Vrksasana – der Baum

Von Merle Blankenfeld und Corina Rhodovi

Der Baum ist eine klassische Asana – die Yoga-Übende in zwei Lager spaltet: Die einen genießen das leichte, fast schon erhebende Gefühl, das sie in dieser Balance-Haltung haben. Die anderen sind genervt, wenn es wackelt und der angehobene Fuß immer wieder vom Standbein abrutscht.

Vrksasana kommt aus dem Sanskrit – „vrksa” heißt (wer hätte es gedacht?) Baum, „asana” meint Übung. Denke in dieser Haltung also immer an deinen Lieblingsbaum: Seine Äste und sogar der Stamm dürfen mit dem Wind schwingen und sich der Beweglichkeit des Lebens hingeben. Wenn die Wurzeln gesund sind, schmeißt ihn so leicht nichts um!

Tatsächlich erfordern Balance-Haltungen beides: Flexibilität genauso wie Stabilität. Das richtige Maß, die perfekte Balance zwischen zu viel und zu wenig Anspannung – das ist das Rezept für einen standfesten Baum. Entscheidend beim „echten” Baum sind dabei wie gesagt die Wurzeln, denn sie erden ihn. Deine Wurzeln, die Füße, sind zwar nicht tief in die Erde eingegraben, wie stabil du deine Basis aufbaust, beeinflusst aber auch beim Yoga-Baum, wie sehr es oben wackelt.

Während wir (mal weniger, mal mehr) vor uns hin wackeln, lehrt Vrksasana uns, den Moment so anzunehmen, wie er gerade ist. Wenn du ohne Probleme so fest stehst wie eine tausendjährige Eiche – super. Wenn du heute eher ein dünnes Bambusrohr in einem Tornado bist – genauso wunderbar. Die Message des Baums: Alles darf so sein, wie es gerade ist.

Welche Wirkung hat Vrksasana, die Baumhaltung?

1. Körperliche Effekte

  • verbessert das Gleichgewichtsgefühl
  • aktiviert fast alle Muskeln des Körpers
  • stärkt die Beinmuskulatur
  • kräftigt die Muskeln in Hüfte und Füßen
  • öffnet den Herzraum
  • macht die Atmung gleichmäßiger

2. Geistige Effekte

  • wirkt erdend
  • klärt und fokussiert den Geist
  • stärkt die innere Ruhe

3. Energetische Effekte

Anleitung: Wie führe ich den Baum richtig aus?

  1. Du startest in Tadasana, der Berghaltung. Dafür stehst du in einem hüftbreiten, stabilen Stand. Die Schultern sinken entspannt nach hinten-unten, die Brust ist geöffnet. Die Core-Muskulatur ist aktiviert und das Becken dadurch leicht nach vorn gekippt, sodass kein Hohlkreuz entsteht. Die Oberschenkel sind aktiv, die Knie minimal gebeugt.
  2. Verlagere nun dein Gewicht auf das linke Bein – dieses wird dein Standbein.
  3. Nun hebst du das rechte Knie kontrolliert so weit nach oben wie es geht. Dann setzt du den Fuß mit der Sohle entweder am Oberschenkel (s. Headerbild) oder – etwas einfacher – an der Wade bzw. mit den Zehen auf dem Boden und der Ferse am Knöchel ab (Fotos der Varianten s.u.). Beim Platzieren darfst du mit den Händen nachhelfen. Je höher der Fuß ist, desto anspruchsvoller ist die Balance-Haltung.
  4. Bringe deine Hände jetzt zunächst in der Gebetshaltung Anjali Mudra vor der Brust zusammen. Wenn du dich sicher und stabil fühlst, streckst du die Arme über dem Kopf aus und bringst die Handflächen dort wieder aneinander – oder du streckst sie im V nach oben. Die Finger sind bei dieser Variante im Jnana Mudra, bei dem sich Daumen und Zeigefinger berühren. Die Schultern bleiben entspannt und weg von den Ohren. Wenn du willst, kannst du dich nun von einer Seite zur anderen wiegen, wie eine Weide im Wind. Oder du legst die rechte Hand auf deinem Knie ab und nimmst die linke zu einem halben Anjali Mudra vor dein Herzchakra. Probiere einfach aus, was sich für dich gut anfühlt!
  5. Setze dann behutsam den Fuß wieder ab und übe den Baum auf der anderen Seite.

Der Baum im Yoga, klassische Variante

Tipps für Vrksasana, den Baum

  • Wichtig: Such dir einen Drishti, also einen Fixpunkt, der sich nicht bewegt. Fokussiere deinen Blick auf diesen Punkt. So bleibst du leichter im Gleichgewicht.
  • Setze deinen Fuß auf keinen Fall auf dein Knie, sondern in jedem Fall darunter oder darüber. Dein empfindliches Kniegelenk wird es dir danken. 
  • Versuche, deine Hüfte gerade zu halten, während du das Knie möglichst direkt zur Seite ausrichtest.
  • Halte während der gesamten Übung eine Grundspannung in deinem ganzen Körper. Das macht es leichter, wie ein starker Baum allem zu trotzen, das dich umwerfen will.
  • Deine Stabilität erhöht sich zudem deutlich, wenn du deinen Fuß aktiv und bewusst in dein Bein presst (lies dazu auch die Hinweise zur Anatomie!).
  • Tipp: Entspanne in der Asana deine Gesichtsmuskulatur und schenk dir ein kleines Lächeln – die Haltung wird dir viel leichter fallen, wenn du sie entspannt und spielerisch angehst!
  • Achtung: Wenn du unter Bluthochdruck leidest, solltest du die Arme nicht heben.

In diesem Video erklärt dir Petros Haffenrichter, wie du den Baum richtig ausführst:


Weitere Hinweise für den Baum von Anatomie-Expertin Leslie Kaminoff

  • Die Abduktoren des Standbeins arbeiten exzentrisch. Sind sie zu schwach oder zu fest, hebt sich die Hüfte auf der Seite des Spielbeins oder die Rotatoren (M. glutaeus maximus, M. piriformis, Mm. obturator internus und externus) versuchen, das Becken zu stabilisieren, sodass es nach außen rotiert, anstatt waagerecht und nach vorn ausgerichtet zu bleiben.
  • Je mehr Kraft und Anpassungsfähigkeit in den Füßen und Fußgelenken vorhanden sind, desto mehr Möglichkeiten gibt es, im einbeinigen Stand das Gleichgewicht zu finden.

Baum Yoga Anatomie

 

  • Das Anheben des Beins mit nach außen rotiertem Knie ist eine sehr komplexe muskuläre Bewegung: Die Hüftbeuger heben das Knie, aber aufgrund der Auswärtsrotation und der Abduktion ist auch eine Extension der Hüfte involviert. Um dann noch den Fuß gegen das Standbein zu pressen und das Knie weit zur Seite zu halten (ohne das Becken nach vorn zu kippen), muss im Hüftgelenk ohne Flexion adduziert werden. Je höher der Fuß auf dem Standbein platziert wird, desto weniger muss er dagegengedrückt werden, da das Gewicht des Beins den Fuß an seinem Platz hält. Sollte es jedoch nötig sein, den Fuß mittels der Adduktoren gegen das Standbein zu drücken, ist es wichtig, eher die hinteren Adduktoren einzusetzen, etwa den großen Adduktor (M. adductor magnus). Vorderseitige Adduktoren wie der M. pectineus (der bei vielen von uns wegen des vielen Sitzens verkürzt und angespannt ist) kippen die Hüfte nach vorn und rotieren gleichzeitig das angehobene Bein beim Adduzieren zusätzlich einwärts.
  • Verglichen mit der Vrksasana-Variante mit erhobenen Armen hat der Oberkörper bei der Gebetshaltung mehr Freiraum, um sich an Atembewegungen zu beteiligen. 

Baum-Varianten für Beginner

a) Fuß am Boden, Ferse berührt das Standbein am Knöchel. 

Dies ist die stabilste und sicherste Variante des Baums. Dabei stehst du mit beiden Füßen am Boden und hebst nur eine Ferse an und stützt diese am Knöchel des anderen Beins ab. 

Vriksasana Baum-Variante für Anfänger:innen

b) Fuß an der Wade

Etwas wackeliger, aber lange nicht so wackelig wie die vollständige Asana, ist diese Variante. Dabei stellst du den Fuß auf der Wade des Standbeins ab. 

Baum-Variante für Beginner: Fuß an der Wade

Baum-Varianten für Fortgeschrittene

a) Baum mit ausgestrecktem Bein

Hierfür streckst du das Bein aus, anstatt es am gegenüberliegenden Oberschenkel abzusetzen. Greife dafür den Zeh mit Daumen und Zeigefinger. Bitte übe diese Variation nur, wenn du dabei den Oberkörper aufrecht halten kannst.

Baum-Variante mit ausgestrecktem Bein 

b) Baum mit Bein im halben Lotus

Für diese fortgeschrittene Baum-Variante setzt du deinen Fuß nicht am Oberschenkel ab, sondern legst die Fußaußenkante in der Leiste des Standbeins ab. So verstärkst du die Dehnung der Hüfte.

Wenn du willst, kannst du in dieser Variante auch die Knie beugen und so weit nach vorne-unten gehen, wie du deinen Rücken lang und deine Brust offen halten kannst. Vielleicht „sitzt” du am Ende mit einem rechten Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel und deine Unterarme liegen auf deinem horizontal positionierten Oberschenkel auf. Dann kommst du in den Genuss einer ungemein angenehmen Dehnung an der Po-Außenseite...

Baum-Variante Halber Lotus

c) Baum mit geschlossenen Augen

Wenn dir bisher alle Varianten zu langweilig waren, dann versuche doch mal, sie mit geschlossenen Augen zu üben. Der visuelle Input ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Gleichgewichtssinns, da er uns hilft, unsere Position im Verhältnis zur Umgebung zu bestimmen. Mit geschlossenen Augen muss sich der Körper stärker auf die Informationen aus dem Innenohr und den kinästhetischen Sinn (die Wahrnehmung der Position und Bewegung des Körpers) verlassen. Mit geschlossenen Augen das Gleichgewicht auf einem Bein zu halten ist also eine ziemliche Herausforderung. Probier es gleich mal aus!

Baum-Variante mit geschlossenen Augen

Wie auch immer du den Baum übst: Wir wünschen dir gute Erdung, stabilen Stand und entspannte Flexibilität!


Bildquellen: 

  • iStock.com/Prostock-Studio
  • Simone Leuschner: Yoga Anatomie, riva Verlag
Merle Blankenfeld
Merle Blankenfeld

Merle verbindet bei ihre Leidenschaft für Yoga mit einem Faible für alles Digitale. Deshalb schreibt sie über die Themen, die ihr am Herzen liegen: Yoga, Spiritualität und Gesundheit. Wenn sie nicht gerade vor einem Bildschirm sitzt, steht sie entweder auf der Yogamatte oder vergräbt ihr Gesicht in einem Buch (okay, manchmal ist es auch ein E-Reader...).

Corina Rhodovi
Corina Rhodovi

Corina ist seit 2021 Content Managerin bei YogaEasy. Gemeinsam mit ihrem Team sorgt sie dafür, dass du im Yoga-Magazin, im Newsletter und auf unseren Social-Media-Kanälen regelmäßig inspirierende, fundierte und unterhaltsame Inhalte findest – allesamt dafür gedacht, dich noch tiefer mit deiner Yoga-Praxis zu verbinden. Als zertifizierte Yogalehrerin in Vinyasa Yoga, Tantra Yoga und Yin Yoga bringt Corina nicht nur fachliches Know-how, sondern auch Herz und Hingabe in ihre Arbeit ein. Ihre Wurzeln in der Sportwissenschaft – sie hat an der Deutschen Sporthochschule Köln studiert – spiegeln sich in einem tiefen Verständnis für anatomisch gesunde Ausrichtung und die physiologischen Wirkungen der Asanas wider. Ihre besondere Leidenschaft gilt dem Sound Healing mit Klangschalen und Gongs – ein Bereich, in dem sie ihre spirituelle Heimat gefunden hat. Verbinde dich mit Corina auf www.frequency-yoga.de und über Instagram unter @corina_frequency_yoga.