Muladhara: Essen, Schlafen und Selbsterhaltung

Von Kristin Rübesamen

Seltsam, dass gerade jetzt, wo es mir so gut gefällt, bei jeder Temperatur ins Wasser zu steigen und das, was wir als „Land“ bezeichnen, zu verlassen, Muladhara Chakra unser Fokus bei YogaEasy ist. Als wäre dieses Thema eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, festen Boden unter den Füßen zu haben. Ja, den Füßen, nicht den Schuhen. (Was wir gerne vergessen in dieser Jahreszeit, wenn wir unsicher über halbgefrorene Oberflächen schlittern. Hier kannst du alles über Yoga und Füße nachlesen)

Dein Fundament

Ihr wisst ja: Chakras sind Teil unserer yogischen Vorstellung einer subtilen Anatomie. Symbole, die uns helfen bei der Vorstellung, Energie entlang der Wirbelsäule durch den Körper zu bewegen und auf unterschiedlicher Ebene wieder für Gleichgewicht zu sorgen. Muladhara ist das erste oder unterste, genannt Wurzelchakra. Es befindet sich am Perineum, der Region zwischen Geschlechtsorganen und Anus. Es gilt als Fundament. Absurderweise schleicht sich, sobald wir uns das Fundament vorstellen, die Vermutung ein, dass ein Fundament immer schon gelegt ist und wir uns nicht darum kümmern müssen. Was für ein Unsinn. Fundamente wackeln, bröckeln und fehlen ganz und gar. Wir müssen Muladhara ganz existentiell verstehen. Essen, Schlafen und Selbsterhaltung sind unsere Grundbedürfnisse. Wenn wir diese nicht erfüllen, haben wir keine Chance. 

Rente und Nervensystem

Als ich zum ersten Mal davon hörte, vor fast dreißig Jahren in einer Stadt, die für ihre Wolkenkratzer ebenso berühmt ist für ihre schwindelerregenden Immobilienpreise, sagte meine damalige Lehrerin Cyndi Lee vom Om Yoga Center, wir sollten uns erst um Muladhara Chakra kümmern, Haus und Hof bestellen, uns darum kümmern, dass wir und unsere Familien ein Dach über dem Kopf hätten, genug zu essen, und, wäre sie Deutsche gewesen, hätte sie sicher auch die Riester-Rente erwähnt, weil, erst wenn „da“ alles gut wäre, könnten wir voranschreiten zu exotischeren Ausflugsorten wie Herz, Kehle, Scheitelpunkt. Wir nickten brav und es war auch niemand unter uns, der nicht längst in dieser Stadt am eigenen Leib erfahren hatte, wie schwer es ist, seine Miete zahlen zu können, wie schwer es ist, hier zu leben, ohne ständig Angst zu haben, vor die Tür gesetzt zu werden.

Es geht beim Muladhara Chakra darum, ein gewisses Grundvertrauen herzustellen, eine Qualität, die uns oft erst auffällt, wenn  sie verloren geht. Oft kommen wir auch nicht drauf, was es ist, das uns so ins Rutschen bringt. Die Ursache für die viel besprochenen Symptome unserer Zeit – Selbstentfremdung, Entkörperlichung, Leid – können wir gerade, weil uns der Weg nach innen verwehrt scheint, nicht erkennen. Mit den Händen seine Füße zu fassen während akuter Angstzustände, sich in stehenden Haltungen mental aus emotionalen Achterbahnfahrten zu befreien, tief in den Bauch zu atmen – all das ersetzt natürlich keine Psychotherapie, unterstützt aber maßgeblich durch die Beruhigung des Nervensystems unsere Fähigkeit zur Reflexion. Soweit zum Muladhara Chakra und seiner Bedeutung für unsere eigene körperliche und seelische Gesundheit.

Was bedeutet unsere Erdung für die Erde?

Wir leben aber nicht nur auf, sondern auch von der Erde. Welche Bedeutung kommt dem Wurzelchakra in dieser Hinsicht zu?

Vielleicht sollten wir die „Erdung“  auch wörtlich verstehen. Was können wir tun, um die Erde so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen? Nachhaltig und ökologisch bauen. Beim Bauen kommt es auf die Energieeffizienz an. So ist es auch in der Meditation. Je weniger Energie du auf alte, dumme Gedanken verschwendest, die dich doch nur wieder aus der Bahn werfen, desto stabiler steht dein „Haus“, desto ausgeglichener ist dein Muladhara Chakra. 

Pilgern für dein Muladhara Chakra

Oder gar nicht bauen, sondern unser „Haus“ mit uns tragen? Viele Yogi:nis haben Familie, aber viele führen auch ein Nomadenleben. Aber auch, wenn wir Ferien haben und das Dach über unserem Kopf kurzerhand über Booking.com wechseln, haben wir die Wahl. Unterstützen wir eine nette, lokal ansässige Vermieterin oder einen Konzern? Und wenn wir tatsächlich mit einem Zelt auf dem Rücken wandern, gehen wir so gut wie ohne CO2-Fußabdruck. Pilger:innen ziehen dazu noch mit einer festen Absicht oder einem frommen Wunsch im Herzen los. 

Das Wandern ist übrigens alles andere als einfach. Es ist wie bei der Meditation eine tiefe Erfahrung von Auf und Ab, von Landschaften, die öde sind und solchen, die einen umhauen in ihrer Pracht, von Etappen, die steinig sind, und solchen, auf denen man sich wünscht, sie würden nie enden. Deine Gedanken sind dabei dein schwerstes Gepäck. Nicht selten werden sie darum kreisen, wie schön es Zuhause ist.

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .