Selfcare – anders als du denkst

Von Katharina Goßmann

Woran denkst du, wenn du den Begriff „Selfcare” hörst? An Massagen, Wellness-Wochenenden und Yoga Retreats? Endlich Pause machen, dich vom Stress bei der Arbeit, den Strapazen des Alltags erholen? Das ging mir früher auch so. Aber von vorne.


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Wellness liegt im Trend

Die Wellness-Industrie boomt. Vor einigen Jahrzehnten gab es Massagen nur auf Rezept, Vitaminpräparate wurden an Kranke und Alte ausgegeben und von Panchakarma-Kuren hatten nur Eingeweihte jemals gehört. Heute dagegen können Verspannte sich im lokalen Schwimmbad zwischen Hot-Stone-, Lomi-Lomi- und Thai-Massage entscheiden, jede Kleinstadt-Drogerie bietet zwei Regale voller Nahrungsergänzungsmittel und eine Ayurveda-Kur auf Sri Lanka ist in manchen Kreisen angesagter als Strandurlaub auf Hawai’i.

Ja, manch moderner Mensch befindet sich schon fast im „Wellness-Stress”. Hetzt vom Akupunkturtermin zur Detox-Massage, von der Ernährungsanalyse zum Anti-Stress-Coaching. All das kostet natürlich Geld – das meist mit einem stressigen Job verdient wird. Das Ergebnis ist oft ein absurder Teufelskreis aus Arbeitsstress und „Selfcare”.

Dazu kommt, dass die kostspieligen Wellness-Termine oft wenig positiven Effekt haben. Nicht, weil sie an sich wirkungslos wären. Aber die beste Massage kann keine seit Jahren bestehende stressbedingte Verspannung samt dazugehöriger chronischer Kopfschmerzen korrigieren. Und auch der inspirierendste Yoga-Workshop tut sich schwer, eine 50-Stunden-Woche vorm Bildschirm zum kompensieren.

Schlimmer noch. Manchmal ermöglichen es nur diese teuren Wellness-Behandlungen, dass Menschen den Rest der Zeit ihre Bedürfnisse ignorieren können. Weil sie die schlimmsten gesundheitlichen Folgen der Selbstverleugnung verhindern und dadurch den Status Quo (einigermaßen) erträglich machen. Puh.

Früher war alles besser (oder wenigstens entspannter)

Meine Eltern kannten keine Wellness und die eine Woche Jahresurlaub pro Jahr war Spaß am Meer – und keine dringend nötige Erholung. Warum aber war ein selbstständiges Ehepaar mit kleinen Kindern, das sechs Tage pro Woche im eigenen Geschäft stand, in den 70ern und 80ern deutlich weniger erholungsbedürftig als ihre Tochter im Jahr 2022, obwohl die (also ich) nur Teilzeit arbeitet und jedes Jahr mindestens fünf Wochen Urlaub macht?

Meine Vermutung: Die Ursache liegt in unseren unterschiedlichen Tagesabläufen. Während viele Menschen in der heutigen Zeit den ganzen Tag von A nach B hetzen, immer unter Zeitdruck stehen und kaum eingeplante Pausenzeiten haben, sah die Realität meiner Eltern anders aus. Morgens wurde erst mal eine Stunde mit dem Hund durch den naheliegenden Wald spaziert. Mittags war das Geschäft dann für zwei Stunden geschlossen. Wäre auch albern gewesen es offen zu lassen – schließlich waren in der Mittagspause alle potentiellen Kundinnen und Kunden zu Hause, aßen in Ruhe mit der Familie und gönnten sich dann ein Schläfchen oder einen Spaziergang. Nachmittags gab es dann für die Angestellten eine Kuchenpause, bei der alle zusammensaßen und sich unterhielten. Außerdem hatten meine Eltern immer so viel Personal, dass es nur im absoluten Ausnahmefall zu Engpässen und damit Stress kam. Um 18 Uhr war dann Feierabend – da gingen ja sowieso die meisten Menschen nach Hause zum Abendessen. Dauererreichbarkeit, die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, konstanter Medienkonsum – das gab es alles noch nicht.


Wenn du mal wirklich Pause brauchst, gibt es nichts besseres als Yoga Nidra, den sogenannten „Yogaschlaf”:
Yoga Nidra


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Die kapitalistische Wellnessindustrie

Unsere kapitalistische Gesellschaft hat die Selbstfürsorge zum Milliardengeschäft gemacht. Der Kapitalismus hat nämlich nicht nur die Angewohnheit Bedürfnisse zu schaffen, die es früher nicht gab, und sie in bare Münze umzuwandeln. Nein, durch ihn entstehen auch ganz natürlich neue Konsumbedürfnisse. Denn wenn das ökonomische System darauf aufbaut, dass die Wirtschaft jedes Jahr wächst, dann müssen wir alle eben immer mehr arbeiten, oder mehr produzieren, uns im Wochentakt neue Produkte ausdenken oder sie so billig machen (am besten durch Personaleinsparung, die wiederum in noch mehr Arbeit für die Verbliebenen resultiert), damit die Konsument:innen immer mehr davon kaufen. Kurz: Der entspannte Alltag, den meine Eltern noch für normal hielten, hat sich spätestens mit dem Wechsel ins 21. Jahrhundert erledigt – und die stressige neue Arbeitswelt produziert nun täglich mehr Erholungssuchende auf der Suche nach dem „Quick fix” für ihre Erschöpfung.

Die Zunahme von Druck, Stress, Anspannung und Erschöpfungssyndromen ist wissenschaftlich gut dokumentiert. Meine Eltern kannten den Begriff Burnout noch nicht. Heute belegen unzählige Untersuchungen, wie belastet sich viele Menschen fühlen und dass mehr und mehr Schichten der Bevölkerung wenigstens phasenweise mit chronischer Erschöpfung zu kämpfen haben (auch schon vor Corona).

Aber nicht nur unsere Arbeitswelt ist schneller geworden. Die Dauererreichbarkeit dank Handy und Internet sorgen dafür, dass es keine natürlichen Phasen des Nichtstuns mehr gibt. Social Media und Co. verführen uns dazu, auch privat auf Dauerempfang zu sein. Die so wichtigen Leerlaufzeiten, in denen es gerade eben nichts zu tun gibt, in denen wir still werden können, reflektieren, integrieren und regenerieren konnten, gibt es nicht mehr.

Gesundheit als absolute Priorität: Nimm dein Leben in die Hand

Außer, wir sorgen selbst für solche Pausen.

Das erfordert in unserer aktiven Zeit durchaus Mut und Entschlossenheit. Und bewusste Planung. Ein selbstgekochtes Gericht in Ruhe alleine zu essen statt mit dem Team zum Burgerladen zu gehen (und dort weiter über die Arbeit zu sprechen) kann sich erst mal komisch anfühlen. Was verpasse ich? Schieße ich mich ins Karriere-Aus? Und wäre ein Burger nicht doch leckerer gewesen?

Es ist gar nicht so einfach, das eigene Wohlergehen täglich zur Priorität zu machen, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, sich für die nicht so etablierte Form der Tagesgestaltung zu entscheiden. Wir alle sind geprägt von der Gesellschaft, in der wir leben, haben deren Werte internalisiert. Es erfordert Überzeugung, sich immer wieder bewusst zu machen, dass deine psychische und physische Gesundheit es wert ist, in dich hinein zu spüren und herauszufinden, was du eigentlich willst und brauchst.


Gedankenanstoß: Denk mal nicht an das, was andere von dir wollen, was für Erwartungen deine Eltern, Chefin, Partner oder Kinder an dich haben. Was brauchst DU um gesund zu sein? Wie sähe ein entspannter Tag für dich aus, an dessen Ende du gute Laune und noch Energie hast? Und was brauchst du, um so einen Alltag für dich umzusetzen? Vielleicht einen großen Schritt, einen anderen Job? Oder einen inneren Schritt: Ja, ich darf es mir gutgehen lassen! Oder viele kleine – hier eine Aufgabe an andere abgeben, dort ein tägliches Pausenritual einplanen und dann einen Abendspaziergang statt Netflix und Chips?


In diesem wunderbaren Video führt dich Kristin Rübesamen durch eine kurze Yogapause:

Kurze Yogapause


Die besten Selfcare Tools: Was du konkret für dich tun kannst

Und mir fallen da noch ein paar Sachen ein.

1. Befriedige deine körperlichen Grundbedürfnisse

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ihre grundlegendsten Bedürfnisse missachten: Sie schlafen zu wenig, nehmen sich keine Zeit für regelmäßige gesunde Mahlzeiten, bewegen sich kaum – ja, sie nehmen sich nicht mal die Zeit in Ruhe zur Toilette zu gehen.

Es lohnt sich also ein Blick auf deinen Tagesablauf: Wie steht es um deine Schlafhygiene, wie erholt wachst du auf? Isst und trinkst du zu festen Zeiten, im Sitzen, in Ruhe? Wie viel bewegst du dich? Gönnst du dir jeden Tag Zeit im Freien?

Überleg mal, wie du deinen Alltag so strukturieren kannst, dass deine Grundbedürfnisse jeden Tag erfüllt werden. Morgens eine Kanne Tee machen und trinken, Mittagspause im Park, jeden Abend ein paar Minuten Yoga?


Diese kurze Abend-Sequenz von Christiane Wolff sorgt für guten, erholsamen Schlaf:

Aktivierung der Mondenergie


2. Befriedige deine inneren Bedürfnisse

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er braucht Nähe und Intimität, Inspiration in Form von Kunst, Literatur und Musik, aber auch Ruhe, Stille, leeren Raum und Verbindung zur Natur. Gibst du dir all das regelmäßig? Wenn nein, warum nicht? Ist es wirklich wichtiger, deine Chefin zu beeindrucken oder eine saubere Wohnung zu haben als dich glücklich, inspiriert und verbunden zu fühlen?

Vielleicht willst du ja in Zukunft jeden Tag eine gewisse Zeit, und seien es nur 15 Minuten, ganz bewusst für diese Aspekte deines Lebens einplanen. Und mit einplanen meine ich, dass du dir ganz konkret überlegst, wie du diese Zeit füllen möchtest. Schreib dir doch eine Liste mit Dingen, die (für dich ganz individuell) in diese Kategorie fallen – und entscheide dann immer morgens, welchen Punkt du an diesem Tag realisieren möchtest: Lesen, meditieren, musizieren, barfuß gehen, mit deinem oder deiner Liebsten auf der Couch eng umschlungen den Tag Revue passieren lassen? Oder vielleicht nimmst du dir regelmäßig ein paar Minuten um durchzuatmen?


In diesem kurzen Video führt dich Anna Rech durch die ausgleichende Atemübung Sama Vritti Pranayama:

Sama Vritti Pranayama


3. Zeit für dein Higher Self

Wir Menschen sind Fleisch und Blut, Worte und Taten, Gedanken und Gefühle – aber wir sind so viel mehr. Jedes Mal, wenn du dich daran erinnerst, dass tief unter all dem Sichtbaren dein Höheres Selbst steht, ist das Selfcare. Sich bewusst die Zeit zu nehmen, aus dem tief im Materiellen verwurzelten Denken aufzutauchen und dich dem zu öffnen, was sich nicht ganz so leicht sehen und greifen lässt, ist ungemein heilsam. Es erinnert dich daran, dass du nicht dein Körper bist, dein Alter, dein Geschlecht, dein Job oder dein Beziehungsstatus. Falls du das jetzt zu esoterisch findest: Es ist dabei ganz egal an was du genau glaubst – ob du dich einer bestimmten Religion zugehörig fühlst, dich als unsterbliche Seele definierst, als reine Energie oder einfach tief in dir fühlst, dass du mit allem und allen verbunden bist. Nimm dir einfach regelmäßig die Zeit, hinter die Fassade aus Fleisch und Blut zu gucken. Du wirst sehen, wie sich dein Blick verändert – und sich so manch profaner Stressfaktor in Luft auflöst.


Diese Meditation mit Annika Isterling bringt dich ins Fühlen:

Meditation: Ins Fühlen kommen


4. Ein bisschen Wellness ist auch ok

Sobald du in deinem Alltag bewusster darauf achtest, deine physischen und psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen und vielleicht die ein oder andere wohltuende Gewohnheit etablierst, wirst du schnell merken, dass das auf Dauer mehr bringt als jede Massage. Das heißt aber nicht, dass du dir nicht auch Wellness gönnen darfst. Alles, was du aus Selbstliebe tust, jede Minute, in der du dir bewusst liebevolle Aufmerksamkeit schenkst, ist wertvoll. Dabei ist alles „erlaubt”, was dich entspannt oder dir neue Energie und Lebensfreude schenkt – ein Entspannungsbad mit duftenden Zusätzen, eine Selbstmassage mit pflegenden Ölen, ja, sogar eine Lomi-Lomi-Massage im Luxus-Spa.


Probiere doch mal diese Selbstmassage von Isabel Djukanovic aus (sehr effektiv bei Kieferverspannungen und Spannungs-Kopfschmerzen!):

Selbstmassage bei Kieferverspannungen und Spannungs-Kopfschmerzen


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Fazit: Selbstfürsorge ist für alle möglich – und nötig

Selfcare ist kein rosa duftendes, überteuertes Event, das du dir alle paar Wochenenden gönnst. Echte Selbstfürsorge ist, dich mit all deinen Facetten und Bedürfnissen an- und ernst zu nehmen und dein Leben so zu gestalten, dass es dir auf allen Ebenen gut geht.

Die effektivsten Selbstfürsorge-Methoden kosten nicht viel Geld und Zeit, und wirken vor allem dann prächtig, wenn sie ein fester Teil deines Alltags sind. Natürlich kann es sein, dass du aufgrund deiner persönlichen Konstitution oder Umstände (zeitweise) zusätzlich profitierst von Massagen, Nahrungergänzungsmitteln oder einer Kur. Die Basis für dein Wohlbefinden legst du aber, indem du deine Gesundheit bewusst zur Priorität machst und dann aus diesem Mindset heraus bereichernde Gewohnheiten in dein Leben integrierst. Was für Gewohnheiten das sind, wirst du selbst herausfinden. Sie müssen nicht spektakulär sein. Ein paar Sonnengrüße am Morgen, eine fokussierende Atemübung, wenn dir alles zu viel wird, eine Mittagspause in der Natur, eine inspirierende Meditation am Nachmittag, ein abendlicher Spaziergang, wildes Tanzen, wenn du schlecht drauf bist.

Setz dich doch gleich mal auf die nächste Parkbank und guck den Wolken ein bisschen zu. Wirst sehen, das tut gut.


Selfcare - Buch - Svenja Gräfen

 

 

Lese-Tipp:

Svenja Gräfen zeigt in „Radikale Selbstfürsorge jetzt! Eine feministische Perspektive” (erschienen bei Eden Books) auf, dass Selfcare weder Produkt noch Luxus ist, sondern die Basis für die eigene Gesundheit, und damit auch für jedes Engagement für andere.

 

 

Katharina Goßmann
Katharina Goßmann

Katharina ist Mutter, Yogalehrerin und Psychologin. Bei YogaEasy ist sie das Herz der Redaktion und schreibt über Yoga, wahres Glück und Heilung. Ihre Artikel werden unter anderem im „Yoga Journal” und in der „Happy Way” veröffentlicht.