Viveka: So triffst du die richtigen Entscheidungen

Von Birgit Feliz Carrasco

Der Sanskrit-Begriff Viveka bedeutet Unterscheidung oder Unterscheidungskraft. Nicht nur für deinen Yogaweg, sondern auch für deinen Lebensweg ist es entscheidend Echtes vom Unechtem, Wichtiges von Unwichtigem, Essentielles von Oberflächlichem unterscheiden zu können. Deshalb ist Viveka auch keine abgehobene, philosophische Theorie. Du kannst Viveka ganz pragmatisch im Alltag anwenden – und wirst schnell merken, wie sich dadurch dein Leben verändert...

Was bedeutet Viveka?

Jede:r von uns ist grundsätzlich fähig zu unterscheiden und zu entscheiden. Wir alle greifen auf jahrelange Prägungen und zahlreiche Erfahrungen zurück und treffen so meist recht schnell die Entscheidung, was gut und was schlecht ist, was wir wollen und was nicht.

Die Viveka-Unterscheidungskraft dient aber dazu auf einer viel tieferen Ebene bewusster und klarer in unseren Entscheidungen zu werden. Konkret bedeutet das: Egal, was deine Eltern dir über die Welt erzählt haben, egal, was gesellschaftlich gerade in oder out ist – Viveka hilft dir wirklich zu sehen, zu verstehen und zu erkennen. Denn erst dann kannst du für dich sinnvoll unterscheiden und so die richtige Entscheidung für dich treffen. 

Traditionell ist Viveka die Fähigkeit zu unterscheiden oder zu erkennen, was Sinnestäuschungen sind (Maya) und was vollkommenes, göttliches Wissen ist. Auf dem Yogaweg – anhand der Praxis von Asana, Pranayama, Meditation und mit einer stetig wachsenden Bewusstheit – lehrt Viveka uns Dinge und Zusammenhänge in einem ausgewogenen Verhältnis zu erkennen, ohne geprägte Interpretation wahrzunehmen und nicht dualistisch in gut oder schlecht einzuteilen. 

Warum ist Viveka wichtig?

Der Yogaweg – auch die körperliche Praxis des Hatha-Yoga – hat das Ziel, das Ego und reaktive Verstandesprogramme zu minimieren oder noch besser zu eliminieren. Nur so kann das System aus Körper und Geist von Illusionen befreit, geklärt, gereinigt werden, um frei für das sogenannte „höhere Wissen” zu sein, wie es in den überlieferten Schriften zu Yoga bezeichnet wird. Gemeint ist damit weises Wissen um die Heiligkeit des Seins und um die Einheit der Schöpfung. Das schließt auch das Wissen über den Sinn deines Lebens mit ein.


Video-Tipp: In dieser aufgezeichneten Live-Klasse von Lucie Beyer dreht sich alles um das Thema Viveka:


Woher stammt der Begriff Viveka?

Der Sanskrit-Begriff Viveka stammt aus den schriftlichen Überlieferungen Indiens, die bereits Jahrhunderte vor Christus entstanden sind. Shankara – einer der größten indischen Philosophen (etwa 788 bis 820 nach Christus) und Vertreter der philosophischen Richtung des Advaita Vedanta – benannte vier Vorbedingungen für einen erfolgreich bis zur Erleuchtung führenden Weg, also für unser aller Yogaweg:

  1. Viveka – Unterscheidungskraft
  2. Vairagya – Gelassenheit, Losgelöstheit, Leidenschaftslosigkeit
  3. Mumukshutva – Wunsch und Sehnsucht nach Befreiung
  4. Shatkasampatti – die Sechs Fähigkeiten, auch „Sechs Schätze” genannt sind: Shama (klarer Geist), Dama (Beherrschung der Sinne), Dharma (Pflichterfüllung), Titikshya (neutrale Betrachtung des Dualismus), Shraddha (Glaube, Vertrauen) und Samadhana (Kontemplation).

Warum ist Viveka eine Kunst?

Wenn du etwas mit deinen Augen wahrnimmst oder etwas hörst – woher weißt du, dass das, was du wahrnimmst, wahr ist? Wer sagt dir, was wahrhaftig und was Illusion ist?

Die Prägung von Sinneswahrnehmungen beginnt im Babyalter und setzt sich über die Kinderjahre bis ins Erwachsenendasein fort. Ein sehr vereinfachtes Beispiel: Kleinkinder lernen die passende Bezeichnungen für Farben wie Rot, Blau oder Gelb, indem Erwachsene auf Dinge mit der entsprechenden Farbe zeigen und sie benennen. Wie das Blau, das du siehst, aber für andere aussieht, das weißt du nicht. „Blau” ist nur eine von den unzähligen Wort-Definitionen, die das menschliche Gehirn abspeichert und zu gegebenem Anlass zwecks Identifikation und Interpretation hervorholt. Fehlinterpretationen sowie eine inkorrekte Wahrnehmung sind also leicht möglich, weil erstens die individuellen Sinnesorgane unterschiedlich wahrnehmen und zweitens das prägende Umfeld eine entscheidende Rolle spielt – besonders bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen noch.

Im wortwörtlichen Sinne „undurchsichtiger” und entsprechend komplexer ist die emotionale Wahrnehmung. Hier gibt es kaum klare Anhaltspunkte, Wörter sind nur äußerst ungenaue Hilfskonstrukte. Gerade in emotionaler Aufruhr neigen wir dazu, auf Interpretationen zurückzugreifen, die wir von anderen gelernt haben. So erlebt das eine Kind, dass jede negative Gefühlsäußerung für die Eltern unangenehm ist, speichert solche Emotionen deshalb als schlecht und versucht sie wegzudrücken, während das andere Kind bei Tränen in den Arm genommen wird und erzählen darf, was es bedrückt. Das erste Kind lernt seine Gefühle entsprechend schlechter kennen, hat Angst vor ihnen und wird auch im Erwachsenenalter fast unweigerlich größere Probleme haben, mit negativen Emotionen umzugehen.

Hinzu kommen soziale Prägungen, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind. Woher wissen wir, was Hass ist, und was „hassenswert”? Warum etwa können die einen nicht genug bekommen vom Reisen durch exotische Länder und sind offen für und neugierig auf Menschen aus anderen Kulturen, während andere Angst bekommen, wenn sie eine Frau mit Kopftuch sehen? Anderes Beispiel: Ob Liebe für dich mit dem erwartungslosen und bedingungslosen Gefühl von Urliebe verbunden ist oder mit dem Affekt von „haben wollen” und „besitzen” ist ganz davon abhängig, mit welchen Aussagen über Liebe du aufgewachsen bist – und welche Erfahrungen du gemacht hast mit Menschen, die zu dir „Ich liebe dich” sagten.

Aus all diesen Gründen ist es bereits eine hohe Kunst, das wahrzunehmen, was ist – ohne diese Wahrnehmung individuell einzufärben. Was wiederum die Grundlage ist, auf der Unterscheidungen und Entscheidungen erst möglich werden.

”Normalerweise wird die Fähigkeit
etwas wirklich zu verstehen, ersetzt durch Konzepte,
die sich der Geist von etwas macht.”

Patanjali, Sutra 1.4


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Viveka stärkt deine Bewusstheit

Wenn du einen Zustand von innerer Freiheit, wahrer Gelassenheit, eine wertfreie Wahrnehmung erreichen willst, ist es also nötig, dass du dir erst mal bewusst wirst, wie dein Verstand im Normalfall unterscheidet, kategorisiert, ausblendet und hervorhebt. So wie es ständig in deinem Unterbewusstsein passiert und dabei mitunter extreme Probleme im individuellen, im zwischenmenschlichen wie gesellschaftlichen Bereich verursacht. Der Nachbar grüßt dich nicht und statt dir bewusst zu sein, dass es dafür endlose Erklärungen gibt, bist du dir – aufgrund deiner Prägungen und Erfahrungen – sicher, dass du etwas falsch gemacht hast. Jemand erzähl dir ein Gerücht über deine Kollegin und du glaubst es sofort und trägst es weiter, weil du der erzählenden Person vertraust und es in dein Weltbild passt. Und wenn es nicht stimmt? Wenn alles ganz anders war? Nun ja: Das Spiel „Stille Post” kennen wir alle.

„Von seiner Unwissenheit getäuscht, verwechselt der Mensch eines mit dem anderen.
Mangel an Unterscheidungskraft lässt ihn eine Schlange für ein Seil halten.
Greift er in diesem Glauben nach ihr, so ist er in großer Gefahr.
Das Unwirkliche für Wirklichkeit zu halten, schafft den Zustand der Bindung.”

Shankara

Viveka hilft innere Hürden zu überwinden 

Unser Ego kreiert viele Fallen im Alltag, in die wir alle ständig hineintappen. Das Ego und seine Reaktionen auf herausfordernde Alltags-Situationen sind geprägt von Schmerzen und Verletzungen, die gar nicht real, also körperlich nicht bedrohend sind. Dennoch schaltet das Ego augenblicklich in den Modus der Selbstverteidigung. Es sind instinktive, animalische Reaktionen aus der Vorzeit, als dem Steinzeitmenschen echte Lebensgefahr drohte. Solche fiktiven Gefühle von Lebensgefahr sind in unserem Leistungsbetonten, Druck- und Stressreichen Alltag allgegenwärtig – die Abwehrreaktionen erleben wir oft in Form von Rechthaberei, Streit und Besitzanspruch.

Um dir solcher innerer Mechanismen bewusst zu werden und klarer zu sehen, kannst du dir die folgenden Fragen stellen. Gerade, wenn es um problematische Situationen geht oder wichtige Entscheidungen, sind sie oft sehr aufschlussreich. Weil sie deine gewohnten, reaktiven Denkmuster aufbrechen, dich in Kontakt mit deinen Gefühlen bringen, dir bewusst machen, wie widersprüchlich und unbegründet viele deiner unterbewussten, schnellen Einschätzungen sind. 

Hilfreiche Viveka-Wortpaare zur Selbstreflexion:

  • Wahr und Unwahr: Bist du dir wirklich sicher, dass etwas wahr/unwahr ist? Oder merkst du beim genauen Hinsehen, dass die Sache komplexer ist, als deine erste Einschätzung dir suggeriert hat?
  • Wirklich und Unwirklich: Bist du sicher, dass das von dir Wahrgenommene real ist? Oder gibt es noch eine andere Interpretation? Welche deiner Glaubenssätze und Standard-Interpretationen könnten deine Wahrnehmung einfärben?
  • Beständig und Unbeständig: Haftet dein Geist an Vorkommnissen, die deine Energien binden?
  • Nützlich und Unnützlich: Bewertet dein Ego Ereignisse und Personen in gut oder schlecht, obwohl dir neutral betrachtet jede Erfahrung im Leben dienlich ist? Denkst du, dass das Leben eigentlich nur aus Erfolgen bestehen sollte, dass du nie Fehler machen solltest, dass du immer perfekt sein musst?
  • Feststofflich und Feinstofflich: Nehmen deine Sinnesorgane nur feststoffliche Materie wahr, weil dir die Wahrnehmung der feinstofflichen Welt nicht beigebracht wurde? Wie fühlt sich eine bestimmte Situation – jenseits deiner rationalen Einschätzung – an? Mit was für einer Energie gehst du aus einer Begegnung? Wenn du andere, liebevollere Wörter benutzt, was ändert sich dann an einer Beziehung?
  • Vergänglich und Ewig: Macht dir die Vergänglichkeit alles Materiellen Angst? Gibt es etwas, das unerschütterlich und ewig ist? Welchem „Gott” huldigst du, dem materiell-vergänglichen, oder dem spirituell-unvergänglichen?

„Wahrnehmung im Zustand des Yoga ist anders 
als das, was zu anderen Zeiten stattfindet. Verstehen
im Zustand des Yoga kommt der wahren Natur des
zu erkennenden näher.”

T.K.V. Desikachar


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Wie du Viveka im Alltag lebst

Ich empfinde die Erde – jeden Tag aufs Neue – als einen Trainingsplaneten, auf dem wir Seelen versammelt sind, um einen Lebenszyklus des Lernens zu absolvieren. Prägungen gehören zu diesem Leben und helfen uns oft in unserem „irdischen” Alltag. Was wir darüber aber zu oft vergessen: Dieses Leben hat auch eine überirdische Ebene. Die Praxis von Yoga erinnert uns daran, dass es mehrere Dimensionen des Seins gibt und der Yogaweg schenkt uns mit all seinen Facetten wieder und wieder Möglichkeiten zur Verfeinerung und Weitung unseres Lebens, damit es uns nicht mehr so komplex sondern wundervoll leicht und klar erscheint.

Das hilft dir Viveka in deinem Tagesablauf zu praktizieren:

  • Entdecke, beobachte und hinterfrage deine Bewertungen im Großen wie im Kleinen: Frage dich, welche anderen Einschätzungen und Interpretationen es geben könnte. Mach dir klar, dass es zu jeder Geschichte nicht nur zwei, sondern zahllose Seiten gibt.
  • Erkenne den Dualismus ist deinem Denken: Mach dir bewusst, dass es Gut und Böse nicht gibt, Richtig und Falsch Illusionen sind. Und dann bemühe dich darum, wertfrei und neutral zu bleiben, hör auf dich zu ereifern und fange an zuzuhören, sei empathisch und öffne dein Herz und deinen Geist für die Perspektiven anderer.
  • Halte deine körperliche Lebensenergie mit der Praxis von Asana in harmonischen Fluss.
  • Praktiziere Pranayama, um Anhaftungen an feststofflichen Dingen und Sein zu minimieren und dich eines Tages davon loszulösen.
  • Reinige deine Gedanken- und Gefühlswelt jeden Tag mit abendlicher Meditation.      

Viveka ist ein natürliches und nachhaltiges Reinigungsmittel, das du, das ich, das viele von uns nutzen können, um die Welt leuchtend weiß zu waschen.

Love and light,
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco
Birgit Feliz Carrasco

Birgit Feliz Carrasco ist Heilpraktikerin, Seelen-Coach und Yogatherapeutin sowie renommierte Buchautorin und Bloggerin. Sie hält regelmäßig Seminare für spirituelle Bewusstheitsentwicklung, bei denen Interessierte und Yogalehrende, die sich fortbilden wollen gleichermaßen willkommen sind. Informationen zu ihrer beratenden Tätigkeit, Hellfühligkeit und Channeling findest du unter birgitfelizcarrasco.com.

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