Spirituelle Vermeidungsstrategien spiritual Bypassing
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Spiritual Bypassing: Vermeidung – aber spirituell!

Von Janine Schneider

Spiritualität wird heutzutage oft als beglückende Wellness-Erfahrung in weichgezeichneter Strand-Ästhetik verkauft. Dabei tritt ein zentraler Aspekt jeder spirituellen Praxis in den Hintergrund: Die Transformation unserer Beziehung zum Leid – und die herausfordernde Arbeit, die dafür nötig ist. Nun ist es zugegebenermaßen nicht besonders angenehm, sich verwirrenden Gefühlen zu stellen, sich schmerzhaften Prozessen zu öffnen. Vor allem, wenn die spirituelle Szene so viel attraktivere Alternativen bietet: Be positive, verbreite gute Vibes, übe einfach nur die richtige Atemtechnik oder chante ein bisschen, dann geht es dir wieder gut! So endet manch spiritueller Weg – unbemerkt und trotz bester Intentionen – in einem goldenen Nebel aus spirituellen Methoden und Ideen, die uns von unserer Lebendigkeit und damit echten Entwicklung abschneiden, statt uns intimer mit dem Leben in all seinen Facetten zu verbinden. Kurz gesagt: Im Spiritual Bypassing.

Was ist Spiritual Bypassing?

Der Begriff Spiritual Bypassing wurde vom Psychologen John Welwood im Jahr 1984 geprägt. Gemeint ist damit, dass spirituelle Praktiken und Überzeugungen genutzt werden, um sich schmerzhaften Gefühlen oder tiefen Wunden nicht stellen zu müssen (der englische Begriff „to bypass” heißt „umgehen” oder „überbrücken”). „Es handelt sich um eine vergeistigte Strategie, nicht allein um Leid zu vermeiden, sondern um diese Vermeidung auch zu legitimieren, und zwar auf ganz offensichtliche oder äußerst subtile Weise”, schreibt Robert Augustus Masters dazu in seinem Buch „Spiritual Bypassing” [Übersetzung der Autorin].

Dabei ist es erst einmal beruhigend zu wissen, dass die meisten von uns – mehr oder weniger ausgeprägt und mehr oder weniger bewusst – von dieser Vermeidungsstrategie im spirituellen Kostüm Gebrauch machen. Wie verbreitet Spiritual Bypassing heute ist, wird deutlich, wenn wir uns klar machen, wie oft uns folgende Sätze im Kontext spiritueller Lehren oder Angebote begegnen: „Du musst nur positiv denken.”, „Wir sind alle eins.”, „Good vibes only.”, „Nimm es nicht persönlich.” oder „Es ist alles nur eine Illusion.”. Denn auch wenn solche und ähnliche Sätze eine inspirierende Wirkung haben können – auf einer tieferen Ebene trennen sie uns von vielen Facetten unseres Menschseins.

Erscheinungsformen von Spiritual Bypassing 

Spiritual Bypassing kann sich in verschiedenen Verhaltensweisen zeigen:

  • das Positive überzubetonen und alles in einen Schleier aus Licht und Liebe hüllen zu wollen.
  • sich von der Welt extrem zurückzuziehen oder gänzlich vom Körper abzutrennen mit dem Ziel, alles „Irdische” zu transzendieren.
  • als negativ wahrgenommene Gefühle zu unterdrücken und zu verurteilen, etwa Wut, Trauer oder Scham, und die eigenen Schattenanteile zu leugnen.
  • blindes Mitgefühl auf Kosten unserer eigenen Bedürfnisse zu leben, keine gesunden Grenzen zu setzen und mit dem Wunsch nach Frieden in der Konfrontationsvermeidung zu erstarren. 
  • der Illusion zu verfallen, bei einer „höheren” Form des Seins angekommen zu sein.

Übersetzen wir das in ein konkretes Beispiel: Umgang mit Wut

Ein großes Lernfeld ist für viele Menschen der Umgang mit Wut – einem Thema, das mich selbst begleitet und bei dem ich mir mehr Bewusstheit in der Yogaszene wünsche. Wie willkommen ist die Wut in der Meditationshalle oder auf der Yogamatte? Vielleicht fragst du dich jetzt auch, was an Wut denn bitte gut sein soll? Wut erscheint vielen spirituell Interessierten eher als Hindernis auf dem Weg zu innerem und äußerem Frieden. Sie passt nicht so ganz zum Bild der sanften Yogini oder des gleichmütigen Yogis, denen es um Harmonie und Frieden geht, stimmts? Doch in dem Moment, in dem wir uns von der Wut abspalten und sie als etwas Unerwünschtes einordnen, verleugnen wir einen Teil von uns selbst. Denn die Wut ist eine wichtige Kraft, um gesunde Grenzen zu setzen und um gute Entscheidungen für uns und unser Leben zu treffen.

Wichtig ist, in welcher Beziehung wir zu unserer Wutkraft stehen: Ob wir ihre Potenziale und auch ihre zerstörerische Kraft intim kennen und sie als lenkende Energie nutzen können, statt uns in ihr zu verlieren und uns und andere in ihrem Feuer zu verbrennen. Das Problem ist also nicht die Wut, sondern die Vermeidung der Wut und unser Unvermögen, gesund mit ihr in Beziehung zu treten. Was im Laufe der Jahre durch verdrängte Wut entstehen kann, ist ein mühsam kontrolliertes Pulverfass, das nur darauf wartet, zu explodieren. 

Wer nicht weiß, dass Wut einen wichtigen Zweck in unserem Leben erfüllt, drückt sie eher weg. Wahrscheinlich fühlt es sich sicherer an, weiter der inneren Harmonie entgegen zu meditieren.


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Spiritual Bypassing als Selbstschutz

Bevor jetzt aufgrund dieser cleveren Verdrängungsmechanismen Scham aufkommt, sei gesagt: Schmerzvermeidung liegt uns Menschen buchstäblich in den Genen und erfüllt einen wichtigen Zweck. „Was wir als Menschen mit allen lebenden Wesen, auch kleinsten Tieren wie einer Ameise, gemein haben, ist der Trieb, Unangenehmes oder Schmerzliches zu vermeiden und nach dem Angenehmen zu suchen”, sagt Diplom-Psychologin Charlotte Garbe. „Das ist tief in unserer Natur verankert, um unser Überleben zu sichern. Unser Wunsch, nicht leiden zu wollen ist grundsätzlich etwas ur-natürliches und überlebenswichtiges.

Dieser Wunsch und damit auch Spiritual Bypassing – also Spiritualität zur Vermeidung von Leid zu nutzen – sind somit nichts, wofür wir uns verurteilen sollten. Es erfordert Mut und auch einiges an Überwindung, sich unseren inneren Wunden zuzuwenden, sich auf schmerzhafte Heilungsprozesse einzulassen. Oft sind es Verletzungen, die wir unser ganzes Leben lang verdrängt haben oder von denen wir vielleicht lange nicht wussten, dass sie überhaupt da sind. Hier kann schnell ein Gefühl der Überforderung aufkommen. „Das ist ganz normal”, sagt Charlotte Garbe, die Menschen neben der Psychotherapie auch mit Achtsamkeitskursen auf ihrem Weg der Heilung begleitet. „Die Versuchung, einen goldenen Schleier von Spiritualität und verklärtem Lächeln über unsere Verletzungen zu legen, ist groß. Und leider haben wir uns selbst oft genug den Zugang zu uns aus einem Schutzbedürfnis heraus vermauert. Aber ein Schmetterling ist keine Raupe, die sich Flügel umgeschnallt hat. Es liegt eine Gefahr darin, sich hier selbst etwas vorzumachen und damit fliegen zu wollen.


In dieser Folge des YogaEasy-Podcasts „Besser Leben mit Yoga“ spricht Kristin Rübesamen mit dem Stuttgarter Yogalehrer Mario Esposito unter anderem darüber, warum Spiritual Bypassing ein häufiges Problem unter Yogi:nis ist.


Spiritual Bypassing überwinden: Achtsam durchs Feuer gehen

Ja, wir können Spiritualität als „metaphysisches Valium” nutzen, wie Robert Augustus Masters es so schön nennt. Doch um auf einer tieferen Ebene zu heilen und echte Zufriedenheit zu verspüren, gibt es keinen Weg drum herum: Der einzige Weg heraus aus dem Leid ist mittendurch. Spiritualität ist kein Rauschzustand oder etwas, das schnelle Resultate bringt. Sie ist ein lebenslanger Weg, um immer wieder neue Facetten unserer selbst aufzudecken und zu uns zu holen – auch die Schattenanteile, das Unschöne, das Schmerzliche. Das Licht und das Feuer gehören zusammen. 

Was also, wenn wir merken, dass wir Spiritual Bypassing auf die eine oder andere Weise nutzen? Dann ist der erste Schritt getan: Wer Vermeidungsstrategien im spirituellen Kostüm erkennt und benennt, kann beginnen, sich geduldig von ihnen zu lösen. Das erfordert von uns in hohem Maße, uns verletzlich zu machen, weshalb eine große Portion Mitgefühl und Annahme hier wichtig sind. Wenn wir den Spiritual Bypasser in uns ganz zu uns holen und üben, mit gesunder Distanz auf ihn zu schauen, kann er nicht weiter blind die Führung übernehmen. Hilfreich ist es dabei oft, sich kompetente psychologische und spirituelle Unterstützung zu holen. 


In dieser Meditation für Fortgeschrittene mit Patrick Broome verbindest du dich mit deinem Herzen:

Meditation für Fortgeschrittene: Mitgefühl, Liebe und tiefe innere Ruhe


Wir können viele tiefgehende spirituelle Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gehabt haben und bleiben trotzdem noch Mensch – und damit verletzlich”, resümiert Charlotte Garbe. „Es ist Teil eines lebendigen Prozesses, auf dem Weg zu uns selbst immer wieder auf noch unversorgte Stellen zu stoßen. Dann ist unser spirituelles Selbst gefragt nicht müde zu werden, sich mit Mitgefühl und Liebe uns selbst zuzuwenden.” 

Was uns hinter dem Schleier aus goldenem Nebel erwartet, ist echter, geerdet und verbunden. Es erwächst aus dem Mut und der Verantwortung, sich allen Facetten unseres Menschseins zuzuwenden. Es erfordert, nicht nur im Licht zu baden, sondern auch durch das Feuer zu gehen. 


Buchtipp:
Robert Augustus Masters: Spiritual Bypassing. When Spirituality Disconnects Us from What Really Matters. North Atlantic Books 2010.

Expertin:
Charlotte Garbe, Psychotherapie, Coaching und Achtsamkeitskurse in Berlin

Janine Schneider
Janine Schneider

Janine Schneider ist freie Journalistin und Yoga-Lehrerin verwurzelt im Grünen bei Berlin. Sie liebt Themen rund um weibliche Spiritualität, ganzheitliche Gesundheit, emotionale Intelligenz und achtsame Nachhaltigkeit. In ihren Texten und Yogastunden versucht sie Brücken zu bauen zwischen den Tantra- und Yogatraditionen und modern gelebter Spiritualität.
Mehr über Janine erfährst du unter www.yoursoulspace.org und www.wortschaetze.org.