Ohne Nein kein Ja: Warum Grenzen wichtig sind

Von Kristin Rübesamen

In meiner ersten Karriere arbeitete ich beim Fernsehen für eine tägliche Interviewsendung. Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich morgens auf die S-Bahn wartete, mit Glück ein bisschen Sonne im Gesicht, die Zeitung unterm Arm, zu stark geschminkt. Es machte mir nicht das Geringste aus, dass ich bis zum nächsten Morgen in einem Tunnel aus Konferenzen, Arbeiten, Fluchen, Kantine und Fernsehstudio verschwinden würde. Es war aufregend, wir waren eine sensatioenlle Redaktion und ich hätte mit niemandem tauschen wollen.

Einige Jahre später sah es etwas anders aus. Wenn ich abends nach der Arbeit auf die U-Bahn wartete (wir waren auf einmal eine Familie und mussten umziehen), um nach Hause zu fahren, war ich oft so erschöpft, dass ich am liebsten auf den Bänken neben dem Fahrkartenautomaten sitzen geblieben wäre. Ich fürchtete mich vor der Vorstellung, zu Hause noch einmal alle Kräfte zu mobiliseren, um das Abendessen zu machen, vorzulesen, aufzuräumen. Niemand redete damals darüber. Manchmal sah ich tagsüber die männlichen Kollegen verschwinden mit einer fetten Lüge, Richtung Sekretärin (hieß damals so): „Ich bin beim Anwalt“. Nie blieb eine von uns zu Hause, wenn ihr Kind krank war, keine ging früher, wenn ein Kindergeburtstag zu feiern war, und nie, nie, nie beschwerte sich eine von uns, wenn der Chef kurz vor der Sendung den Plan über den Haufen warf, und wir alles von vorne produzieren mussten. Unausgesprochen galt die Losung: Wenn du hier mitspielen willst, dann zu unseren Konditionen.

Rund um die Uhr für alle anderen da sein

Heute ist das anders, aber nur auf den ersten Blick. Die viel beschriebenen Folgen der sich stetig verändernden Technologie sind überall zu spüren. Aber auch die Ansprüche an uns selbst sind auf grausame Weise gewachsen. Besonders an berufstätige Mütter. Jeder Kuchen für die Kita muss selbstgebacken und allergiegetestet sein. Am Abend noch ein Fremdsprachenkurs, drei Ehrenämter und natürlich eine super spannende Beziehung, dazu die vielen Freundschaften, das spirituelle Wachstum, das Hochbeet, das endlich gebaut werden sollte. Wer dagegen keine Kinder hat, soll sich gefälligst ständig zur Verfügung halten, als Babysitter einspringen, als Sorgentelefon, und natürlich auch im Job. Wir finden es normal, rund um die Uhr für alle als uns selbst da zu sein.

Mut zum Nein

Nein zu sagen im Beruf erfordert Mut. Die Angst vor unliebsamen Konsequenzen bis hin zum Jobverlust ist groß. Ebenso die Angst davor, als schwach zu gelten, nicht wieder gefragt zu werden, ausgegrenzt zu werden. In der Folge werden die Grenzen der Belastbarkeit überschritten. Lieber nehmen wir das Gefühl in Kauf, ausgenutzt zu werden, als die Angst zu ertragen, gar nicht mehr gebraucht zu werden. 

Das Nein begründen, aber kurz

Nein zu sagen erfordert neben Mut auch, ihr ahnt es, Achtsamkeit. Nur wer seine eigenen Grenzen, die ja nicht in Stein gemeißelt sind, genau kennt, ist in der Lage, sie auch zu verteidigen. Lässt man sich dagegen über längere Zeit ausnutzen, leidet nicht nur die mentale und physische Gesundheit, sondern auch das Selbstwertgefühl, eine Situation, in der es nochmal schwerer wird, den Mut aufzubringen, Nein zu sagen. Nein zu sagen, kann man üben. Die Fausregel lautet hierbei: Das Nein begründen, ohne sich in endlosen Rechtfertigungen zu verzetteln.

Grenzen verhandeln

Im Rahmen der allseits beliebten Selbstoptimierung setzen wir uns ständig neue Grenzen, manchmal verschieben wir sie nach unten, manchmal nach oben. Ständig dealen wir mit uns selbst: Weniger Kaffee, mehr Sport, am Wochenende nicht arbeiten, am Wochenende sich weiterbilden, nicht texten beim Essen, kälter duschen, mehr Gemüse, weniger tierische Fette, nicht verfügbar sein, nicht ansprechbar sein. Unser ganzes Leben ist ein einziger Verhandlungsmarathon, im Laufe dessen wir Grenzen verschieben, in der Regel weniger zu unserem Wohl, sondern zum Wohle unserer Arbeitgeber, Kinder, Schwiegereltern, Nachbarn, Freundinnen. Alles mit dem Ziel, endlich happy zu sein.

Statt auszurasten, klare Ansagen machen

Einige von uns sind besser darin, ihr Terrain zu verteidigen, andere schlechter. Ich gehöre zur dritten Gruppe. Wir sind, vermute ich, am schlimmsten dran. Wir sagen selten Nein, viel lieber Ja, geben eher nach, benehmen uns wohlerzogen, weil wir so erzogen wurden, um dann zur Unzeit auszurasten und von unseren verblüfften Partnern, Geschäftspartnern, Auftraggeberinnen, Kindern, Freundinnen etc. vehement unser Recht auf Freiraum zurückzufordern. Wenig effektiv. Sich stattdessen beizeiten in Ruhe mitzuteilen, klar und deutlich zu formulieren, was geht und was nicht, das wär’s doch.

Mental gesund bleiben

Sich abzugrenzen gilt zu Unrecht als egoistisch. Dabei ist es eine Frage der mentalen Gesundheit, für deren Erhalt wir Pausen brauchen: Zeiten, die nicht effizient gefüllt werden. Unser ganzes Leben ringen wir um diese kostbaren Momente, wo einfach nichts passiert. Noch nicht mal von der Wellnessbranche verordnete „Me Time”, sondern: Nüschte. Auf einer Steinmauer sitzen und vor sich hin träumen. Was genau es ist, was dir fehlt, verrät dir – das ist das Schöne – deine Yoga-Praxis und deine Meditation. 

Grenzen zu ziehen, hat viel mit Respekt zu tun. Die Freiheiten der Anderen genauso wie die Sehnsucht nach eigenen Freiräumen zu respektieren. Nein zu sagen fällt gerade den Tüchtigsten von uns schwer. Es verträgt sich nicht mit der Superrolle der ständig ansprechbaren, verfügbaren Superangestellten/Geschäftsfrau/Mutter/Tochter/Ehefrau, ja auch Freundin, die auch noch am späten Abend und nach einem endlosen Tag noch Zeit hat für ein dreistündiges Problemgespräch. Nein sagen ist der erste Schritt zu einem guten Selbstbewusstsein. Auch Nein zu sagen zu den Forderungen, denen wir uns selbst immerzu unterwerfen. Ohne ein klares Nein ist kein Ja möglich. Und Ja zu sagen, dazu sind wir doch eigentlich auf der Welt.


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Grenzen und #MeToo

Es gab neben diesen Grenzen, die wir gegen kulturelle Normen verteidigen müssen, in der Yogawelt lange noch viel brutalere Grenzüberschreitungen, die niemand, egal unter welcher spiritueller Flagge gesegelt wird, jemals hätte akzeptieren dürfen. Unter dem Hashtag #MeToo gab es vor einigen Jahren auch bei uns Yogis und Yoginis eine lebhafte Diskussion darüber, was Yogalehrer, damals noch nicht gegendert, dürfen und was nicht. Auf einmal schienen Situationen im Hotelzimmer, beim Profisport, selbst in der Physiotherapie, die alle bis dato fraglos ertrugen, ohne jemals zugestimmt zu haben, höchst fragwürdig. Das klare Machtgefälle zwischen Boss und Angestellten, Trainern und Sportlern, Therapeuten und Patienten machte es relativ leicht, den Missbrauch innerhalb eines solchen Verhältnisses zu erkennen und einigermassen strikte Grenzen im Kontext von Konsens, sprich Zustimmung, zu definieren. Zumindest theoretisch. 

Die Skandale, die in der Folge den Status internationaler Gurus wie Swami Satchidananda, Patthabis Jois, John Friend, Bikram Choudhury und BKS Iyengar erschütterte, zeigten, dass sich die Zeiten geändert haben. Das fatale Verhalten, das sich wohlgemerkt die mächtigsten Männer in der Yogawelt erlaubten, ist heute nicht mehr vorstellbar. Oder doch? Die Sensibilität ist jedenfalls immens gewachsen.

Passen wir auf, dass wir uns auch vor uns selbst und unseren Nächsten abgrenzen, zu unseren Bedingungen. 

Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen ist zertifizierte Jivamukti- und Om-Yoga-Lehrerin. Sie hat über ein Jahrzehnt in New York und London gelebt und ihre Ausbildungen noch bei Sharon Gannon und David Life (Jivamukti) und Cyndi Lee (Om Yoga) persönlich gemacht. Als Yoga-Aktivistin, Chefredakteurin von YogaEasy und Yogalehrerin unterrichtet sie seit fast 20 Jahren einen sehr konzentrierten, gleichwohl herausfordernden Stil. Sie ist Autorin von „Alle sind erleuchtet” und „Das Yoga-ABC” .

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