Sandra von Zabiensky: Die zehn Weisheitsgöttinnen des Tantra
Fotos: © Josephine Walker Photography

Shakti pur: Die zehn Weisheitsgöttinnen des Tantra

Von Sandra von Zabiensky

Wenn heutzutage vom Tantra die Rede ist, kommen meist zwei Bilder bei Menschen hoch. Entweder in Saris gehüllte Menschen, die sich verzückt ineinanderstecken. Das ist Neo-Tantra, eine durchaus schöne Praxis, die aber sehr modern ist und erst Anfang des 20. Jahrhunderts in der Form in den USA erfunden wurde. Die zweite Assoziation sind die tantrischen Schriften und wissenschaftlichen Begriffe wie „kaschmirischer Shivaismus”. 


Tantra-Yoga Shakti Awakening mit Sandra von Zabiensky


Die Mahavidyas: Das große Wissen

Nur die wenigsten denken bei Tantra aber an die tantrischen Weisheitsgöttinnen, die zehn Mahavidyas. Diese Gruppe von Göttinnen kann auf den ersten Blick auch erst einmal Angst machen: Allesamt sind sie unabhängige Kick-Ass Göttinnen, die keinen Gott an ihrer Seite brauchen wie etwa die klassischen Konsortinnen-Göttinnen Parvati und Sita

Dabei stehen die Göttinnen für die verschiedensten Aspekte der Welt und des Lebens: Wir haben zum Beispiel Dhumavati, die Göttin der Leere und Enttäuschung, Lalita Tripura Sundari, die Göttin des spirituellen und erotischen Verlangens, oder Matangi, die Göttin der Ausgestoßenen, des Übriggebliebenen und des tiefen, inneren Wissens. 


„Der geschmeidige, nackte, reich geschmückte Frauenkörper zog mich gleichzeitig in den Bann und schreckte mich ab. Da wo ein Kopf sitzen sollte, schoss eine dreiteilige Blutfontäne heraus. Das Blut floss in die Münder zweier weiterer Frauen und in den abgetrennten Kopf des Frauenkörpers. Ich wusste schon: Tantra ist radikal, anders, grenzüberschreitend. Hier blickte ich gerade auf die tantrische Göttin Chinnamasta, eine der zehn Weisheitsgöttinnen des Tantra. Das „Divine Feminine” kommt bei den Weisheitsgöttinnen nicht nur in der lieblichen, anmutigen Form vor. Sondern auch radikal, konfrontierend und eben auch erleuchtend. Wie das Leben selbst es sein kann.”


Der Ursprung der tantrischen Göttinnen

Tantra – Sandra von Zabiensky – Murti

Zur Entstehung der Mahavidyas gibt es die unterschiedlichsten Geschichten. Eine Variante ist die: Sita, verheiratet mit Shiva, wurde von ihrem Vater nicht zu einem großen Ritual eingeladen, genauso wie ihr Mann Shiva. Sie beschloss dennoch hinzugehen, was Shiva gar nicht gefiel – er verbot es ihr. Daraufhin wurde Sita so wütend, dass sie sich verwandelte und aus ihr zehn Göttinnen entsprangen, die Shiva einkesselten, einschüchterten und ihn dazu bewogen, sie doch ziehen zu lassen. In einer anderen Entstehungsgeschichte ist es Shiva leid, mit Kali zusammenzuwohnen und geht. Sie erscheint ihm auf seinem Weg in zehn Formen und er erlangt durch die Konfrontation mit ihnen Weisheit. Demütig kehrt er zurück, um weiterhin mit Kali zusammenzuleben.

Die Macht der Mahavidyas

Was bei diesen Erzählungen auffällt: Die darin auftretenden Göttinnen sind weitaus machtvoller als Shiva und beherrschen ihn. Allerdings dürfen wir uns im Tantra Shiva und Shakti nicht wortwörtlich als Geschlechter vorstellen, sondern eher als Prinzipien. Im Tantra ist alles Shiva und Shakti, das ganze Universum. Stark heruntergebrochen könnten wir das Shiva-Shakti-Prinzip als „Energie im Raum” umschreiben. Shiva ist der Raum und Shakti die Energie, die alles ins Leben, in die Erscheinung und Manifestation bringt.

Es geht im Tantra weniger oder nicht nur darum, die vollkommene Stille in der Abgeschiedenheit der Meditation zu erlangen, sondern alles in die Praxis zu inkludieren: Die Sinnlichkeit, die Lebendigkeit, die Gedanken und Emotionen, das tägliche Leben. Es fordert dich auf, nichts festzuhalten – aber gleichzeitig auch nichts aufzugeben und dabei Freude am Sein zu haben. Deshalb bietet es einen so wunderbaren Ansatz für uns moderne Menschen, die zwischen Kindergarten, Job, Einkaufen und dem täglichen Alltagskram jonglieren. In der Schönheit und Schrecklichkeit des Lebens geht es im Tantra immer wieder darum, die Freiheit und die Basis in sich zu finden. Shakti verkörpert all das.

The Gang: Die Mahavidyas als Gruppe

Die Mahavidyas vereinen als Gruppe alle Aspekte des Lebens und des Universums. Sie sind ganz klar miteinander verbunden, auch wenn manche Göttinnen auch einzeln verehrt werden wie etwa Kali, Lalita Tripura Sundari oder Kamala, die die tantrische Form von Lakshmi ist. Die Mahavidyas können für sehr weltliche Belange angerufen werden, aber auch für spirituelle Erleuchtung, tiefe Meditation und yogische Superpower. Alle haben magische Kräfte und sind unabhängig. 

Die Reihenfolge der Mahavidyas kann stark variieren, wir finden aber in allen Aufzählungen Kali am Anfang.

1. Kali – der Anfang 

Kali wird im Tantra anders wahrgenommen als im klassischen Hinduismus und hat hier auch eine andere Entstehungsgeschichte. So gibt es Texte, die Kali als Anfang des Universums und als Erschafferin von Shiva beschreiben, wie etwa im Shakti Sangama Tantra. Sie ist die Kraft der Eruption und der Katalysator für Veränderungen. In meinem Buch „Tantra – der Weg des mutigen Herzens” schreibe ich zu Kali: „Kali steht für radikale Veränderung, die Konfrontation mit den tiefsten Ängsten, Transformation, Umbrüche und Tod. Kali zeigt dir, was unzerstörbar in deinem Leben ist, indem sie alles andere auflöst. Kali vernichtet und zersprengt mit einer Gewaltigkeit alte Ketten und Strukturen. Sie zwingt dich hinzuschauen, brennt alles nieder, was unser eigentliches Sein blockiert und schafft so den Raum für eine Auferstehung.”

2. Tara – das flammende Herz

Tara sieht (wie Kali) in der Darstellung erst einmal schreckenerregend aus: Wilde Haare, barbusig, blutige Schwerter in der Hand, Flammen im Hintergrund. So furchterregend sie auch sein mag, ist sie dennoch gleichzeitig mütterlich, leitend und begleitend auf dem Weg in die spirituelle Erleuchtung. Tara wird mit Wissen, Klang und Sprache assoziiert und ist eine sehr kraftvolle Göttin. Wenn Kali den Prozess der Transformation anstößt, so ist Tara diejenige, die in dem Chaos, das danach folgt, wie ein Nordstern unseren Pfad erleuchtet. 

3. Chinnamasta – radikale Transformation

Tantra – Chinnamasta – Sandra von Zabiensky

Wenn wir Chinnamasta (s. Zitat oben) kanalisieren, willigen wir ein, unser altes Selbst mit Mut und Fürsorge zu köpfen, so dass es uns in neuer Form nähren kann. Dazu musst du wissen, dass Chinammasta nur deshalb ihren Kopf abgetrennt hat, um mit ihrem Blut ihre Töchter zu nähren, die sehr hungrig waren. Auf dem spirituellen Weg geht es unter anderem darum sich vollständig seiner selbst bewusst zu werden – hier hilft die Kraft von Chinnamasta.

4. Bhairavi – die göttliche Wut

Bhairavi ist eine Feuergöttin und sie steht für sehr viele Aspekte, am bekanntesten ist sie für die Zerstörung. Ja, ich weiß. Hört sich erst einmal furchtbar an, aber lass uns dahinter schauen: Zerstörung ist immer notwendig, damit etwas Neues entstehen kann. Auch in unserer eigenen Entwicklung: Wir müssen durch das reinigende Feuer der Transformation, um zur Süße, zur Freiheit, zu gelangen.

5. Baghalamukhi – die Kraft des Schweigens und Sprechens

Baghlamukhi ist die Göttin, die am stärksten mit Magie in Verbindung gebracht wird. Sie herrscht über die Sprache und paralysiert Feinde. Baghalamuki konfrontiert dich mit der Kraft des gesprochenes Wortes und des Schweigens.

6. Matangi – die Ausgestoßene

Matangi ist die tantrische Saraswati. Matangi ist allerdings eher auf das innere Wissen ausgerichtet und sie ist dunkler und sehr viel mystischer als Saraswati. Als Outkast und Künstlerin verlässt sie den Bereich des Bekannten, lebt zurückgezogen im Wald und hat magische Kräfte. Auch sie wird mit dem gesprochenen Wort in Verbindung gebracht und sie ist wild und ekstatisch im Ausdruck. Stell dir einen fruchtbaren Dschungel vor – das ist die Energie von Matangi. 

7. Bhuvaneshvari – die Weltenmutter

Tantra Göttinen

Mehr als alle anderen Göttinnen ist Bhuvaneshvari mit der physischen Welt assoziiert. Sie ist die „Weltenmutter” und ich liebe ihr Bhavana, ihre Energie: Sie ist mütterlich, warm, für alles Raum haltend. Ein Bild, was wir häufig finden, beschreibt sie so: Bhuvaneshvari ist wie die Spinne im Netz, aus ihr entsteht das Netz und gleichzeitig ist sie in diesem. Bhuvaneshvari steht für Embodiment in der realen, physischen Welt und gleichzeitig für den Raum, den diese umgibt.

8. Dhumavati – die Göttin der Enttäuschung

Dhumavati habe ich am Anfang meiner Reise mit den Mahavidyas immer vermieden, weil sie mit dem, wofür sie steht, nun ja, weniger anziehend ist. Mittlerweile schlägt mein Herz auch für sie. Dhumavati, und das ist sehr ungewöhnlich, ist die Göttin der Enttäuschung, Frustration, Auflösung, ja, sogar der Depression. Sie wird als alt, hässlich und als Witwe beschrieben, alles Kategorien, die im damaligen Indien als höchst abschreckend galten. Dhumavati steht für unangenehme Gefühle, für Frustration: Wir versuchen zu entkommen, sind aber völlig festgefahren. Wir sind enttäuscht, nichts bewegt sich mehr. In all dem liegt aber auch wieder eine Chance: Die Chance der Akzeptanz. In der tiefen, stillen Akzeptanz liegt eine tiefergehende Lektion. Dhumavati lehrt uns die Bescheidenheit des Scheiterns sowie Mitgefühl und Empathie mit denen, die gerade kraftlos und machtlos sind. Nicht zuletzt ent-täuscht Dhumavati: Sie deckt die Täuschungen auf, die wir uns selbst bauen.

9. Lalita Tripura Sundari – die Göttin der Erotik, Spiritualität und des Verlanges

Zu Lalita habe ich eine ganz besondere Beziehung. Sie war diejenige, die mich tief in die tantrische Praxis zog und mit deren Hilfe ich mich komplett wandelte. In meinem Buch „Tantra – der Weg des mutigen Herzens“ schreibe ich zum Anfang der Reise mit Lalita „Ich sage es ganz offen: Ich hatte Angst vor Lalita Tripura Sundari. Die tantrische Göttin des Shri Vidya, eine der neun Hauptlinien des klassischen Tantra, hat es aber auch in sich. Es heißt, sie sei älter als die männlichen Hindugötter Brahma, Vishnu und Rudra. Sie ist die ursprünglichste Kraft des Verlangens, die Kraft, die Atome zusammenhält, die Königin des Universums. Dabei ist sie keineswegs furchterregend wie etwa die Göttinnen Chinnamasta oder Kali, sondern verführerisch schön. In ihrer absoluten Autorität ist sie dennoch durch und durch feminin und verneint nicht die Partnerschaft mit dem männlichen Prinzip. Ihre erotische Ausstrahlung lässt sämtliche männliche Götter angesichts ihrer Schönheit niederknien. Sie ist das spirituelle, erotische und weltliche Verlangen und diejenige, die dich in die radikale Freiheit führt, damit du selbst wie eine Königin durch dein Leben schreitest.“ Wow, oder?!
Lalita kann Angst machen, denn sie konfrontiert dich mit den Fragen: Erlaubst du dir, schön, machtvoll, erotisch, sinnlich und regierend zu sein? Erlaubst du dir deine Verlangen zu sehen, zu tranformieren und zu erfüllen? Ich kann dir sagen, dass die Jahre meiner Lalita-Praxis mein Leben geändert haben. Ich komme von einer Historie aus Zwangsneurosen und -handlungen, Ängsten, niedrigem Selbstwert, Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und noch viel mehr. Heute führe ich ein so freies, erfülltes Leben, wie ich es früher niemals für möglich gehalten hätte. Deshalb bin ich so leidenschaftlich mit dem Tantra, den Göttinnen und Lalita im Besonderen: Ich weiß aus eigener Erfahrung, sie sind lebensverändernd.

10. Kamala – die Süße des Lebens

Tantra – Lakshmi – Sandra von Zabiensky

Kamala ist die tantrische Lakshmi und wird üblicherweise zuletzt aufgezählt. Sie ist die purifizierte Süße des Lebens, all das, was unser Leben lebenswert macht. Außerdem steht sie für Reichtum, Fruchtbarkeit, Liebe, Schönheit und Hingabe – eben das Aufblühen am Ende unserer Reise. Kamala unterstützt uns beim Erfüllen unserer tiefsten Wünsche. Sie steht für den materiellien und spirituellen Reichtum, der sich im Tantra übrigens absolut nicht ausschließt. 


Das Beste vom Yoga für dich nach Hause – 7 Tage gratis


Die Reise mit den Mahavidyas

Was bedeuten nun die Mahavidyas für dich und deine Yogareise? Für mich sind die Mahavidyas Bewusstseinszustände, Lebensabschnitte und auch eine transformative Reise. Jede einzelne, egal ob du sie als Archetyp, Energie oder tatsächliche Göttin siehst, hat ihre Weisheit und Dinge, die sie dich lehren kann. 
Selbst in der Asana-Praxis: Falls du unterrichtest, widme doch einmal eine Stunde Bhagalamukhi und spreche nur das Nötigste. In deiner eigenen Praxis übe mit der Energie von Bhuvaneshvari und stell dir vor, du bist im Raum gehalten. Führe Asanas mit der Freude am Regieren aus wie Lalita Tripura Sundari. 
Für die innerliche Praxis findest du in meinem Buch „Tantra – der Weg des mutigen Herzens. Die sinnlich-transformierende Praxis für eine neue Weiblichkeit“ meine ganz persönliche Reise mit fünf Göttinnen und viele praktische Anleitungen. Ich nehme dich mit in meine Entwicklung und teile mit dir viele originale oder tantrisch inspirierte und eigens entwickelte Meditationen, Visualisierungen, Reflexionen und Übungen. 

Let Shakti rule!

Ob mit allen Mahavidyas oder einzelnen von ihnen und in welcher Form auch immer: Die Praxis mit den tantrischen Weisheitsgöttinnen kann dich in eine in dir verwurzelte Freiheit und tiefe Zufriedenheit führen und deine Praxis um viele neue Sichtweisen erweitern. Let Shakti rule. 


Tantra – Der Weg des mutigen Herzens

 

 

 

Lese-Tipp: Sandra von Zabiensky „Tantra – Der Weg des mutigen Herzens”, erschienen bei Irisiana. 

 

 

 

 


Fotos: ©️ Josephine Walker Photography 

Sandra von Zabiensky
Sandra von Zabiensky

Sandra von Zabiensky ist Yogini, Autorin, Lululemon-Ambassador und Unternehmerin. Sie glaubt daran, dass Yoga uns transformiert, denn das hat sie selbst erlebt. Sandras wichtigste Ziele: anderen dabei zu helfen, dass Glück, die Freude und das große Potenzial in sich wieder zu entdecken. In ihren Anusara®-Elements-Klassen teilt sie ehrlich ihre Erfahrungen und legt den Fokus auf die lebensnah angewandte tantrische Philosophie sowie das freudige Praktizieren auf Basis der universellen Ausrichtungsprinzipien.