
Sthira und Sukha – Wechselspiel der Polaritäten
Unser Leben besteht aus Gegensätzen: hell und dunkel, leicht und schwer, freudig und traurig, Yin und Yang. Gefühlt befinden wir uns immer auf einer Seite und rollen – wenn wir versuchen, das Ungleichgewicht auszugleichen – wie eine Murmel auf einer Wippe ins andere Extrem. Die Waage zwischen diesen Polen zu halten ist ganz schön schwer.
Das wusste auch schon der Weise Patanjali 400 v. Chr. und schrieb darüber in seinem Yoga-Standardwerk „Yogasutra”:
„Sthira Sukham Asanam.”
Vers 2.46 der Yogasutra
Dieser Vers, einer der bekanntesten aus Patanjalis Yogasutra, kann aus dem Sanskrit übersetzt werden mit „Die Haltung soll gleichzeitig stabil und angenehm sein”.
Sthira bedeutet dabei so viel wie fest, stabil, unbeweglich, dauerhaft und widerstandsfähig.
Sukha beschreibt Behagen, Leichtigkeit, Freude und Glück.
Was bedeutet Sthira Sukham Asanam genau?
Da zu Patanjalis Zeiten unter Yoga vor allem Meditation verstanden, können wir den Vers auf den Meditationssitz beziehen. Dieser soll also fest und stabil sein, aber dennoch auch leicht und angenehm. Jeder, der schon einmal länger als drei Minuten meditiert hat, kann bestimmt gut nachvollziehen, was Patanjali meint.
Bezogen auf den Meditationssitz können wir Sthira so interpretieren: Um lange stabil und regungslos zu sitzen, sich ganz der Meditation hingeben zu können, benötigen wir den passenden Sitz für unseren Körper und einen gesunden, beweglichen Körper mit entsprechender Muskulatur. Du kennst es vielleicht von dir selbst: Meist dauert es nicht lange, bis du doch im Rücken einsinkst oder dich noch mal bewegen möchtest, weil es irgendwo am Körper zwickt oder die Beine eingeschlafen sind. Um tief in die Meditation sinken zu können, musst du aber regungslos werden. Und dazu benötigst du Sthira als Fundament.
Sukha ist das Einlassen auf die Situation. Das geht nur, wenn du dich wohl in deinem Körper fühlst und angenehm und leicht in einer Haltung verweilen kannst. Dann kannst du entspannen und dich ganz auf die Meditation konzentrieren.
Übrigens gibt es die Theorie, dass damals ganz konkret der Lotussitz gemeint war. Der ist zwar sehr herausfordernd und für viele Menschen aus anatomischen Gründen schlicht nicht erreichbar. Wenn du ihn aber bequem einnehmen kannst (nachdem du deinen Körper über längere Zeit darauf vorbereitet hast und nur, wenn du dir sicher bist, dass das für deine Knie eine gute Idee ist!), bringt er ganz automatisch ein wunderbares Gefühl von Stabilität und Leichtigkeit mit sich.
Allerdings sollten wir Sthira Sukham Asanam nicht nur auf den Meditationssitz beziehen. In der heutigen Zeit können wir den Vers auf unsere gesamte Yoga-Praxis, also alle yogischen Körperhaltungen (Asanas), übertragen. Mehr noch: Der Gedanke hinter diesem Sutra lässt sich auf unser ganzes Leben anwenden. Auf das elementare Wechselspiel zwischen Stabilität und Verwurzelung sowie Leichtigkeit und Loslassen.
Um stabiler und leichter im Meditationssitz zu verweilen, kannst du diese vorbereitende Sequenz von Christina Lobe üben:
Die innere Haltung: Finde die Mitte
Tatsächlich geht es im Yogasutra nicht primär um Asanas im Sinne von körperlichen Haltungen, sondern vielmehr um eine innere Haltung. Wenn du die Kontrolle über deinen Geist erlangen möchtest (also auf dem Weg des Raja Yoga weiterkommen willst), musst du lernen, ein Gleichgewicht zwischen innerer Stabiltität bei gleichzeitiger innere Entspannung und Leichtigkeit zu kultivieren.
Unser ganzes Leben ist von Dualität geprägt, von Gegensätzen, und unser erster Implus ist allzu oft, dass wir uns für eine Seite entscheiden müssen. Dabei geht es eher darum, die Mitte auszuloten, die Balance zu halten, indem du dich zwischen den Polen bewegst.
Das Prinzip von Sthira Sukham Asanam lässt sich von der Matte sehr gut ins alltägliche Leben transferieren. Sthira sind die stabilen, beruhigenden Elemente des Lebens und Sukha bringt die Leichtigkeit, hilft uns beim Loslassen, flexibel zu bleiben und uns auf Veränderungen einzulassen. Interessanterweise wird das Loslassen und das Einlassen auf Veränderungen umso leichter, je verwurzelter wir sind.
Stressige Lebensumstände dagegen entwurzeln uns nicht nur, sie halten uns auch gefangen. Die Folge: Loslassen scheint unmöglich. Weder in den Gedanken noch im Körper. Den Umgang mit diesen Momenten kannst du ideal auf der Matte üben.
Sthira und Sukha in deiner Yoga-Praxis
Wenn du in deiner Praxis eine Ausgeglichenheit zwischen Sthira und Sukha erreichen willst, solltest du dich zunächst in jeder Haltung der Erdung widmen. Baue die Asana von der Matte aus auf, beginne ganz unten, verwurzele dich, und richte dich dann Stück für Stück auf. Stell dir etwa einen Krieger I vor: Du beginnst mit gut plazierten, stabilen Beinen, richtest deine Hüfte gerade aus, und stabilisierst dich dann weiter über eine aktive Mitte, die besonderen Halt durch die Bandhas erfährt.
Oberhalb des Bauchnabels kannst du dich dann der Leichtigkeit zuwenden (zumindest solange du dich nicht in einer Umkehrhaltung befindest): Deine Schultern, Arme, der Nacken, besonders auch der Kiefer und die Stirn sind entspannt und unangestrengt. Die Arme im Krieger I bleiben, obwohl sie bis in die Fingerspitzen gestreckt sind, leicht, sie streben frei und mühelos nach außen.
Diese Leichtigkeit ist ohne stabile Basis nicht möglich. Wackelt das Fundament, kann sich oben im Elfenbeinturm niemand locker machen:
- Zu viel Sthira ist auf der Matte oft an hochgezogenen Schultern, einem verbissenen Kiefer zu erkennen. Beobachte dich selbst und versuche bewusst den Zustand mit ein bisschen extra Sukha auszugleichen.
- Zu viel Sukha kannst du daran bemerken, dass du nicht gut geerdet bist, in Balancehaltungen viel wackelst oder dir auch sonst die stabile Form der Asana schwerfällt. Bringe in diesem Fall noch mal von unten Stabilität in die Haltung.
Sorge dafür, dass du Erdung hast, der Atem frei fließen kann und deine Wirbelsäule trotzdem in ihrer stabilen Hülle frei in ihren Bewegungsmöglichkeiten ist und eine „schwebende” Qualität hat. Genieße die Haltung deines Körpers – egal in welcher Asana du dich befindest. Der Genuss in der Asana bringt dir die Leichtigkeit und die Wirkung des Yoga.
Keine Sorge: Je regelmäßiger du Yoga übst, desto leichter wird dir diese Balance aus Stabilität und Leichtigkeit fallen. Selbst wenn es heute also noch nicht klappt, versuche es morgen gleich wieder.
„When an asana is done correctly, the body movements are smooth, there is lightness in the body, and freedom in the mind.”
B. K. S. Iyengar
Mit dieser Yoga-Sequenz von Anna Rech bringst du Harmonie in die Gegensätze, verbindest ein starkes Fundament mit einer geschmeidigen Leichtigkeit:
Von der Matte ins Leben
Jede Asana-Praxis schwankt zwischen den zwei Gegenpolen Sthira und Sukha. Auf der Matte kannst du üben, was du auch abseits des Yogaraums in dein Leben integrieren solltest: eine ausgewogene Balance zwischen den Extremen. Damit ist nicht das Mittelmaß gemeint! Vielmehr geht es darum, die Eigenschaften der Pole durch den Gegenpol im Gleichgewicht zu halten. Dann kann die Energie zwischen den Polen fließen.
„The perfection in an asana is achieved when the effort to perform it becomes effortless and the infinite being within is reached.”
B. K. S. Iyengar
An kleinen Kindern ist das Prinzip gut zu beobachten: Obwohl sie sich immer wieder erden – oft in einer Hockstellung verweilen, in der die Hüfte gen Boden zieht – sind sie dabei spielerisch und leicht, tun das, was sie tun mit Freude und Fokus, ohne zu zweifeln, dass ihre Tätigkeit jetzt genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt.
Wenn wir unter Stress stehen, neigen wir dazu, uns an Sthira festzukrallen und auf die Situation mit noch mehr Kraft und Stärke zu reagieren. Dabei täte uns Leichtigkeit in solchen Situationen viel besser, würde den Stress lösen und gedachte und gefühlte Grenzen sprengen.
Übe, ein bisschen mehr Leichtigkeit in der Anstrengung zu finden, und entwickele Freude an Herausforderungen. Das wird nicht sofort klappen, aber bleibe dran. Durch Anstrengung und Verkrampfung erreichen wir gar nichts im Yoga – und im Leben. Nimm Herausforderungen an, und bleibe dabei entspannt. Hör auf, dich an Ergebnissen und Zielen festzuhalten. Konzentriere dich stattdessen auf deine innere wie äußere Haltung und strebe in jedem Moment das herrliche Gleichgewicht zwischen stabiler Verwurzelung und freudvoller Leichtigkeit an.