
Wie Pranayama bei Angst und Panikattacken hilft
Eine Krankheitsdiagnose, der Verlust eines geliebten Menschen oder die plötzliche Kündigung – unerwartete Schicksalsschläge und Unfälle passieren im Leben. Sie sind die Begleiter eines jeden Menschen. Was aber können wir tun, wenn wir plötzlich und ungewollt in Umstände verwickelt werden, die unser persönliches Glück oder sogar unser Leben gefährden? Welche Techniken können uns helfen, den Schock über das Erlebte zu verarbeiten und wieder zurück in ein normales Leben und unseren Alltag zu finden?
Seit vielen Jahren helfen mir die Techniken des Yoga und Pranayama. Ich nutze sie, um mir selbst und den Menschen, mit denen ich als Dr. im Fachbereich klinische Psychologie und Yogatherapeutin zusammenarbeite, zu helfen ihre Krisen zu meistern. Denn das Leben geht unterschiedliche Wege… So auch das meine…
Lebensgefährliche Unfälle können alle treffen… auch dich und mich
Es war ein kalter und regnerischer Februarabend, als wir mit dem Auto durch die Stadt fuhren, mein Bruder, seine Frau und ich. Auf einmal kamen Scheinwerfer von rechts und nur einen Sekundenbruchteil später BUMM... Mit 80 Stundenkilometern rammte ein Wagen seitlich die Beifahrertür unseren Autos und wir flogen. Überschlugen uns zweimal und kamen dann endlich auf dem Dach zum Stehen. Durch die zerbrochenen Fenster krochen wir aus dem zerstörten Auto heraus. Wir lebten… Wie in Zeitlupe kamen Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen… Alle drei standen wir unter Schock. Die Erfahrung des kompletten Kontrollverlusts und die erlebte Angst während und nach des Unfalls wogen schwer. Ich musste handeln, einen Weg für mich finden die Spuren dieses Erlebnisses in meinem Körper und meinem Geist wieder aufzulösen.
Yoga stabilisiert die Psyche
Da ich gegenwärtig ein Buch darüber schrieb, wie Yoga bei psychischen Störungen hilft, beschloss ich einige der Techniken, auf die ich während meiner Literaturrecherchen gestoßen bin, selbst auszuprobieren. Besonders beeindruckt hat mich die Wirkung der Atemtechniken des Yoga, Pranayama genannt, die der Psychologe, Autor, Yogalehrer und Yoga-(Trauma-)Therapeut Dietmar Mitzinger nach traumatischen Erlebnissen vorschlägt. Dazu gehören etwa Kapalabhati (Schädelatmung oder Schädelleuchten) und Khumbaka, die Atempausen. Sie sollen helfen, das Gleichgewicht im Körper und im Gehirn wiederherzustellen und auch möglichen Spätfolgen vorbeugen. Seit mehreren Wochen nun übe ich (fast) täglich das von Mitzinger vorgeschlagene Pranayama. Und tatsächlich: Von Tag zu Tag fühle ich mich besser.
Welche Spuren hinterlassen seelische Erschütterungen im Körper und im Gehirn?
Immer wenn wir mit etwas konfrontiert werden, das unser Leben zu gefährden scheint und unsere Psyche und unseren Körper überfordert, geraten wir in biophysiologischen Stress. Der Sympathikus (der Bereich des vegetativen Nervensystems, der uns kampf- und fluchtbereit macht und uns aufstachelt) bekommt die Überhand und sorgt dafür, dass alle Reserven, die das Überleben sichern, bereitgestellt werden können. Die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin geraten in den Körper und erhöhen den Blutdruck und den Herzschlag. Wir werden wacher, konzentrierter und aufmerksamer. Wir sind auf der Hut.
In diesem kurzen Yoga-Talk spricht unsere Breathwork-Expertin Tina Scheid darüber, wie unser Nervensystem funktioniert und wie wir unsere Atmung nutzen können, um es positiv zu beeinflussen.
Vor Schreck erstarren: Panikattacken und Angst
Ist das Erlebte zu schlimm, erstarren wir vor Angst. Uns bleibt das Herz förmlich stehen – die Außenwelt wird unwirklich… In ausweglosen Situationen, im Moment des stärksten sympathischen Stresses, aktiviert der Körper den Parasympathikus. Dieser Bereich des vegetativen Nervensystems ist dafür zuständig uns zu beruhigen. Diese Reaktion ist dafür verantwortlich, dass Menschen in dem Augenblick des Erlebten gefrieren können. Der Körper wird vor extremen körperlichen und emotionalen Schmerzerfahrungen geschützt. Das Erlebte muss dann in Träumen oder als Flashbacks immer und immer wieder wiederholt werden. Auch ich erlebte einen Moment der Todesangst in dem Augenblick, als das andere Auto mit voller Geschwindigkeit in uns hineinraste. Noch Stunden später stand ich unter Schock... Mit den vorgestellten Atemübungen begann ich gleich am nächsten Morgen.
Wie dir Kapalabhati mit anschließenden Atempausen (Khumbaka) hilft, Schlimmes zu verarbeiten
Laut Mitzinger bereitet die Atemtechnik Kapalabhati den Körper auf die anschließenden Atempausen vor. Es bringt auf natürliche Weise wieder Gleichgewicht in die durcheinandergeratenen Funktionen des vegetativen Nervensystems und verbessert die Herzratenvariabilität, also die Fähigkeit des Herzens, sich an unterschiedliche Belastungen (auch an psychische Belastungen) anzupassen. Trainieren wir unser Herz, sodass es sich besser an das anpassen kann, was uns passiert, werden wir auch psychisch immer besser in der Lage sein, mit überraschenden schlimmen Erlebnissen umzugehen.
1. Angst und Panik „abatmen“ mit Kapalabhati
Kapalabhati beeinflusst ferner die Vorgänge in unserem Gehirn. Die leichte Hyperventilation führt dazu, dass sich die Hirngefäße verengen und der Kortex, sprich der Bereich des Gehirns, der unter anderem das bewusste Denken und Verhalten steuert, weniger durchblutet wird. Gelangt weniger Blut und somit auch weniger Sauerstoff in den Kortex, empfinden wir einen leeren klaren Kopf.
Während der Kortex stillgelegt wird, bleibt das limbische System (unser Emotionszentrum) hochgradig aktiv. Die Folge ist, dass nun verdrängte Emotionen ins Bewusstsein gelangen können. Das ist nach schlimmen Erfahrungen insofern wichtig, da aufgestaute Erlebnisse und Emotionen sich langfristig auf körperlicher und auf psychischer Ebene bemerkbar machen können.
Anleitung: Kapalabhati Atemübung als Vorbereitung für Atempausen (Khumbaka)
- Setze dich in eine bequeme Meditationsposition. Der Rücken ist gerade, die Schultern sind entspannt.
- Atme tief durch die Nase ein (puraka).
- Atme anschließend doppelt so lang durch die Nase aus und leere die Lunge komplett (rechaka).
- Atme nun normal durch die Nase ein (puraka) und halte die Luft kurz in den Lungen (kumbhaka).
- Nun spanne stoßweise die Bauchmuskulatur und die Interkostal-Muskulatur (Zwischenrippenmuskeln) an, so dass die Luft automatisch aus den Lungen hinausgestoßen wird.
- Löse die Bauchspannung nach dem Ausatmen, damit das Einatmen passiv und automatisch erfolgt. Die muskulär verursachte Stoßbewegung des Bauches beim Ausatmen führt beim Lösen der Anspannung automatisch zum Einatmen.
Wiederhole die Kapalabhati-Übung in drei Durchgängen von ca. einer Minute mit einer Atemfrequenz von 30 bis 60 Atemstößen pro Minute. Konzentriere dich zwischen den Einheiten auf deinen Kopfbereich und auf das Gefühl, das die Übung in dir hinterlassen hat. Die dauerhafte Konzentration nach innen ist während der gesamten Atemübung unerlässlich. Natürlich kann die Konfrontation mit angstmachenden Emotionen während Kapalabhati erschreckend wirken. Es kann allerdings in der Regel nur das an die Oberfläche kommen, was da ist und verarbeitet werden sollte. Unverarbeitetes wiegt schwer und kann eher das normale Leben belasten.
In diesem Übungsvideo zeigt dir Anna Trökes noch einmal genau, wie Kapalabathi wirkt und wie du diese Atemtechnik übst (vier Minuten):
2. Das innere Gleichgewicht wiederherstellen mit Atempausen
Im Anschluss an die Atemübung Kapalabhati empfiehlt Mitzinger deshalb die Praxis der Atempausen. Sie sollen helfen, die aufgebrachten Emotionen auf gesunde Weise wieder ins Gleichgewicht zu bringen und den Körper und die Psyche zu zentrieren. Das geschieht dadurch, dass wir je nachdem, ob wir ein- oder ausatmen entweder den sympathischen (Einatmung) oder den parasympathischen (Ausatmung) Pfad des vegetativen Nervensystems aktivieren. Diese abwechselnde Stimulation beider Bereiche durch das Luftanhalten vor und nach dem Ein- und Ausatmen trainiert gewisser Maßen das vegetative Nervensystem so, dass sich der Körper vermutlich besser und schneller erholt.
Wenn du mehr über die yogische Atemtechnik des Atemhaltens erfahren möchtest, empfehlen wir dir dieses Tutorial von Anna Trökes zum Pranayama Kumbhaka:
Ein weiteres Pranayama, das sich sehr gut für die Atempausen anbietet, ist das Ujjayi Pranayama. Es lindert die begleitenden Stimmungseinbrüche und Angstgefühle.
3. Ujjayi Pranayama
Wenn wir Ujjayi atmen, verengen wir aktiv die Stimmritze im Halsbereich. Das Zusammenziehen der Stimmritze erzeugt beim Ein- und Ausatmen einen Atemwiderstand, der sich in einem Zischton/Rauschen äußert (HAAAA). Ujjayi stimuliert den wichtigsten Nerv des parasympathischen Nervensystems, den Vagusnerv. So trägt Ujjayi dazu bei, Stresshormone wie Kortisol und Noradrenalin abzubauen. Langfristig lindert es Ängste und Stresssymptome. Werden während dem Ujjayi Pranayama zudem aktiv Atempausen eingesetzt, ist seine Wirkung auf den Körper und die Psyche sofort spürbar.
Anleitung: Ujjayiatmung
- Verbleibe im Anschluss an das Kapalabhati in der Meditationshaltung.
- Verenge nun aktiv deinen Halsbereich, so dass beim Ein- und bei Ausatmen ein Haaa-Geräusch erzeugt wird.
- Du kannst das Haaa-Geräusch auch dadurch erzeugen, dass du den Kopf leicht vornüber senkst.
- Verbleibe, bevor du mit den Atempausen beginnst, einige tiefe und ruhige Atemzüge im Ujjayi Pranayama.
4. Ujjayi Pranayama mit Atempausen (Khumbaka)
- Leere nun vollständig deine Lunge.
- Atme langsam in fünf Schritten durch die Nase ein 1-2-3-4-5.
- Halte die Luft in der gefüllten Lunge fünf Schritte lang an 1-2-3-4-5.
- Atme nun langsam durch die Nase in fünf Schritten wieder aus 1-2-3-4-5.
- Halte nach dem Ausatmen die Luft wieder für fünf Schritte in der Lunge an 1-2-3-4-5.
Einatmen – Luft anhalten – Ausatmen – Luft anhalten…usw.
Praktiziere die Atempausen für ca. fünf Minuten und verbleibe anschließend in der Meditation, um die Wirkung auf den Körper und den Geist wahrzunehmen.
Weitere Details zur Ujjayiatmung erklärt Anna Trökes im folgenden Kurzinterview (sechs Minuten):
Durch Kapalabhati und Atempausen raus aus der Krise
Bereits während der ersten Praxis dieser Pranayama-Kombination war ich beeindruckt. Das durch Kapalabhati verursachte Leeregefühl in meinem Kopf kannte ich. Die Wirkung der Atempausen verblüffte mich. Vielleicht ist es das konzentrierte Zählen bis fünf, vielleicht auch das bewusste und konzentrierte Einhalten des Atemrhythmus und das Nicht-Atmen, die in mir die innere Ruhe und das Wohlgefühl verursachen. Ich übte weiter – bis heute. Mittlerweile hat dieses Pranayama einen festen Platz in meiner täglichen Yogapraxis.
Dank Dietmar Mitzingers Pranayama geht es mir heute wieder gut! Und genau deswegen entschloss ich mich, meine persönliche Erfahrung in diesem Beitrag zu teilen. Unvorhersehbares kann uns jederzeit überall passieren... Ungewollt können wir in Situationen geraten, die außerhalb unseres eigenen Einflussbereichs liegen und uns aus unserer gesunden Mitte bringen. Umso wichtiger ist es zu wissen, dass es keine ausweglosen Situationen gibt und dass wir uns selbst mittels Atmung eigenständig aus unterschiedlichen Krisen heraushelfen können.
Anmerkung:
Bei extremen traumatischen Erlebnissen wie Vergewaltigung, Missbrauch, Körperverletzung und anderen ist es anzuraten, vor dem Üben ärztlichen oder psychologischen Rat einzuholen. Bei manifesten posttraumatischen Belastungsstörungen sind alle hier vorgestellten Techniken mit erfahrenen Therapeut:innen zu praktizieren.