
Danke wofür? Der Hype um Dankbarkeit
Vor einiger Zeit in einer Live-Klasse hier bei YogaEasy habe ich eine Meditation gemacht zum Thema Dankbarkeit. Die hat gut getan, auch mir. Trotzdem denke ich seitdem darüber nach.
Seit geraumer Zeit gibt es in der Yogawelt einen Dankbarkeitshype, lustigerweise in Zeiten, die für einige von uns wenig Anlass zur Dankbarkeit liefern. Miese Bezahlung für Yogalehrende, horrende Mieten für Studiobesitzer, schlechte Altersvorsorge, wachsende Konkurrenz. Ganz abgesehen von der politischen Situation überall auf der Welt. Vielleicht nicht lustig, aber interessant ist es schon: Ausgerechnet in Zeiten, in denen es gute Gründe für berechtigte Wut gibt, fordert man von uns, Dankbarkeitsrituale abzufeiern, als sei die Dankbarkeit eine wertvolle Ressource, die wir schützen müssen. (Und, Spoiler, das ist sie, aber dazu später)
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es recht einfach ist, dankbar zu sein. Ganz offensichtlich ist es leichter, dankbar zu sein für einen sonnigen Tag, eine Tasse frischgebrühten Fairtrade-Kaffee, die Begegnung mit alten Freund*innen, eine gelungene Überraschung, und verärgert über alles, was daneben ging. Wozu man allerdings immerzu aufgefordert wird, ist die Version für Fortgeschrittene: Wir sollen für alles, was in die Hose gegangen ist, dankbar sein. Das verpatzte Staatsexamen, die missglückte Ehe, der missratene Nachwuchs, der Traum von Hollywood, die blöde Häkelarbeit.
Nein, Danke.
Eine noch größere Herausforderung ist es, wenn wir aufgefordert sind, dankbar zu sein über Dinge, die wir bereuen. Dankbar für Situationen und Herausforderungen, wo wir nicht so gehandelt haben, wie wir es eigentlich gerne getan hätten, wo wir bereuen, wie wir gehandelt haben. Hat Dankbarkeit etwas mit Reue zu tun? Irgendwie schon, nur wie? Könnte Reue vielleicht Katalysator für Veränderung sein, und nicht ein Gefühl, das uns traurig macht und lähmt?
Dieser eine Abend
Können wir etwas lernen von Reue? Können wir darüber hinweggekommen? Vielleicht sogar etwas davon lernen? Warum können wir mit manchen Entscheidungen, die nicht optimal waren, ganz gut leben, und andere quälen uns immer wieder? Wie können wir, kurz gesagt, aus vergangenen Fehlern lernen? Wie können wir uns selbst vergeben und das Vergangene hinter uns lassen? Dieser eine Abend, wo wir still nach Hause gegangen sind, diese eine Konferenz, wo wir den Kopf eingezogen haben, diese vielen Momente, wo wir weggesehen haben...
Reue ist eine Zeitmaschine
Reue ist, wenn man die Psychologen fragt, eine Zeitmaschine. Reue hat mit der Vergangenheit zu tun, wir fühlen sie in der Gegenwart und sie hat die Funktion, uns in die Zukunft zu lotsen.
Es gibt zwei Arten von Reue. Die Reue, die wir fühlen, weil was wir gesagt oder getan haben, und die Reue, die wir fühlen, weil wir etwas nicht gesagt oder nicht getan haben.
Die meisten Menschen bereuen am tiefsten das, was sie nicht gesagt oder gemacht haben, und weniger das, was sie gesagt oder getan haben. Das hat seinen Grund in entsprechenden Gefühlen, die die jeweilige Erinnerung in uns auslöst. Wenn wir etwas gemacht habe, das nicht ok war, dann fühlen wir Gefühle wie Panik oder Schuld, und diese Gefühle beinhalten eine Aufforderung zum Handeln. Sie wollen, dass wir handeln, vielleicht etwas gut machen. Das ist ein guter Start, damit können wir umgehen, weil wir etwas tun können. Wenn wir dagegen etwas nicht getan haben, was wir im Nachhinein gerne gemacht hätten, dann löst das in uns Gefühle von Depression oder Traurigkeit aus, Gefühle, die uns nicht wirklich auffordern, etwas zu tun und die Situation zu ändern.
Her mit der Reue
Wenn wir damit aufhören, Reue als etwas Negatives zu sehen, sondern als etwas, das positiv ist, ein Gefühl, das uns bewegt anstatt lähmt, dann können wir erkennen, wie wir aus den vergangenen Fehlern lernen, um sie nicht zu wiederholen.
Und, wie angekündigt, dieses Gefühl, das uns bewegt und in Bewegung hält, ist eine kostbare Ressource, aus der wir immer schöpfen können. So lassen wir uns nicht kleinkriegen und wir haben verstanden, dass Dinge schief laufen. So what? Wer ein störungsfreies Leben sucht, entscheidet sich gegen alles, was das Leben in seiner Fülle mit Abstürzen, Hoffnungsschimmern, Freude und Leiden ausmacht oder, wie man auch sagen könnte, für ein verschenktes Leben.
Und welche bessere Übung, als immer wieder aufs Neue auf die Matte zu treten in der Überzeugung: Ich bin da. Total präsent. Offen für alles, was war. Offen für alles, was kommt.