Santosha: Ein Plädoyer für mehr Dankbarkeit

Von Katharina Goßmann und Merle Blankenfeld

Wir modernen Menschen haben ziemlich hohe Ansprüche an unser Leben: Wir wollen einen tollen Job, eine glückliche Familie, Social-Media-taugliche Urlaubsreisen – und das jetzt, und für immer. Nicht verwunderlich, dass die Realität da oft nicht mithalten kann. Das Ergebnis ist meist eine grundlegende, dauerhafte Unzufriedenheit. Warum kann nicht endlich mal alles perfekt sein?!? 

Du siehst schon: Eine stetig wachsende Erwartungshaltung ist keine optimale Grundlage für ein glückliches, erfülltes Leben. Was aber würde passieren, wenn wir unsere Perspektive um 180 Grad drehen und den Blick darauf richten, was wir schon alles haben? Wenn wir unseren Fokus weglenken vom Mangel, und hinlenken auf die Fülle, die unser Leben zu bieten hat?

Die lebensverändernde Praxis der Dankbarkeit

Die meisten von uns wachsen in einer Welt auf, in der klar definiert ist, was gut und was schlecht ist: Eine Hochzeit ist was tolles, eine Scheidung eher nicht, ein prestigereicher Job ist erstrebenswert, eine Kündigung schlimm, ein schwere Krankheit ist ein Schicksalschlag, eine tolle Figur ein Asset. Bei genauerer Betrachung sind die Dinge aber oft gar nicht so eindeutig, wie wir es abgespeichert haben: Nicht jede Eheschließung ist eine gute Sache, eine Kündigung kann eine Befreiung sein, und viele Geringerverdiener lieben ihren Job über alles. 

Zudem haben wir Menschen die Tendenz, immer mehr zu wollen, immer höher zu streben. Das ist biologisch gesehen eine sehr sinnvolle Veranlagung, aber auf Dauer doch sehr erschöpfend und frustrierend. Immer mehr Menschen merken, dass das allseits propagierte „höher, schneller, weiter” sie leider nicht höher und auch nicht weiter bringt, sondern nur schneller ins Burn-out.

Vielleicht ist Dankbarkeit genau deshalb in den letzten Jahren zu einem Trend geworden. Weil wir spüren, dass wir uns nicht besser geht, wenn wir mehr haben und mehr erreichen – sondern dann, wenn wir durchatmen und uns die Zeit und die Ruhe nehmen, alle Geschenke wahrzunehmen, die uns dieses Leben täglich bereitet. Dieser bewusste Perspektivwechsel und die Dankbarkeit, die er auslöst, kann uns innerhalb von Minuten von einem frustrierten, gehetzten, unglücklichen Menschen in ein zufrieden strahlendes Wesen verwandeln. Ganz erstaunlich eigentlich. 

Übrigens: Wenn es dir schwerfällt, aus dem Stress des Hamsterrads auszusteigen, sind Yoga, Pranayama und Meditation ungemein hilfreiche Methoden. Eine runde Asana-Praxis, die Stress abbaut und dich zurück in deinen Körper und damit ins Hier und jetzt bringt, ein paar Minuten atmen und sitzen und den Geist still werden lassen – und schon öffnet sich dein Herz und kannst die Schönheit deines Lebens wieder wahrnehmen. 

Schon Patanjali wusste: Zufriedenheit = Glück

Dieser Ansatz ist auch tief in der Yoga-Philosophie verankert, und zwar unter dem Begriff Santosha (auch Samtosha genannt). Aus dem Sanskrit übersetzt bedeutet das „Zufriedenheit“. Santosha ist eines der Niyamas, die gemeinsam mit den Yamas die ersten beiden Punkte des achtgliedrigen Yogaweges nach Patanjali bilden. Während es bei den Yamas um den Umgang mit anderen und deiner Umwelt geht, beschreiben die Niyamas eine yogische Haltung dir selbst gegenüber.

„Tiefe Zufriedenheit lässt uns grenzenloses Glück erfahren“

Yogasutra von Patanjali, Vers 2.42

 

Die yogische Philosophie unterscheidet allerdings zwischen innerer und äußerer Zufriedenheit. Letztere ist bedingt durch Materielles und andere Äußerlichkeiten und damit oft von kurzer Dauer, während wir die innere Zufriedenheit durch unsere Einstellung zum Leben und innere Arbeit erlangen – und zwar langfristig.

Hier kommen wir wieder zur Dankbarkeit als wichtigen Bestandteil der Zufriedenheit zurück. Um glücklich zu sein, hilft es immens, nicht ständig darüber nachzudenken, was vermeintlich noch fehlt – sondern Dankbarkeit dafür zu entwickeln, was man hat. Dabei ändert sich die Situation überhaupt nicht, aber dein Blick darauf kann dir zu viel mehr Zufriedenheit verhelfen.


Yogaphilosophie-Fortbildung: Yogasutra von Patanjali


Eine Frage des Blickwinkels: Love it, change it or leave it

Das Praktizieren von Santosha ist eine ganz wunderbare Übung, um das Ego zu besänftigen – und langfristig vielleicht sogar zu überwinden. Wenn wir unser Leben so annehmen und wertschätzen, wie es ist, kommen wir in unseren natürlichen Zustand von Liebe und Fülle. Das Gefühl des Mangels, in dem wir in der westlichen Welt häufig leben („Ich brauche ein großes Haus mit Garten, um glücklich zu sein“, „Ich bin mehr wert, wenn ich jedes Jahr teure Fernreisen unternehme.“ etc.) ist ein gänzlich fremdbestimmtes, unnatürliches. Es ist also eine gute Idee, die Idee des perfekten Instagram-Lebens hinter uns zu lassen.

Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht auch Ziele haben dürfen. Wenn dir eine Situation oder ein Umstand in deinem Leben nicht gefällt, darfst (und solltest!) du dies ändern. Das sollte nur nicht dazu führen, dass du ständig über Kleinigkeiten nörgelst, die dir vermeintlich fehlen.

Hier gilt die Maxime: Love it, change it or leave it – also: Sei damit zufrieden, wie es ist, ändere es, oder lass es ganz.

3 Tipps für mehr Dankbarkeit im Alltag

Wenn du es gewohnt bist mit deinem geübten „Mangel-Blick” in jeder Situation zuerst das zu sehen, was nicht optimal ist, was fehlt oder stört, dann wird es dir nicht sofort gelingen, durchgängig mit Dankbarkeit auf dein Leben blicken kannst. Denn Dankbarkeit ist Übungssache, man könnte sogar sagen: eine Gewohnheit, ein Automatismus. 

Auch wenn es ein bisschen dauert, auch wenn es nicht immer gelingt: Jedes Mal, wenn du es schaffst, deinen Blick voller Dankbarkeit auf die Fülle des Lebens zu lenken, wirst du direkt belohnt. Denn nichts macht schneller glücklich als das Gefühl, reich vom Leben beschenkt worden zu sein. 

Je öfter und regelmäßiger du Dankbarkeit praktizierst, umso einfacher wird es dir fallen, in jeder Situation, jeder Lebenslage das Gute zu entdecken, die Vorteile und Chancen. Auf lange Sicht wird sich dadurch dein ganzer Blick auf das Leben verändern. Du wirst viele Ereignisse in deinem Leben viel positiver wahrnehmen – und nicht nur insgesamt glücklicher und zufriedener sein, sondern auch herausfordernde Phasen für dich nutzen können. 

Für diese Entwicklung braucht es aber ein bisschen Übung. Deshalb haben wir hier drei Tipps für dich, wie du mit einigen Minuten Aufwand pro Tag mehr Dankbarkeit in deinem Leben kultivieren kannst. 

1. Dankbarkeitsmeditation

Wie erwähnt: Wenn du eher daran geübt bist, Mangel zu sehen, ist es anfangs nicht ganz einfach, die Fülle in deinem Leben zu sehen und Dankbarkeit dafür zu empfinden. Deshalb ist es besonders für Dankbarkeits-Anfänger:innen sehr hilfreich, regelmäßig Dankbarkeitsmeditationen zu üben. Diese Meditationen führen dir mithilfe von Visualisierungen alles vor Augen, was du in deinem Leben bereits hast ­– und lenken deine Gedanken so bewusst weg von allen Gefühlen des Mangels. 

Wenn du sowieso regelmäßig meditierst, kannst du eigenständige Dankbarkeitsmeditationen üben. Dafür kannst du dir zu Beginn der meditation etwa die Frage stellen „Welche Geschenke hat mir mein Leben heute gemacht?” und dann die Antworten aus deinem inneren aufsteigen lassen. Oder du gehst bei der Meditiation innerlich durch dein Leben – vielleicht zuerst durch deine Wohnung, dann durch deinen Arbeitsplatz, dann durch andere Lebensbereiche und lässt alles golden aufleuchten, was dir Freude bringt.

Wenn du noch nicht so erfahren bist in Meditation, sind geführte Dankbarkeitsmeditationen die bessere Wahl. Probiere es doch mal aus mit dieser wunderschönen Meditation von Laura Malina Seiler:

2. Etabliere ein tägliches Dankbarkeitsritual

Der einfachste Weg ein tägliches Dankbarkeitsritual in deinen Alltag zu integrieren, ist es, dir nach dem Aufstehen (als Teil deiner Morgenroutine) oder abends vor dem Schlafengehen jeweils drei Dinge vor Augen zu führen, für die du dankbar bist. Das können materielle Dinge wie deine Wohnung oder dein gemütliches Bett sein, dein:e Partner:in oder schlicht Gesundheit.

Wenn du tiefer in das Thema einsteigen willst, kannst du beginnen ein Dankbarkeits-Tagebuch zu führen. So kannst du in regelmäßigen Abständen die Dinge nachlesen, für die du dankbar bist, und dich so gezielt daran erinnern. Das kann in Momenten, in denen du dich traurig, einsam oder unzufrieden fühlst, wahre Wunder wirken!


Exkurs: Wie schreibe ich ein Dankbarkeitstagebuch?

  1. Besorge dir ein wunderschönes Notizheft oder ein Tagebuch sowie einen hübschen Stift und bestimme einen festen Ort für dein Dankbarkeitstagebuch. 
  2. Definiere eine feste Zeit, in der du in dein Dankbarkeitstagebuch schreibst. Wenn du willst, stell dir deinen Handywecker mit einer Erinnerung.
  3. Überlege dir, in welcher Form du deine Dankbarkeit trainieren möchtest. Willst du achtsamer werden für die Fülle deines Alltags?
  4. Schreibe am besten abends immer alles auf, was dich an diesem Tag dankbar gemacht hat. Möchtest du den Fokus darauf legen, zu erkennen, wie reich dein Leben allgemein ist?
  5. Nimm dir jeden Tag einen anderen Bereich deines Lebens vor – Beziehung, Freunde, Beruf, Hobby, Heimat, Wohnung, Körper... – und schreibe jeweils fünf Aspekte aus diesem Bereich auf, für die du dankbar bist.
  6. Bleibe mindestens einen Monat dabei, besser 40 Tage. 

Am 21. September ist Welttag der Dankbarkeit! Deshalb schenken wir dir ein Dankbarkeitstagebuch zum kostenlosen Download – mit 30 Inspirationen. Mit ihnen kannst du einen Monat lang täglich bewusste Dankbarkeit üben. Nimm dir morgens oder abends jeweils einige Minuten Zeit, setze dich an einen ruhigen Ort und lies die Inspiration des Tages. Schließe dann deine Augen und lass sie auf dich wirken. Notiere anschließend die Antworten, die aus deinem Inneren aufgestiegen sind.  
YogaEasy Dankbarkeitstagebuch zum kostenlosen Download


3. Lasse Vergangenes los

Oft verhindern alte, negative Zuschreibungen, Überzeugungen und Interpretationen, dass wir Dankbarkeit fühlen können. Die meisten von uns unterstützen ständige unbewusst negative Gefühle – dadurch, dass wir innerlich Sätze wiederholen, die uns abwerten, Situationen negativ interpretieren und Unglücksszenarien an die Wand malen. Deine Ehe war durch und durch schlecht, alle schönen Erlebnisse waren gelogen, weil dein Partner dich betrogen hat? Menschen mit deiner Figur werden nie wirklich erfolgreich im Leben sein? Du wirst immer depressiv sein, weil es deine Mutter war? 

Es ist ungemein befreiend, solche Vorstellungen und Interpretationen hinter dir zu lassen. Mach dir bewusst, dass vieles, was dir deine Eltern erzählt haben, was in der Schule oder in den Medien propagiert wird, nur einen sehr kleinen Teil der Realität widerspiegelt. Erkenne, dass jede Geschichte zwei Seiten hat und du nie die volle Wahrheit erkennen kannst. Hör auf, die Erzählungen anderer Menschen zu wiederholen und beginne deine eigene Geschichte zu schreiben. 

Hier ein Vorschlag für ein Loslass-Ritual. Nimm dir dafür einige Stunde Zeit, und sorge dafür, dass du ungestört bist. 

  1. Schreibe alle vergangenen Ereignisse auf einen Zettel, die dich wütend oder traurig machen, wenn du an sie denkst. Notiere auch alles, von dem du denkst, dass es dir fehlt in deinem Leben, und alles, um das du andere beneidest. 
  2. Gehe die Liste nun Punkt für Punkt durch. Stimmt das alles genau so, wie es das steht? Kennst du wirklich die volle Wahrheit? Erinnere dich daran, dass wir alle in jeder Situation das Beste tun, was wir können. Öffne dein Herz, erweitere deine Perspektive: Wie könnte man diese Ereignisse auch sehen und interpretieren? Fehlt dir wirklich etwas oder hast du nur etwas anderes als die anderen, das ebenso viele Möglichkeiten bietet? Welche Vorteile hat das, was du hast gegenüber dem, was du meinst, haben zu müssen?
  3. Sitze nun einige Zeit mit geschlossenen Augen in Stille vor deiner Liste und konzentriere dich auf deinen Herzraum. Atme tief zu deinem Herzen und lass es weich und immer weicher werden. Lass die Gedanken kommen. Atme am Ende tief durch den Mund aus. Wiederhole diese tiefe Ausatmung so oft, wie es sich gut anfühlt. 
  4. Nun beende das Ritual, in dem du laut sagst: Ich lasse euch gehen. Verbrenne dann den Zettel oder zerreiße ihn, ganz wie du willst.
Katharina Goßmann
Katharina Goßmann

Katharina ist Mutter, Yogalehrerin und Psychologin. Bei YogaEasy ist sie das Herz der Redaktion und schreibt über Yoga, wahres Glück und Heilung. Ihre Artikel werden unter anderem im „Yoga Journal” und in der „Happy Way” veröffentlicht.

Merle Blankenfeld
Merle Blankenfeld

Merle verbindet bei ihre Leidenschaft für Yoga mit einem Faible für alles Digitale. Deshalb schreibt sie über die Themen, die ihr am Herzen liegen: Yoga, Spiritualität und Gesundheit. Wenn sie nicht gerade vor einem Bildschirm sitzt, steht sie entweder auf der Yogamatte oder vergräbt ihr Gesicht in einem Buch (okay, manchmal ist es auch ein E-Reader...).