Lieber nicht reagieren als falsch reagieren

Von Kristin Rübesamen

Als mich das erste Mal ein Yogaschüler anmachte, merkte ich es erst mal lange nicht. Es handelte sich um einen respektablen Mann Ende 50 in Tennis-Shorts und einem T-Shirt, auf dem „Nikki Beach Club“ stand. Geduldig summte er mit, wenn wir chanteten, und rutschte fröhlich verschwitzt über seine Matte. Als er mich einmal nach der Stunde mit seinem Motorrad für eine kleine Tour mitnehmen wollte, sagte ich „Ja“. Ich war neu in der Stadt und hatte selten Gelegenheit, zwischen Yogaschule, Schreibtisch und Supermarkt die herausragenden Sehenswürdigkeiten anzusehen, die unser neues Zuhause zu bieten hatte. Ich hatte außerdem einen Pakt mir mir selbst geschlossen, zu allem „Ja“ zu sagen, und endlich wieder der impulsive Mensch sein, für den ich mich hielt. Vor allem in England, einem Land, in dem es die Briten für ihre patriotische Pflicht halten, widrige Verhältnisse stillschweigend zu ertragen.

Mit dieser Haltung hatten sie, wie ihnen Churchill bestätigte, Nazideutschland besiegt. Ich wiederum als Deutsche war es gewöhnt, zu protestieren, demonstrieren, Petitionen zu unterschreiben, nichts einfach zu hinzunehmen – war als Kind unter meinen Geschwistern allerdings auch für meine Jähzornanfälle bekannt. Nicht zu reagieren war eine Haltung, die in Deutschland zur größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt hatte. Anyway, der Motorradausflug zum Hotel Ritz war ein Flop und ich nahm die U-Bahn nach Hause.

Im Yoga üben wir, nicht impulsiv zu handeln. Ob wir im gemächlichen Trott durch die Sonnengrüße fließen oder millimetergenau unsere Asanas praktizieren, wir drosseln und regulieren durch Pranayama das Tempo und schaffen eine Pause zwischen Reiz und Reaktion. Erst recht, wenn wir meditieren und im zähen Ringen unsere Gedanken auf Abstand halten.

Der Wiener Neurologe und Psychiater Viktor Frankl sagt es so:

„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit“.

Der Atem spielt dabei eine Schlüsselrolle. Die Idee ist, so bewusst zu atmen, dass wir eine potenzielle falsche Bewegung gewissermaßen schon riechen, bevor sie eintritt. Wer wirklich achtsam lebt, dem fällt kein Glas um, dem „rutscht“ die Hand nie aus (Will Smith hat öffentlich um Entschuldigung gebeten, und zwar richtig gut), der verschluckt sich nicht hysterisch auf Beerdigungen. Der hat seine Yoga-Hausaufgaben gemacht. Nur kenne ich niemanden, der so ist.

Als vor einigen Jahren ein Politiker sich mit dem Satz „Lieber nicht regieren als falsch regieren“ aus den Sondierungsgesprächen zur Bildung einer Jamaika-Koalition verabschiedete, wurde ihm dieser Satz als Feigheit ausgelegt. Die Partei verlor massiv an Zustimmung. Ich dagegen war, obwohl partout keine Anhängerin der Partei, irgendwie beeindruckt und fand seine Zurückhaltung, tja, fast würdevoll. Das Problem ist nur, dass dieser vermeintliche Stoizismus für den einzelnen Menschen und seine Beziehungen von Vorteil sein mag. Für unsere Welt aber ist vornehme Zurückhaltung ein Problem. So lösen wir unsere Probleme nicht. Wutbürger auf der anderen Seite heizen das Klima noch mehr an. Wir Yogis sind fein heraus – wir haben unseren (Yoga-)Raum, die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. 

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .

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