Das Spiel der Gegensätze: Yin Yoga verstehen und spüren

Von Tanja Seehofer

Wenn wir im Yin Yoga in die Stille eintauchen, spüren wir die Verbindung aus Atem, Körper, Energie und Emotion. Diese Erfahrung wurzelt in der jahrtausendealten chinesischen Lehre von Yin und Yang. Sie beschreibt den Menschen als Teil des Universums, eingebettet in den Fluss der Lebensenergie Chi. Diese Energie fließt durch Energiebahnen, die sogenannten Meridiane, die jeweils bestimmten Organen und Elementen zugeordnet sind. Ein Zusammenspiel, das Yin Yoga im Körper erfahrbar macht – und uns ermöglicht, einen tieferen Zugang zu uns selbst zu finden.

Yin & Yang in Bewegung 

In vielen Mythen dieser Welt beginnt die Schöpfung mit einem Chaos, das alles in sich vereint. Die chinesische Philosophie erklärt den Ursprung allen Lebens so: Das Chaos stellt eine vollkommene Ganzheit dar. Erst durch den Akt der Schöpfung zerbrach diese Einheit und die Polarität entstand. Das Leichte stieg auf und bildete den Himmel (Yang), das Schwere sank herab und bildete die Erde (Yin).

Wenn wir auf die Welt kommen, werden wir deshalb im „Ungleichgewicht“ zwischen Yin und Yang geboren – und das hält uns in Bewegung. Denn weil wir die Trennung der Polarität in uns fühlen, sind wir ständig auf der Suche nach dem Ganzen, nach dem Sinn des Lebens. Und können in dieser Suche entdecken, wer wir sind und was unsere Lebensaufgabe ist.

Das bekannte Yin-Yang-Symbol zeigt, dass die Gegensätze einander bedingen. Licht existiert nicht ohne Schatten, Aktivität nicht ohne Ruhe, Tag nicht ohne Nacht. Die weiße Seite spiegelt die Yang-Aspekte der Energie wider. Sie steht für den Teil, der deutlicher und leichter zu erkennen ist. Die schwarze Seite repräsentiert die Yin-Aspekte und steht für die Elemente, die tiefer verborgen und schwieriger zu erkennen sind. Die geschwungene Linie innerhalb des Kreises steht für das ewige Ineinanderfließen beider Energien. Alle Zustände der Existenz sind vergängliche Manifestationen von Yin und Yang.

Auch in unserem Körper finden sich diese Gegensätze wieder: Yin wird im menschlichen Körper der unteren Hälfte zugeordnet, da diese der Erde näher ist. Yang wird dem Oberkörper zugeordnet, der dem Himmel näher ist. Die Vorderseite des Körpers ist sensibel und weich – und wird daher als Yin bezeichnet. Die Körperrückseite ist robust und hart – und entspricht daher dem Yang. 

Wenn Yin und Yang im Gleichgewicht sind, entsteht Harmonie. Wird das Zusammenspiel gestört, gerät der Energiefluss ins Stocken – und wir fühlen uns aus der Balance.

Chi – die Lebenskraft, die alles durchdringt

Chi ist die Lebenskraft und wird in der chinesischen Lehre als dynamischer Fluss betrachtet, der alle Körperfunktionen reguliert, alles durchdringt und bewegt. Es ist das Prana der Inder und das Lung der Tibeter. Ohne Chi wäre kein Leben möglich. Im chinesischen Verständnis wird alles im Universum durch Chi gebildet und definiert, ob Berge, Pflanzen oder menschliche Gefühle.

Chi ist der Pulsschlag des Kosmos selbst. Es fließt ununterbrochen und verbindet Körper, Geist und Seele. Wenn diese Energie frei zirkuliert, fühlen wir uns wach, lebendig und kraftvoll. Wenn sie stagniert, entstehen Müdigkeit, Spannungen oder innere Unruhe.
Stress, Ärger, Zorn oder unterdrückte Gefühle können den Energiefluss blockieren.

Besonders häufig zeigt sich das als sogenannte Leber-Chi-Stagnation. Das Leber-Chi ist der Verteiler unseres Blutes. Blut ist der Freund von Chi. Beide können zusammen besser arbeiten. Sind z. B. Gelenke blockiert, kann das Chi nicht richtig fließen. Yin Yoga wirkt dieser Stagnation auf sanfte Weise entgegen.


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Die fünf Elemente – der Zyklus des Lebens

Die Fünf-Elemente-Lehre – auch „Fünf Wandlungsphasen“ genannt – beschreibt, wie sich die Natur in einem ständigen Kreislauf wandelt. Alles Leben bewegt sich innerhalb der fünf Qualitäten Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Jedes Element steht für ein bestimmtes Organsystem und eine emotionale Qualität im Körper. Harmonie entsteht, wenn alle Elemente im Fluss sind.

Die Elemente stehen in lebendiger Beziehung zueinander und nähren sich gegenseitig – so wie Mutter und Kind:

  • Wasser ernährt die Pflanzen und erzeugt Holz.
  • Holz kann entzünden und erzeugt Feuer.
  • Feuer bringt Asche mit sich und Asche ernährt die Erde.
  • Erde enthält Erze, somit stärkt sie das Element Metall.
  • Metall kann flüssig werden und reichert Wasser an.

Organe & ihre energetischen Paare

In der chinesischen Lehre werden Organe als Funktionskreise verstanden – als energetische Prinzipien, die gemeinsam wirken. Jedes Yin-Organ hat ein dazugehöriges Yang-Organ: Sie ergänzen sich und gleichen sich aus.

  • Die Yin-Organe (Speicherorgane) sind: Leber, Herz, Milz, Lunge und Niere.
  • Die Yang-Organe (Hohlorgane) sind: Gallenblase, Dünndarm, Magen, Dickdarm und Blase.

Yin-Organe speichern, wandeln und regulieren – sie sind auf Fülle angewiesen. Yang-Organe transformieren, transportieren und scheiden aus – sie sind aktiv, wollen leer sein. Man könnte sagen: Yin- und Yang-Organe sind wie Milch und Sahne – verschieden und doch aus derselben Quelle. Ihre Zusammenarbeit sorgt dafür, dass Chi im Körper gleichmäßig fließt, Emotionen ausbalanciert sind und sich der Mensch im Gleichgewicht befindet.

Das chinesische Organsystem unterscheidet sich vom westlichen Verständnis von Medizin. Der chinesische Name für ein Organ dient eher als symbolische Referenz für eine bestimmte Funktionsgruppe und beschreibt nicht die physischen Strukturen innerhalb des Organismus.

Bildlich können wir uns die Organe als „12 Hausbewohner“ vorstellen und so ihre Qualitäten und Aufgaben veranschaulichen:

  1. Leber: Vision und Kreativität
  2. Gallenblase: Entscheidung und Durchsetzungskraft
  3. Herz: Liebe und Bewusstsein
  4. Dünndarm: Unterscheiden und Einteilen
  5. Perdikard (Herzbeutel) – der Perikard ist im westlichen Sinne kein Organ, sondern eine Hülle aus Bindegewebe, der das Herz umgibt: Lebensfreude und Intimität
  6. Dreifacher Erwärmer – auch beim Dreifacherwärmer handelt es sich nicht um ein Organ, sondern einen „Meridian” (s.u.) vom Ringfinger bis zum äußeren Ende der Augenbraue, der für die Wärmeregulierung im Körper zuständig ist: Ausgleich und Wärme
  7. Milz: Geborgenheit und Mitgefühl
  8. Magen: Stabilität und Fürsorge
  9. Lunge: Freiraum und Klarheit
  10. Dickdarm: Abschiednehmen und Loslassen
  11. Niere: Ruhe und innere Kraft
  12. Blase: Anpassungsfähigkeit und Entspannung

Meridiane – das energetische Netzwerk

Meridiane sind feinstoffliche Energiebahnen, durch die Chi zirkuliert (entsprechend den Nadis der indischen Tradition). Das Meridiansystem ist ein unsichtbares, flächendeckendes Netzwerk, das alle Substanzen und Organe in unserem Körper verbindet. Die Versorgung und Stärke des Meridiansystems ist ausschlaggebend für die harmonische Balance in allen Bereichen von Körper, Geist und Seele.

In der chinesischen Lehre unterscheidet man zwölf Hauptmeridiane – jeweils spiegelbildlich auf beiden Körperseiten – und zwei Sondermeridiane, das Lenker- und Konzeptionsgefäß. Diese verlaufen mittig durch den Oberkörper und sind gemeinsam dafür zuständig, das Yin und das Yang im gesamten Körper zu kontrollieren. Einige betrachten diese Sondermeridiane als das chinesische Äquivalent zum Konzept von „Sushumna Nadi”, des zentralen Kanals aus dem Sanskrit. 

Auf jedem Meridian liegen diverse Akupunkturpunkte. Das Chi durchläuft diese Meridiane innerhalb von 24 Stunden – ein stetiger Energiezyklus, der als „Organuhr” bekannt ist. Ist der Energiefluss in einem Meridian gestört, wirkt sich das auf das zugehörige Organsystem aus – körperlich, emotional oder mental.

Yin Yoga – der sanfte Weg nach innen

Yin Yoga basiert auf diesen uralten Prinzipien. Die Yin-Positionen sprechen verschiedene Meridiane im Körper an, indem sie sie dehnen oder Druck auf sie ausüben (etwa durch Kontakt des Körpers mit dem Boden). Durch das lange Verweilen in den Asanas – Yin-Haltungen werden grundsätzlich drei bis fünf Minuten gehalten – werden zudem Faszien, Organe und tiefere Körperschichten erreicht. Vor allem der Unterkörper – Hüften, Beine, Becken – steht im Mittelpunkt, da hier viele Yin-Meridiane verlaufen. Jedes Meridianpaar steht mit einer Emotion in Verbindung – und wirkt somit auch auf unsere Sinne und Empfindungen.

Yin Yoga kann helfen, das Gleichgewicht aus Aktivität (Yang) und Regeneration (Yin) wiederherzustellen und so den Energiefluss im Körper zu harmonisieren. Es ist die Einladung, still zu werden, zu lauschen und die feinen Bewegungen der Energie zu spüren. Es führt uns zurück in die eigene Mitte – dorthin, wo Körper, Atem und Bewusstsein eins werden.

Yin-Yogaübungen für die 5 Elemente

Im Folgenden zeige ich dir beispielhaft jeweils eine Yin-Haltung zu jedem Element. Es handelt sich also nicht um eine Yogasequenz. Wenn du aber ein Ungleichgewicht in einem Element hast, kann das Halten der entsprechenden Übung (3 bis 5 Minuten) beruhigend und ausgleichend wirken. 

Yin-Übung für das Element Holz (Leber- und Gallenblasenmeridian): Liegender Schmetterling

liegender Schmetterling Yin Yoga Übung Tanja Seehofer

Element: Holz
Meridiane: Leber und Gallenblase
Emotion: Zorn, Ärger – schädigt die Leber

Ausführung: Du beginnst in der Rückenlage, die Füße sind hüftbreit am Boden aufgestellt. Lasse nun die Knie nach außen zur Seite sinken und bringe die Fußsohlen aneinander. Breite deine Arme entspannt in Schulterhöhe zur Seite am Boden aus, oder lege die Hände auf deinen Bauch.

Ausgleichshaltung: Haltung des Apana-Windes, Apanasana

Yin-Übung für das Element Feuer (Herz- und Dünndarmmeridian): Schmelzendes Herz

Tanja Seehofer Yin Yoga Herzöffner

Element: Feuer
Meridiane: Herz und Dünndarm
Emotion: unechte Freude, Depression – belastet das Herz

Ausführung: Beginne im Vierfüßlerstand. Deine Hüften befinden sich oberhalb deiner Knie. Wandere jetzt mit beiden Händen nach vorn. Während Brustkorb und Schultern nach unten sinken, lässt du dein Herz in Richtung Boden schmelzen. Deine Stirn kannst du bequem auf der Matte ablegen.

Ausgleichshaltung: Haltung des Kindes, Balasana

Yin-Übung für das Element Erde (Milz- und Magenmeridian): Drachenhaltung

Tanja Seehofer Drache Yin Yoga

Element: Erde
Meridiane: Milz und Magen
Emotion: Sorgen, Grübeln – schwächt die Milz

Ausführung: Starte im Vierfüßlerstand und platziere deinen rechten Fuß zwischen deinen Händen. Du kannst deine rechte Schulter auf deinem rechten Knie ruhen lassen. Lass die Hüfte nun nach vorn und unten sinken. Der linke Unterschenkel liegt auf dem Boden auf, dein Fuß ist abgelegt. Dein Kopf kann entspannt nach vorn sinken. Nach etwa 3 Minuten gehe in Balasana und wechsle dann die Seite.

Ausgleichshaltung: Haltung des Kindes, Balasana

Yin-Übung für das Element Metall (Lungen- und Dickdarmmeridian): Liegende Adlerarme 

Tanja Seehofer Yin Yoga liegende Adlerarme

Element: Metall
Meridiane: Lunge und Dickdarm
Emotion: Trauer – geht auf die Lunge

Ausführung: Du beginnst in der Bauchlage. Hebe deinen Kopf und den Oberkörper leicht hoch und strecke die Arme in Schulterhöhe seitlich nach rechts und links aus. Bringe den rechten, gestreckten Arm nach links und kreuze den linken über den rechten, sodass die Oberarme übereinander liegen. Beuge die Ellenbogen und versuche die Handflächen aneinanderzulegen. Alternativ kannst du auch die Daumen verhaken. Nach etwa 3 Minuten komme in die Bauchlage zum Nachspüren und wechsle dann die Seite.

Ausgleichshaltung: Haltung des Kindes, Balasana.

Yin-Übung für das Element Wasser (Nieren- und Blasenmeridian): Sphinx

Tanja Seehofer Sphinx Yin Yoga

Element: Wasser
Meridiane: Nieren und Blase 
Emotion: Angst, Furcht – belastet die Niere

Ausführung: Komme in die Bauchlage und lege deine Arme so ab, dass die Schultern über den Ellbogen liegen. Deine Beine sind ausgestreckt, die Unterarme liegen fest am Boden. Richte den Oberkörper so auf, dass du in eine Rückbeuge kommst. Bei Rückenproblemen bringe die Ellbogen etwas weiter vor und zur Seite.

Ausgleichshaltung: Haltung des Kindes, Balasana

Tanja Seehofer
Tanja Seehofer

Tanja Seehofer ist seit über 15 Jahren Expertin für somatisches Yin Yoga sowie Yoga-Nidra-Lehrerin, ausgebildete Coachin und Entspannungstherapeutin mit Fokus Stressmanagement, Achtsamkeit und Humanenergetik. Sie unterrichtet Yogaklassen, Retreats und Workshops und bietet sehr erfolgreich Aus- und Weiterbildungen (u.a. ihre eigene Yin-Yoga-Ausbildung) im In- und Ausland an und hat mehrere Yogabücher geschrieben. Mehr über Tanja erfährst du auf tanjaseehofer.de.