
Ahimsa – für ein Leben ohne Gewalt
Wir leben in schwierigen Zeiten voller Gewalt. Unsere Gesellschaft richtet mit ihrer Gier die Natur und unser Ökosystem zugrunde, Geflüchtete ertrinken in den Meeren vor Europa, der Rohstoffhandel nimmt Leben in Kauf, Frauen im Iran, die für ihre Rechte auf die Straße gehen, werden mit Gewalt mißhandelt oder erschossen und populistische Politiker schüren die Angst vor dem Unbekannten und Mangel. Mehr denn je ist unsere Yoga-Praxis gefordert. Aber nicht, um abzuschalten, uns schöner zu fühlen oder den Körper zu formen, sondern um Gewaltfreiheit zu leben und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Was hat das mit Yoga zu tun? Patanjalis Yoga-Sutra und Ahimsa
Der achtgliedrige Yogaweg aus Patanjalis Yoga-Sutra beginnt mit fünf Yamas, ethischen Richtlinien, wie wir klug mit anderen Lebewesen umgehen und Frieden fördern können. Ahimsa ist das erste und wichtigste ethische Grundprinzip im Yoga. Himsa bedeutet „töten” oder „Schmerzen verursachen”, „a“ bedeutet „nicht”. Ahimsa bedeutet also, gewaltlos mit sich selbst und mit anderen umzugehen.
„Wer in Rede, Gedanken und Tat fest in der Gewaltlosigkeit gründet, in dessen Gegenwart lassen andere von Feindseligkeit ab.”
Patanjali, Yoga-Sutra
Vom „Ich“ zum „Wir“
Die wichtigste Voraussetzung, um Ahimsa tatsächlich zu begreifen und so auch in die Tat umzusetzen, ist das Verständnis des All-Eins. Wir alle sind miteinander verbunden, genauso wie mit allem Lebendigen, allen Pflanzen, der Luft und allen Tieren. Welchen Sinn hätte es also, jemand anderem Schaden zuzufügen, wenn wir damit am Ende uns selbst schaden? Was können wir tun, um den Fokus von unserem „narzisstischen Ich”, dem Ego, zu nehmen und wirklich das erste Yoga-Prinzip, also Ahimsa, wirklich ernst zu nehmen? Was können wir tun, um möglichst sanftmütig und friedlich miteinander umgehen?
Entwickle eine Achtsamkeitspraxis und werde dir deiner schlechten Gedanken bewusst.
Wenn du dich dabei ertappst, wie du schlecht oder urteilend über dich selbst oder andere denkst, werde dir ganz achtsam bewusst, dass du diese Gedanken denkst und diese da sind. Sei dir aber auch bewusst, dass diese Gedanken nicht du sind. Identifiziere dich nicht mit ihnen, sondern nimm sie an und lasse sie ohne Groll weiterziehen.
Übe Maitri (auch Metta genannt) – liebevolle Güte
Ein wichtiger Begriff im Zusammenhang mit Ahimsa ist Maitri, die liebevolle Güte – sie entspricht dem buddhistischen Pali-Begriff Metta. Wir sollten bei jeder Handlung Maitri kultivieren. Wer aus Maitri heraus spricht und handelt, praktiziert automatisch Ahimsa. Das kannst du beispielsweise in der Meditation üben, hier mit Laura Malina Seiler:
Ahimsa im Alltag: Gewaltfreie Kommunikation (und Aktion)
Wir allen kennen vermutlich Yogi:nis, fünfmal die Woche im Studio schwitzen, stöhnen und selig lächeln. Eines Tages stehen sie im Supermarkt vor uns an der Kasse – und motzen mit hochrotem Kopf den Kassierer an und benehmen sich vollends daneben. Gemecker wegen Nichtigkeiten, und von Ahimsa keine Spur.
Und in genau solchen Situationen ertappen wir uns sicher selbst auch. In der Theorie, in unserer Yoga-Praxis und in der Meditation ist uns das Konzept Ahimsa vielleicht schon sehr klar. Aber im täglichen Umgang mit den Arbeitskollegen, im Straßenverkehr oder auch mit deinem Partner fällt es dir vielleicht doch manchmal schwer, ohne Gewalt zu kommunizieren. Entwickele eine Aufmerksamkeit dafür, wann du nicht im Einklang mit Ahimsa sprichst oder handelst. Nimm es wahr, ohne negativ über dich selbst zu denken und zu urteilen. Kultiviere eine liebevolle Achtsamkeit, und du wirst merken: Mit der Zeit wird es leichter.
Stelle dir diese Fragen: Wie gehe ich mit meinem Partner um? Meinen Kindern? Meinen Freunden? Ja, auch meinen Feinden? Wie sind meine Worte, wie ist mein Handeln, mein Denken? Wo ist Ahimsa?
Lass uns klein anfangen und große Ahimsa-Wellen schlagen
Wir können klein anfangen. Jeder Schritt zu Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Toleranz zählt. Ein wunderbarer Yogalehrer, Chris Chavez, hat 2013 mit seinen Schüler:innen, als es in Istanbul viele Unruhen gab, einfach seine Yogamatte zwischen Demonstrierenden, Polizei und Tränengas ausgerollt und mittendrin Yoga unterrichtet. Es mag verrückt klingen, doch er hat tatsächlich etwas damit bewirkt. Wie mutig!
Ahimsa und Umweltschutz
Klimaschutz ist heute wichtiger denn je. In unserem Umgang mit unserer Erde fehlt es ganz klar an Ahimsa. Wir müssen dringend aufhören, der Umwelt, dem Ökosystem und den Tieren Gewalt zuzufügen oder sie auszubeuten. Denn am Ende zerstört die Menschheit ihren eigenen Lebensraum, indem sie Raubbau an der Natur betreibt. Gibt es ein besseres Sinnbild dafür, dass im Universum alles eins und miteinander verbunden ist?
Ahimsa und vegane Ernährung
Mit dem Weltvegantag, ausgerufen von der Vegan Society, sensibilisieren Aktivistinnen und Aktivisten seit 1994 jährlich am 1. November für einen veganen Lebensstil und seine Vorteile. Vielleicht ist eine vegane Ernährung auch schon Teil deiner Praxis, um Leid und Gewalt an anderen Lebewesen zu vermeiden (im Jivamukti Yoga etwa spielt dieser Aspekt des Ahimsa eine große Rolle). Antje Schäfer, Co-Gründerin von Jivamukti München, erzählt uns über ihre eigenen Erfahrungen mit yogischem Vegetarismus und Ahimsa.
Antje Schäfer über gelebtes Ahimsa: „Ich esse seit 15 Jahren vegan”
Schon als Kind dachte ich mir, wie unlogisch es ist, dass ich meine Katze über alles liebe und gleichzeitig andere Tiere esse. Schon damals war mir klar, dass etwas schief läuft in unserer Gesellschaft. Die Selbstverständlichkeit, mit der die einen Tiere als Haustiere verehrt werden und mit einem das Bett teilen dürfen und die anderen als Essen auf unserem Teller landen, ist irritierend. Obwohl mir dieses unlogische Verhalten auffiel, habe ich lange nichts an meinem Verhalten geändert, fand aber schon als Kind, dass wir alle Vegetarier sein müssten.
Es hat dann bis zu meinem 25. Lebensjahr gedauert, bis der letzte Baustein, der noch gefehlt hatte, eingefügt wurde. Und zwar im Zuge eines ganz natürlichen Prozesses. Nicht weil mich jemand überzeugt hätte, nicht weil ich es zu einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen hätte, sondern weil ich Yoga geübt habe. Durch die Yoga-Praxis ändern sich ein paar Dinge mit der Zeit von alleine, ganz stimmig, ganz harmonisch und vor allem ohne Zwang, sondern aus einem inneren Bedürfnis heraus.
Man lässt nur etwas weg
Und das finde ich so schön an diesem „yogischen Vegetarismus“. Man verbietet sich nichts oder verzichtet nicht auf etwas, das einem fehlen würde, sondern man lässt etwas weg, was niemand braucht. Weder der Körper noch das Umfeld und die Umwelt, noch die Lebewesen, die mit uns diese Erde teilen. Man lässt etwas weg, was entweder einem selber und/oder anderen geschadet hat. Aus verschiedenen Gründen hat man es davor getan und nur bis zu einem gewissen Grad erkannt, dass es schadet, überflüssig ist oder nur aus Gewohnheit und gesellschaftlichen „Zwängen“ gemacht wurde. Und das bezieht sich nicht nur auf die Ernährung, sondern auf das gesamte Verhalten.
Gelebtes Ahmisa
Mein Veganismus ist gelebtes Ahimsa. Wenn man anfängt regelmäßig und ernsthaft Yoga zu üben, ergibt sich Ahimsa auf verschiedenen Ebenen wie von selbst. Neben der Tatsache, dass man keine tierischen Produkte mehr essen möchte, reduziert sich auch das Bedürfnis, Alkohol zu trinken – es fühlt sich einfach nicht mehr gut an. Der Körper sagt einem, dass Alkohol ein Gift ist, das weder der Yoga-Praxis hilft noch sonst ein Verlangen im positiven Sinne nachhaltig befriedigen würde. Man verhält sich auch anderen gegenüber achtsamer, verstößt weniger gegen Regeln des Zusammenlebens, achtet mehr auf seine Sprache und Wortwahl und bemüht sich, andere weniger zu verletzen, oder wie es auch in dem Yoga Sutra heißt: Man versucht „zukünftiges Leid zu vermeiden”. Man wird weniger egoistisch.
Dieser Wandel macht sich auch sehr stark im Konsum bemerkbar. Man kauft bewusster, fragt sich, brauche ich das wirklich, ist mein altes Sofa nicht noch gut genug, auch wenn ich es mit 14 bekommen habe. Man macht sich Gedanken darüber, wie und von wem oder aus wem welche Produkte gemacht werden. So gehört für mich zu einer veganen Ernährung aus Überzeugung auch das Reduzieren von Leder- oder Daunenprodukten dazu. Es macht einfach keinen Spaß sich etwas zu kaufen und anzuziehen, wofür jemand anderes so leiden oder sein Leben geben musste. Und so findet man gerne Alternative für Lederschuhe, für Honig und auch für die nächste Autofahrt. Denn auch dafür schärft sich das Bewusstsein. Wie wir uns fortbewegen hat eine immense Auswirkung.
Annäherung an den Wesenskern
Und alles nur, weil man seinen Körper bewusst bewegt und verknotet, den Atem beobachtet und ein Verständnis für das eigene Innenleben mit all seine Gedanken, Meinungen, Gefühlen, Wünschen, Abneigungen und Gewohnheiten entwickelt.
Durch die Yoga-Praxis nähert man sich seinem eigenen Wesenskern an, wie immer man den auch nennen mag: Göttlicher Funke, Urkraft, die in allem enthaltene Grundenergie, Mutter Natur oder Brahman. Und es wird einem klar, an diesem Ort im Inneren wirkt dieselbe Kraft, die in allen Lebewesen, in ALLEM steckt. Das Bewusstwerden dieser verbindenden Energie ist der Ausgangspunkt für die Veränderungen im Verhalten. Es ist noch nicht einmal wichtig, ob das alles unbewusst statt findet oder klar ausformuliert wird: Yoga wirkt einfach – und das ist das Besondere daran.
Eine Ernährung, die kein Leid erzeugt
So hat sich für mich auch eine Ernährung entwickelt, die sich von innen heraus logisch anfühlt und so wenig Leid wie möglich erzeugt. Und wenn man etwas auf seinen Körper hört, dann hat man auch nicht zu befürchten, dass einem etwas fehlen würde. Der Körper teilt einem mit, was eine ausgewogenen Ernährung ist, weil man auf bestimmte Nahrungsmittel dann plötzlich mehr Lust hat und sich zum Beispiel plötzlich mehr Linsen kocht oder zum Inder geht und sich ein Dhal bestellt.
Trotzdem lasse ich ab und zu mein Blut testen, was ich auch empfehlenswert finde. Die ersten zehn Jahre hatte ich nie einen „Mangel“. Die eigenen Vitamin-B-Speicher sind meist gut gefüllt und halten jahrelang. In den vergangenen Jahren brauchte ich vermehrt Vitamin B „von außen“. Ich finde VitaminB-Tabletten aber völlig akzeptabel im Vergleich zu dem, was an Leid entstehen würde, wenn ich mich anders ernähren würde.