiger Zeit fiel mir in einem Restaurant in einem Badeort eine Frau in die Arme. Ich hatte sie schon eine Weile beobachtet, wie sie die Lippen zusammenbiss, während sie sich mit steifen Gliedern nach vorne beugte, um das Geschirr von den Tischen eines Restaurants zu räumen. Ich wartete auf einen Freund, der dort kocht. Als ich der Frau meine Hilfe anbot, wehrte sie ab. Schließlich konnte ich es nicht länger mitansehen und begann entschlossen ohne sie anzusehen, gemeinsam mit ihr die restlichen Tische abzuräumen. Als sie fertig war, massierte sie mit geschlossenen Augen ihren Nacken, atmete langgezogen durch den Mund aus, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Ich fragte, ob sie sich kurz hinlegen wollte, und wir gingen in ein winziges Büro. Ich kniete mich hin, legte ihren Kopf in meine Hände und drehte ihn kaum merklich und in Zeitlupe von Seite zu Seite, wie ich es in Shavasana oft bei den Schüler:innen machte. Später, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, erzählte sie mir, dass ihr Mann vor ein paar Monaten gestorben war und die Kinder aus der ersten Ehe des Mannes sie aus ihrem gemeinsamen Haus geworfen hätten. Dass sie dem Mann zuliebe auf Kinder verzichtet hätte, und nun mit nichts dastünde. Dass sie nichts weiter wolle als arbeiten und dass sie Angst habe, den Job zu verlieren. Keine Frage, sie trug eine viel zu schwere Last.
Ungleich verteilte Last
Welcher Körperteil trägt eigentlich die meiste Last? Unsere Wirbelsäule besteht aus vielen einzelnen Wirbelkörpern und kann in drei Abschnitte gegliedert werden: Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule. Alle Übergangsregionen zwischen Schädel und Halswirbelsäule, Hals- und Brustwirbelsäule, Brust- und Lendenwirbelsäule und Lendenwirbelsäule und Kreuzbein tragen vermehrt Last, weil an diesen Stellen oft große Muskeln ansetzen. Ihr kennt alle diese Stelle, die besonders gute Yogalehrende in Shavasana blind treffen und sanft massieren: Die Region rund um den ersten Brustwirbel T1 – den ersten der 12 Brustwirbel (Vertebrae thoracicae) T1-T12. Hier setzt die erste Rippe an, die ihrerseits auf vielfältige Weise faszial und muskulär mit der Halswirbelsäule verbunden ist.
Atlas – der Träger des Himmels
Zurück zu dieser speziellen Übergangszone zwischen Schädel und Hals, die sich schon dadurch auszeichnet, dass von allen 33 Wirbeln der Wirbelsäule nur zwei einen Namen haben: Der erste, Atlas, und der zweite, Axis. Der Atlas ist vielleicht der wichtigste Knochen in unserem Körper, benannt nach dem Titanen Atlas, der als Kriegsverlierer einer Schlacht der Titanen gegen den Olymp von Zeus dazu verdonnert wurde, auf ewig den Himmel zu tragen. Atlas sorgte also dafür, dass Himmel und Erde nicht aufeinander fallen, ein 24/7-Job.
Was soll ich sagen, seit ich das alles weiß, bin ich ganz vernarrt in Atlas, den ersten Halswirbel. Ungeheuer, mit welcher Nonchalance er sein Schicksal angenommen hat. Im Ernst, lasst uns seine Leistung bitte einmal würdigen: Der Atlas-Wirbel trägt – oder besser gesagt balanciert – auf der winzigen Fläche von 1,5 bis 2 Quadratzentimetern den Schädel und fungiert somit als zentrale Schnittstelle zwischen Halswirbelsäule und Kopf. Diese kleine Kontaktfläche gewährleistet die große Bewegungsfreiheit unseres Kopfs. Damit der Schädel nicht herunterfällt, sichert ein komplexes Muskel-Band-Kapsel-System das Ganze.
Der zweite Wirbel, Axis, ragt mit einem zapfenförmigen Fortsatz in den ringförmigen Atlas hinein, wodurch Drehbewegungen im Atlas-Axis-Gelenk möglich sind. So können wir blitzschnell hinter uns den Feind ausmachen, ohne den ganzen Körper mitdrehen zu müssen. Ganz entscheidend an den Kopfgelenken (erwähnte Atlas- und Axis-Wirbel zusammen mit dem Schädel) sind die Weichteilverbindungen, als Muskeln, Bänder und Gelenkkapseln, die den Schädel sowohl stabilisieren als auch die muskuläre Kontrolle seiner Beweglichkeit ermöglichen. Denn, und deshalb der kleine anatomische Ausflug: Auch in diesen Weichteilen gibt es, wie wir aus der Faszienforschung wissen, Wahrnehmungszellen. Über 20 Muskeln, ausgestattet mit bis zu 500 Rezeptoren pro Gramm Muskelmasse, steuern zwischen Schädel und Atlas die Kopfgelenke. Vermutlich deshalb sprechen Wissenschaftler:innen von einer zum Kopf hin zunehmenden „Individualisierung“ der Muskeln.
Weil die gesamte „Atlas-Region“ im intensiven Austausch steht mit anderen Organen und Strukturen im Körper (z.B. dem Auge oder dem Innenohr), wird sie neuerdings auch als Organ begriffen. Störungen wie Schwindel, Gleichgewichtsprobleme, Tinnitus oder ein „Wattegefühl“ unter den Füßen können über die Kopfgelenke ausgelöst werden.
Ganzheitliches Yoga für Atlas und Geist
Wir wissen durch die Faszienforschung, dass Schmerzen von Muskeln und Faszien übertragen werden. Der große Erfolg von Yin Yoga gründet unter anderem auf dieser Entdeckung. Schmerz ist ein Warnsignal, aber Schmerz hält uns auch am Leben. Schmerz ist ein Indikator, dass etwas schief läuft. So komplex die Beschwerden in der Atlas-Region sein können, so unspezifisch wie auch 90 Prozent aller Rückenschmerzen, und so wichtig die Behandlung dieser Beschwerden durch speziell ausgebildete Osteopath:innen, Spezialist:innen für physikalische und rehabilitative Medizin, Atlas-Therapie und HWS-Muskeltraining ist, so tröstlich ist auch das Wissen, dass Yoga in seiner Ganzheitlichkeit diese Behandlungen gut unterstützen kann. Allein die Vorstellung, dass Schmerzen in der Wirbelsäule auch seelische Ursachen haben, ebnet der Idee den Weg, mit Meditation und Atemübungen positiven Einfluss auf die Gesamtsituation zu nehmen. Egal, wo wir ansetzen, ob bei der Atmung, den Muskeln, dem Bindegewebe, den Verdauungsorganen, dem, was wir sehen und was wir hören, alles wird Einfluss nehmen auf das spezielle Gleichgewicht, in dem es uns gut geht. Im Falle der Kellnerin bedeutet das für meinen Freund, eine neue Bleibe für sie zu finden, Psychotherapie und einen Platz im… Chor.