
AcroYoga, das Yoga der Gemeinschaft
AcroYoga ist ein noch junger Yogastil, der Yoga, Akrobatik und Heilkunst verbindet. 1999 begannen Jessie Goldberg und Eugene Poku unter dem Namen AcroYoga Montréal eine Kombination aus Yoga und akrobatisch-tänzerischen Elementen zu unterrichten und begeisterten damit viele Yogi:nis. Mit der Gründung von AcroYoga International im Jahr 2003 durch Jenny Sauer-Klein und Jason Nemer wurde AcroYoga international bekannt. Jenny und Jason fingen an, weltweit Workshops zu geben, und eine lebendige Community mit Conventions und Treffen auf der ganzen Welt entstand.
Wer heute AcroYoga recherchiert, findet vor allem auf den Sozialen Medien eine Vielzahl von beeindruckenden Fotos und Videos der Praxis. Doch AcroYoga ist weit mehr als nur schicke Bilder!
Die Rollen im AcroYoga
An jeder AcroYoga-Übung sind mindestens zwei, meistens drei Personen beteiligt, und zwar in folgenden Rollen:
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Base (die Basis): Die Basis ist natürlich der- oder diejenige, die mit dem Boden verbunden ist und den anderen tragen.
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Flieger oder Flyer: Der oder die Fliegende darf sich tragen lassen und abheben.
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Spotter (der/die Beobachter:in): Den beiden steht ein Spotter zur Seite, als Hilfe und zur Entlastung.
Traditionellerweise wird im AcroYoga zu dritt praktiziert, vor allem wenn es darum geht einen neuen Trick zu erlernen. Als Hilfestellung hast Du die Möglichkeit wirklich für deine Mit-Übenden da zu sein. Womöglich trauen sie sich nur durch deine Präsenz, einen neuen Trick auszuprobieren, in den Handstand zu gehen und über sich selbst hinauszuwachsen. Als Spotter trägst du eine große Verantwortung!
Die zwei Richtungen des AcroYoga
Grundsätzlich unterscheidet man im AcroYoga zwei Qualitäten: Die eher ruhige Variante des „Fliegens”, das therapeutische Fliegen, und die eher dynamische, kraftvolle Variante, das akrobatische Fliegen.
Solar Practice: Das Akrobatische Fliegen
Letztere Variante ist geprägt von Spielfreude und erfordert eine Menge Konzentration. Nach den Prinzipien der Partnerakrobatik werden hier zwei, drei oder mehr Körper in teilweise atmenberaubenden Positionen aufeinandergestapelt. Dieser Prozess macht nicht nur unglaublich viel Freude, sondern trainiert auch Kraft und Körperspannung, das Balancegefühl sowie die sozialen Fähigkeiten enorm.
Bevor es aber ans Fliegen geht, sind erst mal Vertrauensübungen dran. Denn Vertrauen will gelernt sein! Sich von den Füßen eines Menschen, den du vielleicht sogar noch nicht kennst, tragen zu lassen, erfordert großes Vertrauen. Da ist es wichtig, vorab ein paar Übungen zur Vertrauensgewinnung zu praktizieren.
Innerhalb der akrobatischen Praxis gibt es dann unterschiedliche Kategorien, in denen man trainieren kann. Meistens startet man mit einfachen statischen Positionen im sogenannten „L-Basing”, bei dem die Base mit den Beinen im rechten Winkel zum Oberkörper auf dem Rücken liegt. Klassiker sind hier zum Beispiel der Flieger oder der Thron (siehe Bild unten). Es geht hier darum die Grundlagen der akrobatischen Technik zu erlernen.
Sobald die Basics sitzen, können die unterschiedlichen, akrobatischen Kategorien ausprobiert werden. Der Klassiker am Anfang sind die sogenannten „Washing Machines” – das sind Sequenzen, die bei einer Position beginnen, dann durch unterschiedliche Haltungen führen und schließlich wieder bei der Ursprungsposition ankommen. Es gibt Washing Machines, die sich eher auf einer vertikalen Ebene bewegen und dann einige, die auf der horizontalen Ebene stattfinden. Innerhalb der horizontalen Ebene redet man häufig vom sogenannten „Spinning”, wie zum Beispiel beim bekannten „Ninja Star”.
Wenn die Kontaktpunkte von Flieger und Base weniger werden und der Flieger durch die Gegend „geschossen” wird redet man vom so genannten „Popping” oder auch wie in der traditionellen Akrobatik von „Icarian”. Die Icarian machen unglaublich viel Spaß, brauchen jedoch ein sehr hohes Level an Erfahrung und Geschick, vor allem von der Hilfestellung. Wenn bei den Icarians etwas schief geht, dann im Bruchteil von Sekunden!
Übrigens: Was im Yoga die „Königsdisziplin” ist, gilt in der Akrobatik als das Fundament – der Handstand. Er hilft nicht nur dem Flieger, die nötige Körperspannung aufzubauen, sondern lehrt auch die Base die richtige Ausrichtung (auch Alignment genannt) zu trainieren, vor allem wenn es um die „stehende Akrobatik” geht. Wir wachsen also in der Evolution der Akrobatik vom „L-Basing” nach oben zum Stehen. Auch hier gibt es tolle Sequenzen und Übergänge. Meistens wird aber der “H2H”, also „Hand to Hand” praktiziert, bei dem der Flieger im Handstand auf den Händen der Base balanciert wird.
Interessanterweise kommt es beim akrobatischen Training eher selten zu Verletzungen, was wohl dem Grad der Aufmerksamkeit und der Nutzung einer Hilfestellung zu verdanken ist. Die Sicherheit aller ist das wichtigste Fundament von AcroYoga und die Voraussetzung dafür, dass die Freude beim Praktizieren im Vordergrund steht. Apropos: In der Solar Practice, also der Partnerakrobatik und dem Handstand-Training, lautet das Motto: „Solange es Spaß macht, ist es richtig!”
Das akrobatische Fliegen richtet sich ganz nach den Fähigkeiten und dem Erfahrungsgrad von Flieger, Base und Spotter. Es gibt Variationen für alle Level. Only the Sky is the Limit!
Im AcroYoga müssen Anfänger:innen und Fortgeschrittene übrigens nicht getrennt üben: Erfahrene AcroYogi:nis sollten in der Lage sein, mit Menschen jeden Alters und unabhängig von deren körperlichen Voraussetzungen zu praktizieren.
Lunar Practice: Das Therapeutische Fliegen
Hier wird die obere Person, der „Flieger”, auf den Füßen der unteren Person, der „Base”, in Positionen gebracht, die klassischen Asanas sehr ähneln. Der Körper des Fliegers wird dabei gedehnt, gedreht und massiert. Die Schwerkraft tut mit ihrer erdenden Kraft das übrige, sowohl für die Base als auch für den Flieger. Wie fortgeschritten jemand beim therapeutischen Fliegen ist, wird insbesondere an der Tiefe des Innehaltens gemessen. Je mehr eine Base in den Körper des Fliegers hinein zu spüren versteht, desto mehr werden Qualitäten des Loslassens, des Vertrauens und der Entspannung transportiert.
Die perfekte Vorbereitung für das Therapeutische Fliegen ist die Thai Massage am Boden. Die Griffe und Techniken ähneln denen in der Luft stark und können so erst einmal – ohne die Herausforderung des Balancierens – in Ruhe praktiziert werden.
Das Therapeutische Fliegen kann nicht nur eine tiefe physische Entspannung mit sich bringen. Auch der emotionale Körper wird stark angesprochen. Du kannst ganz loslassen, wirst getragen und darfst Vertrauen üben. Oft führt das zu emotionalen Reaktionen wie lachen oder weinen. Das zeigt, wie kraftvoll diese Praxis ist – und betont noch mal, wie wichtig Achtsamkeit und Verantwortungsbewusstsein beim Therapeutischen Fliegen ist. Das Vertrauen, das beim Therapeutischen Fliegen aufgebaut wird, darf nicht missbraucht werden! Genauso wenig passt es zur Praxis, beeindruckende Techniken nur anzuwenden, um anzugeben, aber dabei den Empfänger und dessen Bedürfnisse nicht wirklich zu spüren.
Sind wir uns der potenziellen Tiefe der Praxis bewusst, kann sie ein wunderbares Geschenk an Freunde und Verwandte sein. Oder auch eine sinnvolle professionelle Erweiterung, etwa für alle, die Massagen anbieten.
Die goldene Regeln der Lunar Practice (wozu nicht nur das Therapeutische Fliegen, sondern auch die Thai Massage gehört) lautet: „Wenn es sich gut anfühlt, dann ist es gut!” Die Basis für dieses positive Gefühl ist eine gute Kommunikation zwischen Gebendem und Empfänger:in, der Fokus auf eine korrekte Technik, der volle Körpereinsatz und eine gute, logische Positionierung.
Die Kunst der Kommunikation
Alles, was wir im Yoga üben, können wir im AcroYoga wunderbar anwenden. Viele Yogi:nis praktizieren – nicht nur auf der Matte – die Regeln, die in den Yogasutra des großen Denkers Patanjali vermittelt werden.
So können wir zum Beispiel Ahimsa, die Gewaltlosigkeit, üben, indem wir achtsam, mitfühlend und gewaltfrei miteinander kommunizieren. Das ist manchmal nicht so einfach – vor allem wenn wir beim Üben aufgeregt sind und unter Spannung stehen. Deshalb achten wir beim AcroYoga darauf, nie mit dem Finger auf eine Person zu zeigen, sondern immer nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Im Fokus steht der Gruppenprozess, für den jede und jeder Verantwortung trägt. Die Perspektive ist nicht “Du machst das nicht richtig”, sondern “Wie können wir es besser machen?”.
Genauso wichtig ist die Praxis von Satya, die Wahrhaftigkeit, im Sinne von ehrlichem Feedback. Wenn dein Partner nicht weiß, wie du dich fühlst, dass du zum Beispiel Angst hast oder müde bist, kann das zu gefährlichen Situationen führen. Im AcroYoga gehen wir deshalb von den besten Intentionen jeder:s Einzelnen in der Gruppe aus und üben Vertrauen, in dem wir für uns und die anderen sorgen und unsere Wahrheit aussprechen.
AcroYoga ist für alle da!
Ich habe in meiner Karriere als AcroYogalehrerin schon sehr viele unterschiedliche Menschen fliegen dürfen. Menschen mit nur einem Bein oder Arm, Menschen im Rollstuhl, Übergewichtige, Schwangere, sehr Große, Babies… Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich aber nicht zuerst an die körperlichen Einschränkungen, sondern ihre lachenden Gesichter, wenn sie auf meinen Füßen waren.
Wenn es darum geht, den richtigen Fokus im AcroYoga zu behalten, hilft mir vor allem eins: Mich immer wieder an meine ersten Flugversuche zu erinnern und die Freude und Dankbarkeit, die ich für meine Bases und Lehrer damals hatte. Es ist ein Geschenk, das Vertrauen eines anderen Menschen zu erhalten, wenn diese sich das erste Mal auf meinen Füßen in eine AcroYoga-Pose begeben!
AcroYoga ist eine sehr ästhetische Yogaform. Man kann in relativ kurzer Zeit schnell zu erstaunlichen Resultaten kommen. Das kann gerade für das Ego eine große Herausforderung sein. Manchmal wird dann vergessen, dass es eigentlich um die Stärkung und Erfahrung der Gemeinschaft geht – und nicht um ein „schneller, höher, weiter”. An dieser Stelle unterscheidet es sich dann, ob die Praxis mit Yoga zu tun hat oder nur eine Jagd nach dem nächsten „coolen Trick” geworden ist. Solange das Ego nicht mitlernt und transformiert wird, ist es meines Erachtens kein Yoga. Egal, welchen Yogastil du praktizierst.
Natürlich ist es wichtig, seinem Level entsprechend zu trainieren. Doch nehmen wir einmal das offene AcroYoga-Training, das wir in der AcroYoga-Szene „Jam” nennen: Im Optimalfall widmet man sich einer gewissen Zeit seinem eigenen Projekt, trainiert mit seinem Partner, um zu lernen und weiter zu kommen – und öffnet sich dann immer auch dem Rest der Gruppe. Fragt, wer Hilfe braucht oder teilt einen Trick, den man gerade erlernt hat. Große Egos dagegen sind vor allem eines: anstrengend.
Meine Empfehlung: Genieße und priorisiere deine eigene Praxis – und dann lege deinen Fokus auf die Unterstützung anderer und helfe so der Community bei der Weiterentwicklung. Dann wachsen wir gemeinsam und es macht allen noch mehr Spaß!
Die besten AcroYoga-Ausbildungen
- AcroYoga Gang Teacher Training mit Lucie Beyer & Ingrid Quintana (Nächster Ausbildungstermin: 1. bis 17. August 2022 im Freiraum Füssen)
- AcroYoga International
- AcroYoga Montréal
- Flying Yogis Weisheitshüter
AcroYoga-Festivals
- German Kula Celebration – das deutsche AcroYoga Festival, 7. bis 10. Juli 2022
- Acroatia
- Sicily Acro Convention
- Dutch Acro Convention, Mai/Juni 2022
- Acronyx
Hier eine Auswahl an ausgebildeten Lehrer:innen in Europa, die ich gerne empfehle:
- Jules Tollkühn (Berlin) // www.yogabyjules.de
- Luka Agreš (Berlin) // www.acroatia.org
- Mito aka Flying Monkey (München) // www.flyingmonkey.eu
- Jen & Pri (Barcelona) // www.prijenacro.com
- Sara & Jannik aka “Feel The Flow” (Hamburg) // www.feeltheflowhh.de
- Tanja & Ales (Slovenien) // www.safeacrobatics.com
- Julia & Pascal Weis (Landau) // www.swadharma.myshopify.com
- Oliver Chamo & Sharon Peregrina aka Acromoves (Spanien) // www.acromoves.com