
Erdung: Nicht die Bodenhaftung verlieren!
Ursprünglich kommt der Begriff der Erdung aus der Elektrotechnik. Wenn deine Yogalehrerin ansagt, dass du deine Sitzknochen erden sollst, meint sie damit aber nicht, dass du elektrische Ströme in die Erde ableiten sollst! Vielmehr verstehen wir im Yoga unter Erdung einen herrlichen energetischen Zustand von entspannter Stabilität, innerer Klarheit und Ruhe.
Was ist Erdung?
Der Begriff der Erdung leitet sich von Erde ab. Deshalb lässt sich das Konzept der Erdung auch sehr gut mit Metaphern und Bildern aus diesem Bereich erklären. Hier ein paar Beispiele: Ein geerdeter Mensch ist jemand, der fest auf dem Boden der Tatsachen steht. Der wie ein Baum tief verwurzelt ist in sicherem Grund. Der sich getragen fühlt von der Erde, diesem Fundament für alles, was wir aufbauen.
Lese-Tipp: Wenn du dich für die Bedeutung des Erd-Elements interessierst, empfehlen wir dir unseren Artikel zum „Element Erde – Vertrauen, Sicherheit, Stabilität”!
Warum ist Erdung so wichtig?
Stabilität kann nur entstehen, wenn du darauf vertrauen kannst, dass du getragen, gehalten wirst. Dieses Gefühl von „grundlegender” Sicherheit ist die Basis für Ruhe und Klarheit. Denn wenn du nie das Vertrauen entwickeln konntest, dass du auf sicherem Untergrund stehst, dass du so verwurzelt bist, dass du nicht bei jedem kleinen Windstoß umfällst, dann lebst du in einem Zustand dauerhafter Alarmbereitschaft, vielleicht sogar Angst. Also dem Gegenteil von Sicherheit und Stabilität.
Nun bringt jeder menschliche Lebensweg Phasen der Veränderung, Unsicherheit und Instabilität mit sich. Trennungen, Kündigungen, Krankheiten, Umzüge – Zeiten, in denen das, was dir Sicherheit gegeben hat, plötzlich weg ist.
Zudem leben wir in einer Gesellschaft, die immer in Bewegung ist. Flexibilität ist gefragt in dieser sich immer schneller verändernden Welt. Statt lebenslang den gleichen Partner oder die gleiche Partnerin zu haben und für dieselbe Firma zu arbeiten, wechseln wir von Partner zu Partner, von Job zu Job. Wir verbringen unser Leben nicht mehr an einem Ort, sondern sind mal hier, mal da „zu Hause”.
Und wir halten uns viel in unserem Kopf auf. Viele von uns arbeiten in Büros, brainstormen Konzepte, reden in Online-Konferenzen über potenzielle Marktentwicklungen. Wir verlieren uns in den virtuellen Welten von Social Media, in Computerspielen. Und abends unterhalten wir uns nicht mit unseren Liebsten, sondern hören Podcats und gucken Netflix.
All das – die normalen Phasen von Veränderung, unsere hyperflexible Gesellschaft und der Fokus auf das Geistig-mentale – sorgt dafür, dass viele von uns sich in einem dauerhaft hohen Erregungszustand befinden. Dieser Zustand geht einher mit viel Kreativität, Offenheit, mit dem aufregenden Gefühl von „Alles ist möglich”. Daran ist erstmal nichts schlecht. Aber so wertvoll Abwechslung, Veränderung, Flexibilität auch sind – diese Qualitäten brauchen ein Gegengewicht.
Denn wenn es zu viel Instabilität, zu viel Bewegung gibt in deinem Leben, zu viel Denken und zu wenig Fühlen, dann hat das Nebenwirkungen. Vielleicht schläfst du schlecht, hast Probleme mit der Verdauung, bist nervös, zerstreut und unorganisiert, fühlst dich überfordert und gestresst. Besonders problematisch wird das, wenn du sowieso schon ein Typ bist, der ein Übermaß an „luftigen” Qualitäten mitbringt (mehr dazu erfährst du in unserem Artikel zum ayurvedischen Konstitutionstyp Vata).
Und hier kommt das Thema Erdung ins Spiel. Denn das einzige, was dich aus diesem instabilen, bewegten Zustand wieder auf die Erde herunter bringen kann, ist (du ahnst es): Erdung. Wenn du erdende Yoga-Übungen praktizierst und auch deinen Alltag mehr auf Erdung ausrichtest, bringst du dich wieder ins Gleichgewicht. Dann kannst du die Möglichkeiten der modernen Welt genießen – und dich gleichzeitig sicher, ruhig und stabil fühlen. Und voller Vertrauen und in Sicherheit die stetige Veränderung des Lebens annehmen.
Wie kann ich mich mit Yoga erden?
Beim Yoga nutzen wir die Verbindung zwischen Körper und Geist. Wenn wir uns emotional-mental gerade instabil und unsicher fühlen, wenn wir das Gefühl haben, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, wie ein Blatt im Wind ohne Halt durch unser Leben getrieben zu werden, dann können wir durch unsere Yoga-Praxis unser inneres Empfinden positiv beeinflussen. Konkret kannst du dafür Yoga-Haltungen und -Übungen nutzen, die erdend wirken (siehe Yoga-Sequenz weiter unten). Du kannst aber auch jede Yoga-Praxis in eine erdende Sequenz verwandeln, indem du auf die folgenden Aspekte achtest:
- Keep it simple: Eine simple, bekannte Sequenz ist erdender als eine ausgefallene mit unbekannten Asanas.
- In der Ruhe liegt die Kraft: Wenn du dich erden willst, achte besonders darauf, langsam und entspannt zu atmen.
- Fokus!: Konzentriere dich bewusst auf deine Praxis. Balancehaltungen wirken hier unterstützend, da du dich automatisch stark fokussieren musst, um sie auszuführen.
- Ein festes Fundament: Achte für mehr Erdung beim Yoga besonders darauf, alle Asanas sorgfältig von der Basis her auszubauen. Das sorgt für Stabilität.
- Starke Beine: Eine erdende Sequenz sollte viele Standhaltungen integrieren. Die bauen nämlich nicht nur die Kraft in Füßen und Beinen auf und sorgen so für ein Gefühl von Stärke und Stabilität, sondern zentrieren und fokussieren dich auch (s.o.).
- Kraftvolles Zentrum: Aber nicht nur starke Beine helfen dir, dich geerdeter zu fühlen. Auch die tiefe Bauchmuskulatur spielt eine entscheidende Rolle für dein Gefühl von Stabilität und Ruhe. Eine erdende Yoga-Praxis sollte deshalb immer mindestens eine Übung für den Core beinhalten.
Kurze Yoga-Sequenz für mehr Erdung
1. Meditation: Lass deine Wurzeln wachsen
Komme in deine liebste Meditationshaltung. Spüre den Boden unter den Sitzknochen und an allen Stellen deines Körpers, die den Untergrund berühren. Lass nun deinen Körper schwer in die Erde sinken, gib alle Anspannung an sie ab.
Nun ziehe aus dieser schweren, stabilen Grundlage Kraft nach oben durch deinen Körper und richte dich – mühelos und entspannt – noch mal auf. Rolle deine Schultern entspannt nach hinten-unten. Ziehe das Kinn leicht zum Brustkorb. Du fühlst dich jetzt ganz ruhig und entspannt in deiner völlig stabilen Haltung.
Nun stell dir vor, dass aus allen Stellen deines Körpers, die den Boden berühren, Wurzeln wachsen. Diese Wurzeln sind stark und stabil und wachsen mühelos und stetig in die nährende Erde hinein. Lass sie wachsen, bis du das Gefühl hast, dass du nun sicher verwurzelt bist.
Nun ziehe aus deinen Wurzeln Energie aus der Erde in deinen Körper hoch und lasse diese nährende Energie in deinen ganzen Körper ausstrahlen. Ich stelle mir diese Energie gerne als goldenen Licht-Glimmer vor. Du kannst aber jedes innere Bild nutzen, das dir hilft.
2. Bauchatmung
Die Bauchatmung ist eine einfache Atemübung, die jeder Mensch ausführen kann. Sie bringt dich zurück in die frühe Kindheit, in der du durchgängig tief und entspannt in den Bauch geatmet hast, und wirkt beruhigend und nährend.
Bleibe dazu entweder in deiner Meditationshaltung oder lege dich entspannt auf den Rücken. Und dann beginne – ganz ohne Druck oder Zwang – deinen Atem in den Bauch zu lenken. Wenn dir das schwer fällt, lege eine Hand auf den Bauch und atme zu dieser Hand. Mit jedem Atemzug entspannst du mehr. Atme so einige Minuten oder solange es dir guttut.
3. Berghaltung, Tadasana
Die Berghaltung ist DIE erdende Asana. Baue die Haltung gut auf und nimm dir dann einige Minuten Zeit, um dich zu verwurzeln. Und dann sei ein Berg: Spüre, wie stabil und stark sich diese Haltung anfühlt.
Hier zeigt dir Petros Haffenrichter, wie es geht:
4. Sonnengruß: Grüße die Sonne
Wenn du willst, übe jetzt drei Sonnengrüße deiner Wahl. Achte dabei vor allem darauf, dass du tief und entspannt atmest. Führe die Bewegungen so langsam und kontrolliert wie möglich aus.
5. Krieger III, Virabhadrasana III
Der dritte Krieger (oder auch Held) ist eine Standhaltung, die deine Beine effektiv kräftigt und dich in die Balance bringt.
Komme dafür in die Berghaltung mit nach oben ausgestreckten Armen. Bring dein Gewicht auf dein linkes Bein. Lehne dich nun mit dem Oberkörper nach vorne, während du dein rechtes Bein nach hinten gestreckt anhebst. Der Kopf bleibt dabei in Verlängerung der Wirbelsäule, du blickst also nach unten. Zieh die Schulterblätter hinten zusammen, so gut es geht, damit die Schultern nicht an deinen Ohren kleben. Die Hüftknochen sind möglichst parallel zum Boden.
Bleib nun einige Atemzüge in dieser „Standwaage” und wiederhole die Übung dann auf dem anderen Bein.
6. Baum, Vrksasana
Der Baum ist die wohl bekannteste Balance-Haltung im Yoga. Sie wirkt sehr zentrierend und erdend – weil du nicht nur eine gute Basis aufbauen, sondern dich auch stark fokussieren musst, um im Gleichgewicht zu bleiben.
In diesem Tutorial zeigt dir Petros Haffenrichter, wie du den Baum korrekt übst:
7. Unterarmstütz
Der Unterarmstütz stärkt nicht nur deine tiefen Bauchmuskeln, sondern deinen gesamten Körper. So stärkst und stabilisierst du dein ganzes System.
Komm dafür in den Liegestütz und lege dann deine Unterarme so parallel zueinander vor dir ab, dass deine Ellenbogen direkt unter deinen Schultern sind. Dein Körper formt jetzt eine kraftvolle Linie vom Kopf bis zu den Fersen. Achte darauf, dass du im Schulter- und Rückenbereich nicht durchhängst.
Halte den Unterarmstütz so lange, bis du nicht mehr entspannt atmen kannst.
8. Dreh dich, räkel dich...
Nach so vielen stabilisierenden Übungen darfst du nun eine Asana deiner Wahl üben. Mach einfach das, was dein Körper jetzt braucht. Vielleicht sehnst du dich nach einer offenen Drehung wie Matsyendrasana oder willst deinen Oberkörper mit Katze-Kuh mobilisieren?
9. Sitzende Vorwärtsbeuge, Paschimottanasana
Zum Abschluss darfst du nun mindestens zehn Atemzüge lang in der sitzenden Vorwärtsbeuge in dich hineinspüren: Spürst du mehr Erdung, Sicherheit, Ruhe?
Isabel Djukanovic zeigt dir, wie es geht:
10. Schlussentspannung, Shavasana
Nun kannst du es dir in der Schlussentspannung Shavasana gemütlich machen. Lass dich tief in die Erde sinken und spüre, wie sicher und getragen du dich nun fühlst.
Hier führt dich Lucie Beyer durch ein kurzes Shavasana:
Alternativ kannst du diese Sequenz für Erdung und Stabilität mit Dr. Janna Scharfenberg üben:
Erdung im Alltag
Aber nicht nur durch Yoga kannst du deinen inneren Zustand in Richtung Stabilität, Sicherheit und Vertrauen beeinflussen. Die Art und Weise, wie du deinen Alltag gestaltest, kann dich dabei unterstützen, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Routine erdet
Je mehr Routine du in deinen Tagesablauf bringst, umso stabiler wirst du dich fühlen. Denn wenn dein Geist und dein Körper wissen, was sie erwartet, sorgt das für einen festen Rahmen – für deine körperlichen Prozesse wie Verdauung, Schlaf und ähnliches, aber auch für deine psychischen Vorgänge („In der Pause nach dem Mittagessen kann ich mich erholen und innerlich auftanken.”).
Nähre dich
Besonders wichtig sind dabei feste Essenszeiten und die passende Nahrung. Laut der alten indischen Gesundheitslehre Ayurveda sollten alle Mahlzeiten warm und leicht verdaulich sein. Suppen und Eintöpfe sind jetzt optimal. Achtung: Wenn du dich nach Erdung sehnst, wirst du wahrscheinlich außergewöhnlich viel Lust auf Süßes haben. Greif aber lieber nicht zum Schokoriegel (wobei ein bisschen dunkle Schoki noch niemandem geschadet hat), sondern iss nährendes Wurzelgemüse wie Karotten, Kartoffeln, Rote Beete, Sellerie oder Süßkartoffeln. Diese der süßen Geschmacksrichtung zugeordneten Lebensmittel beruhigen oft das Verlangen nach Eiscreme und Co. und wirken gleichzeitig erdend.
Auf in die Natur (am besten barfuß)
Es gibt kaum etwas, das effektiver deine Erdung fördert als Zeit in der Natur. Wenn du gerade durch eine Phase großer Verwirrung und Unsicherheit gehst, kann ein täglicher Waldspaziergang sehr hilfreich sein. Wenn die Temperaturen es erlauben, gehe so oft wie möglich barfuß. Du wirst merken, wie schnell du zur Ruhe kommst, wie leicht es dir fällt dich zu spüren und in den Moment zu kommen, sobald deine Füße die Erde unter sich spüren.
Verbinde dich mit der Welt
Eine wunderbare Methode dich zu erden ist in die Verbindung zu gehen. Schnapp dir einen lieben Menschen und lass dich ganz fest umarmen. Das holt dich ganz schnell wieder auf die Erde zurück. Oder mach dir die Hände dreckig: Gärtnere. Backe. Töpfere. Spüre dich und deinen Körper hier in der realen Welt und verbinde dich so mit der Welt, die dich jetzt umgibt.
In diesem Sinne: Immer schön am Boden bleiben!