
Stabil statt labil
Ok, legen wir gleich los und versuchen mal auf einem Bein zu stehen. Das wird uns als Yogi:nis nicht übermäßig schwerfallen, oder? Vielleicht stemmen wir die Hände in die Hüften, drücken die Beine durch und richten den Blick starr nach vorne am Schreibtisch, auf dem sich die Arbeit türmt, vorbei auf einen grauen, nassen Himmel. Eine kleine Weile geht die Sache gut, dann geraten wir ins Taumeln und geben frustriert auf. Die zweite Seite gehen wir etwas lockerer an, pfeifen aufs Gleichgewicht, verzeihen uns das Wackeln, schwanken abenteuerlich im sanften Einklang mit der Atmung. Prompt halten wir den Baum, Vrikshasana, länger und es macht auch sogar ein wenig Spaß.
Was ist passiert? Wieder einmal haben wir erfahren, warum wir eine Asana am besten mit „Stabilität und Leichtigkeit zugleich” üben sollen laut der pragmatischen Anweisung von Patajanli:
„Sthira Sukham Asanam.”
Vers 2.46 Yoga Sutra, Patanjali
Es ist auffällig, wie viele Menschen in der letzten Zeit mit Balance-Übungen hadern. Wie schnell auch jene, die jahrelang problemlos auf einem Bein stehen konnten, nun zunehmend mit der Balance auch die Geduld verlieren. Vielleicht gibt es in Zeiten der Dauererzählung von der Polykrise auch in unserer bescheidenen Yoga-Praxis ein Problem. Vielleicht fehlt uns im steten Ringen um Stabilität („Sthira”) die zweite Qualität, ein guter Schuss Leichtigkeit („Sukha”)? Leichtigkeit, Behagen, Freude sind von vornherein keine Eigenschaften, die wir in Nordeuropa im Übermaß besitzen.
Ich kenne allerdings eine Frau, die diese Leichtigkeit besitzt. Sie tanzt herum in ihren Klassen, wirbelt wie eine Irre durch den Raum und hinterher gibt es Nüsse und Feigen für alle. So viel hat sie eigentlich nicht zu lachen, wenn man die Arbeitsstunden, ihr Einkommen oder ihre klägliche Rente, die sie irgendwann beziehen wird, bedenkt. Es ist ihre Großzügigkeit, die sie tanzen läßt, ihr großes Herz, das ihr Leichtigkeit schenkt, sie ist ein Wunder. Wahrscheinlich dreht längst jemand einen Film über sie.
Dagegen wir... Schon der Begriff Leichtigkeit scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Ehrlich, denken wir muffig, das werden wohl recht oberflächliche Menschen sein, die unter den jetzigen Umständen „Leichtigkeit“ spüren können. Schön wäre es allerdings schon, mal wieder unbeschwert durchs Leben zu laufen.
Was wohl Patajanli meinte mit Leichtigkeit? Im Rig Vega wird mit „Sukha“ beschrieben, dass ein Gefährt schnell und leicht läuft. Wenn wir heute sagen „läuft“, dann ist damit vielleicht nicht unbedingt Mühelosigkeit gemeint, aber damit etwas laufen kann, braucht es erstmal etwas Schwung. Und von dem könnten wir vielleicht alle etwas mehr gebrauchen im Moment. Nur wie?
Stellen wir uns noch mal hin, ok? Diesmal mit geschlossenen Augen. Diesmal mit dem Ziel, den Verlust des Gleichgewichts nicht als Scheitern zu werten, sondern als Gewinn. Wie langweilig Menschen doch sind, die stets ausgewogen und bedacht einen Schritt vor den anderen setzen. Wie öde so ein Leben wohl in Wahrheit ist? Wie viel reicher ist das Leben dagegen, wenn man das Gleichgewicht verliert und es dann wieder gewinnt? Das klingt natürlich schrecklich kitschig, aber für die Yoga-Praxis macht es wirklich einen Unterschied, mit welcher Intention wir üben. „Keep falling“ schrieb mir der legendäre Rodney Yee im letzten Jahrhundert als Motto auf (mit einem breiten Grinsen im Gesicht).
Alleine zu fallen macht so mittel Spaß, größer ist das Vergnügen, wenn wir es zusammen tun. Wenn wir zusammen fallen, dabei zusamenhalten, wenn erst eine fällt, dann die zweite, am Ende die ganze Gruppe und am Schluss stehen alle wieder auf zwei Beinen. So wird das Fallen auch eine Erfahrung der Solidarität – eine weitere Qualität, die gerade sehr zu kurz kommt. Ihr erinnert euch sicher, wie gut es sich angefühlt hat, als sich alle in den ersten Monaten von Corona gegenseitig unterstützt haben? Diesen Schwung hätte man auch politisch nützen können. Warum hat man damals die Menschen in Pflegeberufen – die ein Leben lang diejenigen, die fallen, auffangen – in ihrer Bitte um bessere Löhne nicht ernst genommen und sie stattdessen mit Applaus abgespeist?
Die wachsende Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit, die viele Menschen in Zeiten von Corona gespürt haben, konnte der Markt, der angeblich alles regelt, nicht erfüllen. Soviel die Leute auch eingekauft haben, um sich abzulenken, eine diffuse Angst blieb und das Gefühl von Verunsicherung ist durch den andauernden Krieg in der Ukraine und das schleppende Tempo in der Klimapolitik nicht weniger geworden. Auf politischer Ebene, soweit der Konsens, brauchen wir eine solidarische Politik, deren Motiv die Gesundheit aller Menschen ist, und nicht die Gesundheit einzelner Wirtschaftsunternehmen. Auf der privaten Ebene dagegen brauchen wir unbedingt mehr Sukha.
Es ist wie auf einer Wippe, mal sind wir oben, mal unten. Aber wir halten zusammen. Nur so macht es Sinn, nur so macht es Spaß.