Stress ist cool, bis er krank macht

Von Kristin Rübesamen

Im Nachbarhaus zogen vor einiger Zeit Nachbarn ein, eine freundliche Familie mit drei kleinen Kindern, die sich kräftig um Anschluss bemühte. Die Mutter rief vom Balkon einer anderen Mutter hoffnungsvoll zu: „Wir haben immer Zeit“. Die Resonanz blieb verhalten. Über Wochen spielte die Neue mit ihren Kindern alleine im Hof, die anderen Kinder waren zu beschäftigt. Neulich traf ich die Mutter auf der Straße. Sie kam mir im Eilschritt entgegen, das Gesicht voll hektischer Flecken, und rief mir entgegen: Sie trainiere ehrenamtlich die Kindergartenkinder im Handball, habe sich außerdem als Coach selbständig gemacht, sie müsse unbedingt mit Yoga anfangen und wollte mich demnächst dazu „interviewen“. Ihr wisst es selbst, Stress ist cool.

Stress ist uncool

Stress ist nur dann uncool, wenn er sich auf die Gesundheit schlägt. Dann ringen alle die Hände und Listen werden herumgereicht, was alles zu beachten ist, um ein stressfreies Leben zu führen: Regelmäßige Bewegung, ausreichend Schlaf, soziale Kontakte, gesunde Ernährung und zuletzt die richtige Form der inneren Stressbewältigung. Es sind auch diese Faktoren, die darüber entscheiden, wie lange wir leben und wie gesund wir dabei bleiben. Und, das habt ihr vielleicht auch schon gehört: Es gibt den schlechten (Distress) und den guten Stress (Eustress). Guter Stress ist, wenn wir selbst kontrollieren, wie viel wir uns zumuten. Stress hängt also unmittelbar mit unserer Rolle im Job und in der Familie zusammen. Und, das ist aber nur meine kleine steile These, damit, wie sehr wir überhaupt zur Kontrolle neigen. 


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Chronischer Stress macht krank

Shavasana gilt als bewährtes Mittel, um nicht nur alles zu absorbieren, was die Asana-Praxis an Informationen in Körper und Geist eingeschleust hat, sondern auch zu lernen, die Kontrolle abzugeben. Abhinivesha, die Angst vor dem Tod, ist ebenfalls ein Thema, das während der „final relaxation“ hochkommt, und sie zu überwinden, ist eine Lebensaufgabe, wenn wir sie überhaupt jemals loswerden. Viel wichtiger ist, dass wir lernen, wie wichtig Entspannung ist. Nicht nur, wenn wir einmal im Jahr teure Ferien machen, sondern regelmäßig, täglich, und so, wie es individuell für uns passt. Es geht dabei um nicht weniger als unsere Gesundheit. Chronischer Schlafmangel, wie viele Berufe ihn unweigerlich mit sich bringen, erhöhen nicht nur das Risiko, einen Infekt zu bekommen, sondern steigern auch das Risiko an ernsthaften Krankheiten wie Krebs zu erkranken.

Wenn wir tatsächlich schwer zur Ruhe finden, kann umgekehrt aber auch eine Krankheit die Ursache für unsere Schlafprobleme sein. Entspannung suggeriert Körper und Geist, dass alles in Ordnung ist und wir in Sicherheit sind. So sehr uns Stress am Leben hält und uns evolutionsbiologisch überleben lässt – versucht mal entspannt einem enthemmten Wildschwein zu entkommen –, so ungesund ist es, wenn Stressreaktionen ohne Wildschwein und Gefahr auftauchen oder nicht wieder verschwinden. (Hier mehr zu Rückenschmerzen, dem Klassiker unter den Stressreaktionen)

Lümmeln ist gesund

So unterschiedlich der subjektive Leidensdruck ist, so individuell sind auch die Maßnahmen, die uns dabei unterstützen, zu entspannen. Das kann das Herumlümmeln sein, wie Prof. Dr. Joachim Grifka, Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Regensburg, eine „absolute Koryphäe für Rückengesundheit“ im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (21. November 2023) behauptete: „Lümmeln ist gesund!“

Es kann auch, wie man uns Yogi:nis nicht erzählen muss, die Verbindung mit dem Hier und Jetzt sein, mit unserem Atem, mit allem, was uns hält. Und was uns überfordert. Das kann sogar das Bedürfnis sein, dringend entspannen zu müssen und darüber in Stress zu geraten. Neben externen gibt es auch interne Anforderungen, die uns stressen und daran hindern, zu entspannen. Zu hohe Ansprüche an uns selbst. Die realistische Einschätzung unserer Kapazitäten einerseits, der Ansprüche aus der Außenwelt und der Ansprüche an uns selbst andererseits gehört also ebenfalls dazu, um zu verstehen, wann Entspannung wirklich nötig ist. 

Ich hab es nicht gerne, wenn man mir sagt: „Entspann dich!“ Ich finde es bevormundend. Was nicht heißt, dass ich nicht als Yogalehrerin genau das voller Begeisterung immerzu tue – anderen zu sagen, endlich zu entspannen.

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .