Authentisch leben mit und durch Yoga

Von Christiane Eitle

Als ich mit 17 meine erste Yogastunde besuchte, wusste ich nicht viel über Yoga. Mein Bauchgefühl aber war klar: Ich wollte mehr. Und so fand ich mich kurz danach in einem Yoga-Ashram im Westerwald wieder. Ich lauschte dem Satsang, sang fremde Worte im Kirtan, meditierte, übte Kopfstand, betrachtete Ganesha-Statuen – und war fasziniert von dieser Welt, die sich so nach Zuhause anfühlte. Zu der Zeit wurde ein Samen gesät, der mein ganzes weiteres Leben beeinflussen sollte. Yoga wurde mein Anker und blieb in vielen schwierigen Zeiten meines Lebens mein sicherer Hafen.

Eine „echte Yogini”?

Damals übte ich in weiten, bequemen Hosen und der Fokus lag auf mir und dem, was sich in mir durch Yoga bewegte. Von einem „Yoga-Lifestyle” wusste ich noch nichts. Als Yoga populärer wurde, erfuhr ich, dass es auch andere Yogastile gab. Ich begann unterschiedliche Studios zu besuchen – und plötzlich schlich sich das Gefühl ein, keine richtige Yogini zu sein. Ich traute mich nicht enge Leggings zu tragen, konnte mir keine rutschfesten Yogamatten leisten, hatte kein Om-Tattoo im Nacken und in meiner Wohnung stand auch kein Altar mit Shiva-Statue. Waren etwa die anderen authentisch und ich nicht? Ich begann mich zu fragen, was eine „echte Yogini“ eigentlich auszeichnete.

Irgendwann begann auch ich Malas (Anmerkung der Redaktion: hinduistische Gebetsketten) und Leggings zu tragen und lernte hochwertige Yogamatten zu schätzen. Ich machte eine Ausbildung zur Yogalehrerin und reiste zum ersten Mal nach Indien. Während ich äußerlich immer mehr das Klischée einer typischen Yogini erfüllte, wurde in mir eine Erkennnis immer klarer, je tiefer ich in die Yoga-Philosophie eintauchte: Beim Yoga geht es nicht um das Außen. Ganz im Gegenteil: Der Yogaweg ist darauf ausgerichtet unser wahres Selbst zu finden. Den echten, authentischen Kern unter all den Schalen zu entdecken. Yoga ist dabei das Handwerkszeug und bietet jeder und jedem die passenden Methoden und Schlüssel, von Meditation über Mantra, Asana, Pranayama bis zur Philosophie

Warum Dogmatismus nicht der Weg ist

Es ist nur verständlich, dass wir uns am Anfang unseres Yogaweges zunächst an anderen Yogalehrenden und -praktizierenden orientieren. Wir suchen nach Wahrheit – und die Yogalehrenden und Gurus scheinen sie gefunden zu haben. Wir übernehmen unreflektiert, was uns gesagt wird. Als Zwanzigjährige war ich noch nicht in der Lage, die tiefere Bedeutung der Vedanta zu begreifen. „Maya bedeutet, dass unser Leben eine Illusion ist“ – ich weiß noch genau, wie mich diese Aussage verwirrte, weil ich versuchte die Bedeutung mit dem logischen Verstand zu begreifen. Wenn deine Yogalehrerin dir in der Yogastunde erzählt, dass das Leben ein Schauspiel ist – glaubst du, dass sie wirklich weiß, was das bedeutet? Weißt du, was es bedeutet, wenn du es deinen Freundinnen erzählst? Bei mir brauchte es Jahre, bis ich in tiefer Meditation erkennen konnte, was es bedeutet, dass das Leben eine Illusion ist. Erst da wurde es zu einem genuinen Bestandteil meiner eigenen Wahrheit, zu Erfahrungswissen.

Gute Lehrer:innen fordern dich dazu auf, nicht alles zu glauben, was dir erzählt wird. Sie missionieren nicht, sondern inspirieren. Die Lehren des Yoga können dich auf den Weg führen, gehen musst du ihn aber für dich alleine. Die wunderbarsten Worte sind ohne Bedeutung, wenn du ihre Botschaft nicht in dir selbst erfährst. Dogmatismus, das unkritische Festhalten an Lehrmeinungen und Glaubenssätzen, ist das Gegenteil von Yoga. Wenn wir nicht einfach das übernehmen, was uns vorgesagt wird, sondern stattdessen praktizieren und uns selbst erkunden, dann erkennen wir nach und nach, was wirklich mit uns resoniert.

Heute fühle ich mich etwa nicht mehr wohl damit, eine Mala zu tragen. Ich frage mich, ob die Millionenbranche Yoga, der Yoga-Konsum und moderne Yoga-Lifestyle der Beginn eines kollektiven Erwachens sein kann. Wir stärken unsere Intuition, erweitern das Bewusstsein, orientieren uns immer weniger am Außen und finden unser authentisches Selbst… oder eben auch nicht? Ist der Yoga-Konsum nur eine Verlagerung? Versteckt sich hinter der spirituellen Fassade der gleiche Materialismus und das anstrengende Leistungsdenken wie in dem Leben, das wir eigentlich hinter uns lassen wollten? Auch in der Yoga-Szene gibt es Hierarchien von Gurus bis Anfänger:innen… denen, die „wissen” und jenen, die leider noch in der Matrix gefangen sind. Manchmal scheint auch hier das Ego, das wir mit Yoga transzendieren möchten, omnipräsent – wenn auch in Yoga-Verkleidung. 

Wie kann ich mit Yoga authentischer werden?

Das Wort „Authentizität“ hat seinen Ursprung im Griechischen „authentikós“ – „echt“, im Sinne von Ursprünglichkeit. Es bedeutet, das zu sein was wir ursprünglich sind. Der Kern unseres Selbst, der Zustand des nackten Seins, den wir im Yoga anstreben. Authentizität ist der Grundpfeiler des Yoga. Denn Satya, die Wahrhaftigkeit, wird als eine der wichtigsten Tugenden in Patanjalis Yogasutra genannt.

Wahrhaftigkeit ist nicht dasselbe wie Wahrheit. Denn dort draußen gibt es acht Milliarden subjektive Wahrheiten und Realitäten. Die werden von vielen Faktoren beeinflusst und befinden sich in einem konstanten Wandel. Yoga hilft uns zu erkennen, dass es in Ordnung ist, dass es nicht die eine, absolute, objektive Wahrheit gibt. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ lautet das Motto. Die Yoga-Praxis bestärkt und unterstützt uns in unserem Streben nach Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Wenn wir wahrhaftig sind, dann können wir hinter unsere eigene Fassade blicken. Zudem verstehen wir, dass auch die anderen nur ihre eigene Wahrheit kennen – und das nicht allen (wahrscheinlich nur wenigen) Menschen bewusst ist. 

Müssen Yogalehrende leben, was sie predigen?

Yogalehrende sind normale Menschen. Doch oft setzen wir Schülerinnen und Schüler sie auf einen Thron, idealisieren sie. Weil sie die Fähigkeit haben, viel in uns zu bewegen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie unfehlbare Yogis und Yoginis sind. Sie können vielmehr eine Inspiration sein für andere, einen gesünderen Mittelweg im Leben zu führen. Es ist wundervoll authentisch, wenn Yogalehrende teilen, was sie wieder dazu gelernt haben auf dem Weg zu mehr Selbsterkenntnis. Sie hatten Lust auf ein Glas Rotwein? Einen Tag voller Gereiztheit und schlechter Laune? Es macht Mut zu sehen, dass wir alle gemeinsam, mit allen menschlichen Fehlbarkeiten, auf diesem Weg sind. Es ist ein großes Geschenk, sich seiner Schattenseiten bewusst zu sein, sie annehmen zu können. Genau dabei hilft Yoga.

Es beeindruckt mich, wenn während einer Yogastunde die Yogini auf der anderen Matte in die Haltung des Kindes geht, statt wie angesagt Handstand zu üben. Das heißt nicht, dass niemand Handstand üben sollte. Stärker finde ich aber, wenn jemand erkennt, dass der Körper eine Pause braucht, und ihm dann auch diese Pause gönnt. Wenn du achtsam praktizierst, wirst du während deiner Yoga-Praxis wissen, ob du wirklich noch weiter in den Twist gehen möchtest. Wäre es nicht gerade viel besser, ein Chaturanga auszulassen oder nochmal in der Vorbeuge die Beine zu dehnen?

Ich habe mich jahrelange im Rad abgemüht, bis festgestellt wurde, dass meine Wirbel im unteren Rücken einfach nicht flexibel genug sind. Eigentlich wusste ich es schon die ganze Zeit… aber es sieht einfach so großartig aus. Natürlich macht es wenig Sinn den ganzen Yoga-Unterricht über andere Asanas zu praktizieren als der Rest der Klasse. Sich in gesundem Maß zu fordern hat durchaus seinen Sinn. Sei aber ehrlich mit dir selbst und spüre ganz genau in dich hinein: Warum denkst du, dass es für dich persönlich wichtig ist, dich wie eine Akrobatin zu verbiegen? Tut es dir gut? Beeindruckt es die anderen? Hast du Angst zu scheitern? Befriedigst du dein Ego? Dieses erste Kennenlernen deiner Selbst über die Interaktion mit deinem Körper hilft sehr dabei, in die Selbstverantwortung zu kommen. Denn niemand kennt deinen Körper besser als du selbst.

Was ist dein Yoga heute? 

Die Reise zu deiner Authentizität ist ein kontinuierlicher Lernprozess

Wenn du deinen Körper respektierst und spürst, was dir in welchem Moment guttut, bist du auf einem guten Weg zu echter Authentizität. Du bist in diesen Momenten präsent mit deiner physischen Hülle und kennst deine Bedürfnisse. Sich vollständig auf körperlicher und geistiger Ebene kennenzulernen, ist eine Reise durch Licht- und Schattenseiten. Mit dem nötigen Bewusstsein kannst du dabei von deinem mentalen Drama zurücktreten. So kann die Yogastunde ein lehrreicher Konflikt zwischen deinem Ego und deiner Wahrheit werden. Yoga fördert die Verbindung zwischen Körper, Geist und Seele und stärkt so deine Selbstwahrnehmung. Durch regelmäßige Yoga-Praxis kommen Ängste, Blockaden und Unsicherheiten ans Licht. Wenn wir in der Lage sind, uns diese ehrlich anzusehen, lernen wir uns besser kennen. Und können bewusster und authentischer handeln.

Bist du achtsam bei dir und deinen Bewegungen oder schweift dein Geist während des Yogas zu anderen Themen ab? Besonders wenn wir in die Stille der Meditation oder Entspannung gehen, möchte der Geist oft auf Hochtouren drehen. Beobachte dich dabei, ob du dich vergleichst oder etwas erzwingen möchtest. Zweifelst du an dir oder fühlst du dich provoziert von etwas? Vielleicht fühlst du dich auch rundum gut, entspannt und angekommen. Das Wichtigste ist, dich bei diesem Prozess nicht zu be- oder verurteilen. Beobachte lediglich was da ist und lasse es da sein. Denn auch wenn du es vielleicht nicht hören möchtest: Deine negativen Gedanken sind genauso du, wie deine liebevollen Seiten. Wir alle kennen Neid, Angst, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle. Mit dem nötigen beobachtenden Bewusstsein haben wir jedoch die Wahl, ob wir uns mit ihnen identifizieren. Achtsamkeit gibt uns die Kraft, dem Gefühl nicht zu folgen, es nicht zu einer neuen Realität manifestieren zu lassen. Denn du weißt es besser. Je mehr du dir erlaubst, so zu sein wie du bist, desto „echter“ – und wohler – wirst du dich in deinem Leben fühlen. 


Werde achtsamer mit dieser Achtsamkeitsmeditation mit Christina Lobe: 


Tipps für ein authentisches Leben 

  • Sei ehrlich zu dir selbst und deinen Gefühlen. Versuche, deine Gedanken und Gefühle offen und ehrlich auszudrücken, anstatt sie zu verbergen oder zu verdrehen. 
  • Vermeide es, anderen Menschen gefallen zu wollen. Tue nichts, was nicht zu deiner Persönlichkeit passt. Sei stattdessen du selbst und lebe nach deinen eigenen Werten und Überzeugungen.
  • Sei ehrlich zu anderen. Verhalte dich offen und transparent in Kommunikation und Handlungen, auch wenn es manchmal schwierig sein kann.
  • Sei aufmerksam und respektvoll im Umgang mit anderen. Höre ihnen zu, ohne sie zu bewerten oder zu verurteilen.
  • Höre auf dein Bauchgefühl. Vertraue deinem Instinkt und deinen Gefühlen, anstatt zu tun, was andere von dir erwarten.
  • Sei dir treu. Verfolge deine Interessen und Hobbys, auch wenn sie anders sind als die der Menschen in deinem Umfeld.
  • Sei mutig. Traue dich, deine Meinung zu äußern und eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie anders sind als die der anderen.
  • Sei dir deiner Selbst bewusst. Bewusstsein für deine Gedanken, Gefühle und Handlungen hilft dir, authentischer zu sein und dich selbst besser zu verstehen.
  • Erlaube dir selbst, Fehler zu machen und daraus zu lernen: Akzeptiere, dass es in Ordnung ist, nicht perfekt zu sein.
  • Arbeite an deiner Selbstakzeptanz und Selbstliebe. Versuche, deine Schwächen und Stärken anzunehmen und dich selbst so zu lieben und zu respektieren, wie du bist.
  • Pflege Beziehungen mit Menschen, die du wertschätzt. Vermeide es, dich in Beziehungen einzulassen, in denen du ausgenutzt wirst oder die dich unglücklich machen.
  • Nimm dir Zeit für dich selbst. Mache Dinge, die dir Freude bereiten und dir helfen, deine Persönlichkeit und deine individuellen Bedürfnisse zu entdecken und zu erfüllen.
Christiane Eitle
Christiane Eitle

Christiane praktiziert seit ihrem 17. Lebensjahr Yoga und Meditation. Ihr tiefes Verständnis für Yoga, Achtsamkeit, Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht es ihr, dieses Wissen als Online Content-Managerin und Texterin für Lehrer:innen, Coaches und Therapeut:innen einzusetzen. Ihre Empathie und Fachkenntnisse machen sie zur idealen Partnerin, um hochwertige und zielgruppenorientierte Inhalte zu erstellen. Mehr Informationen zu Christiane findest du unter www.christianeeitle.com.