
Jivanmukta – befreit und verbunden im neuen Jahr
Gute Vorsätze: Der Wunsch, sich von Ballast zu befreien
Traditionell schmiedet der Mensch zum Jahreswechsel gute Vorsätze: Laut einer repräsentativen Umfrage von Statista von Oktober bis November 2024 gaben 55 Prozent der Befragten an, in 2025 mehr Sport treiben zu wollen, 50 Prozent haben den Vorsatz, sich gesünder zu ernähren und 22 Prozent möchten weniger Alkohol trinken (Quelle: Statista).
Alle Jahre wieder planen wir, demnächst leichter, sportlicher und gesünder durchs Leben zu gehen und uns endlich zu befreien von nutzlosem Ballast, ungesunden Gewohnheiten und unangenehmen Verhaltensweisen.
Mukti / Moksha – ultimative Freiheit
Befreiung (Mukti oder Moksha) in der yogischen Philosophie meint jedoch mehr als nur ein paar schlechte Gewohnheiten abzulegen. Mukti ist im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus das höchste Ziel des Lebens und wird als Zustand der ultimativen Freiheit, des Friedens und der Einheit mit dem Göttlichen verstanden.
Ein Jivanmukta (Sanskrit: जीवन्मुक्त jīvanmukta) ist in der Advaita Vedanta eine Person, die bereits zu Lebzeiten Befreiung erlangt hat, sich also von Samsara, dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt, gelöst und wahre Selbsterkenntnis erreicht hat. Der Begriff setzt sich aus den Sanskrit-Wörtern „jīva“ (Leben) und „mukta“ (Befreiter) zusammen und bedeutet wörtlich „lebend Befreiter“.
Ein/e Jivanmukta...
- ... bleibt inmitten von Ablenkungen unberührt und ist weder von Freude noch von Leid betroffen
- ... handelt ohne egoistische Motive und ist frei von Wünschen und Anhaftungen
- ... sieht keine Unterschiede zwischen sich und anderen Wesen und empfindet tiefe Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung.
Experten-Interview mit dem Yogalehrer und Indologen Dr. phil. Oliver Hahn
Um den Begriff des „Jivanmukta” genauer zu beleuchten, haben wir Dr. phil. Oliver Hahn, Yogalehrer und Indologe aus Leipzig, befragt.
YogaEasy: Was meint der Begriff „Jivanmukta” genau, und woher kommt er ursprünglich?
Dr. phil. Oliver Hahn: Die Idee hinter „Jivanmukta” ist, dass schon zu Lebzeiten eine vollständige Erlösung oder Befreiung möglich ist. In der indischen Erlösungslehre bedeutet das auch, dass man vom Kreislauf der Wiedergeburt und vom Karma erlöst ist. Diesem Konzept steht „Videhamukta” gegenüber, was „erlöst ohne Körper” bedeutet. Hier dominiert die Idee, dass Befreiung erst im Tod möglich ist. Der Gegenbegriff „Jivanmukta” ist also eine modernerer philosophischer Ansatz.
Der Begriff Jivanmukta kommt aus dem Advaita Vedanta, bei dem es um den Zustand der Nicht-Dualität (A-dvaita) geht. Er findet sich in vielen klassischen Hatha-Yoga-Texten wieder, zum Beispiel in der Hatha Yoga Pradipika. Aber auch in tantrischen, kaschmirischen Texten wie dem Vijnana-Bhairava-Tantra, in dem es um 112 Meditationstechniken geht, mit denen man dem befreiten Zustand näher kommen soll, ist die Idee zu finden.
Heißt das, dass wir durch strenge Yoga-Disziplin den Zustand der Befreiung erreichen, oder wie kommen wir dem befreiten Zustand näher?
Sadhana, also unsere tägliche Praxis, kann helfen, in einen „befreiten” Zustand zu kommen. Natürlich gab und gibt es auch immer wieder Personen, die plötzlich und unverhofft in den befreiten Zustand kamen – aber man sollte sich nicht darauf verlassen! Die Praxis selbst kann allerdings individuell ganz verschieden sein – für den einen ist es die Meditation, für den anderen die körperliche Asana-Praxis, für den nächsten das Gärtnern, Spazierengehen, achtsame Lauschen, stille Sitzen oder oder, oder. Der zentrale Punkt ist, dass es sich um einen „Bewusstseinzustand” handelt. Dass es also nicht darum geht: Je mehr man (etwas) „macht”, desto schneller wird Jivanmukti erreicht. Es geht vielmehr darum, sich selbst auszuhalten – mit allen hellen und dunklen Seiten – zu reflektieren, auch wenn es unangenehm ist, sich von Optimierungszwängen (ständig etwas tun) zu befreien auch einmal etwas sein lassen zu können.
Im Fokus steht also die Geisteshaltung, und nicht, dass etwas und WAS gemacht wird. Man könnte auch einer banalen, alltäglichen Tätigkeit nachgehen und den befreiten Zustand des Nicht-Getrennt-Seins erreichen – wenn dieser Tätigkeit achtsam, reflektiert und in Ruhe nachgegangen wird. Anders ausgedrückt: Praxis hat keine bestimmte Zeit, braucht kein bestimmtes Setting oder bestimmte Bedingungen, sondern sie ist IMMER. Bei allem, was man tut, rund um die Uhr und eben nicht nur in einem Yogakurs oder bei der Meditationspraxis. Eine Zweiteilung – in Alltag und in spirituelle Praxis – würde demnach nicht zum Jivanmukta-Zustand führen.
Bedeutet es im Umkehrschluss, Nichtstun und Ausharren, Lethargie ist die Lösung?
Genau genommen tun wir zu keinem Zeitpunkt unseres Lebens nichts. Selbst wenn wir ruhig auf einem Stuhl sitzen, passiert etwas: Gedanken, Emotionen, Bedürfnisse und ähnliches tauchen auf, und wir nehmen eine bestimmte Haltung zu ihnen ein. Diese Haltung, in der Regel eine Form von Zuneigung (Raga) oder Abneigung (Dvesha), ist unsere unablässige Identifikation mit den Inhalten unseres Bewusstseins, die aus Sicht der östlichen Weisheitslehren das „Rad der Wiedergeburt” am Laufen hält.
Unterscheiden sollte man vielmehr zwischen aktivem bzw. bewusstem Nichtstun, wie Meditieren, stilles Lauschen etc. und dem passiven bzw. unbewussten Nichtstun, dem Konsumieren, wie zum Beispiel auf der Couch zu sitzen und TV zu schauen. Hier liegt der Unterschied. Durch Passivität zu hoffen, dass sich etwas verändert, wird eher nicht zu dem erhofften Zustand führen. Es braucht schon eine regelmäßige aktive Wiederholung (Abhyasa), eine Praxis. Und sei es, jede Handlung, egal was es auch sein mag, achtsam auszuführen, jedes Gefühl wahrzunehmen, jede Regung zu spüren. Durch diese Bewusstwerdung des eigenen individualisierten Selbst kann dann das Bewusstsein des Nicht-getrennt-Seins vom bzw. der Einheit mit dem universellen Selbst entstehen.
Wir bedanken uns herzlich bei Dr. phil. Oliver Hahn für die Unterstützung und das Interview!
Gute Vorsätze: 8 Tipps, um das Konzept von Jivanmukta im Alltag zu leben
Es ist ein ganz schön hochgestecktes Ziel, ein Jivanmuka, und damit eine lebende erleuchtete Person zu werden. Die Idee des Jivanmukta bietet allerdings einen wundervollen Ansatz, um sich von begrenzenden Glaubenssätzen und einer einengenden Identität zu befreien und achtsamer, verbundener und dankbarer durch dein Leben zu gehen.
Mit den folgenden acht Ansätzen kannst du das Konzept von Jivanmukta Stück für Stück in deinem Alltag umsetzen, dich von alten Konditionierungen befreien und ein neues Lebensgefühl entwickeln:
1. Lebe achtsam und im Moment
- Lebe bewusst im Hier und Jetzt. Vermeide es, dich in Sorgen über die Zukunft oder Reue über die Vergangenheit zu verlieren.
- Übe achtsames Atmen, Essen und Gehen, um eine tiefe Verbindung mit dem Moment zu spüren.
2. Löse dich von Anhaftung und Erwartungen
- Erkenne, dass äußere Dinge, Erfolge und Beziehungen vergänglich sind. Versuche, deine Zufriedenheit nicht von ihnen abhängig zu machen.
- Befreie dich von Optimierungszwängen. Sei dankbar für das, was du hast und erkenne deinen inneren Reichtum.
- Kultiviere eine innere Haltung des Loslassens, insbesondere von Erwartungen, Groll oder Besitztümern.
3. Kultiviere Gleichmut
- Ein/e Jivanmukta bleibt unberührt von dualistischen Gegensätzen wie Gewinn und Verlust, Lob und Kritik. Akzeptiere Freuden und Herausforderungen mit der gleichen Haltung, vermeide Zuneigung (Raga) oder Abneigung (Dvesha).
- Übe, dich nicht von äußeren Umständen aus der Ruhe bringen zu lassen.
4. Lebe in Einheit mit Mensch und Natur
- Erkenne, dass alle Wesen Teil eines Ganzen sind und lebe in Harmonie mit allen Menschen, Tieren und der Natur.
- Entwickle Liebe und Mitgefühl, die frei von Egoismus sind.
5. Handle uneigennützig (Seva)
- Handle aus Mitgefühl und ohne Erwartung einer Gegenleistung. Sieh das Göttliche in jedem Menschen und hilf, wo du kannst.
- Kleine Handlungen der Freundlichkeit und Liebe können dein Leben erheblich bereichern.
6. Selbstliebe und Selbstvergebung
- Behandle dich selbst mit der gleichen Liebe und Geduld, die du anderen entgegenbringst.
- Lass Schuldgefühle los und akzeptiere, dass Fehler Teil des Wachstums sind.
7. Finde deine spirituelle Praxis (Sadhana) und wiederhole sie regelmäßig (Abhyasa)
- Eine tägliche spirituelle Praxis (Sadhana), die auf die Transformation des gesamten Lebens ausgerichtet ist, kann helfen, in einen befreiten Zustand (Moksha / Mukti) zu kommen. Entwickle einen Bewusstseinszustand, den du nicht nur auf der Yogamatte, sondern auch im Alltag lebst.
- Entwickle deine tägliche Praxis, sei es durch Meditation, Yoga, ethische Lebensweisen oder das Rezitieren heiliger Mantras.
- Widme dich deiner Praxis regelmäßig in aktiver Wiederholung (Abhyasa).
8. Reflektiere dein Handeln und Denken
- Verbringe regelmäßig Zeit in Stille, um über deine Gedanken, Handlungen und ihre Auswirkungen nachzudenken, auch wenn es unangenehm ist.
- Entwickle Selbsterkenntnis und hinterfrage, wer du wirklich bist – jenseits von Namen, Rollen und Identitäten.
Sei milde mit dir selbst
Acht gute Vorsätze sind eine ganze Menge und eine tägliche Praxis ein hochgestecktes Ziel. Sei bei allen Vorsätzen, die du dir für das neue Jahr machst, milde mit dir selbst. Du kannst dein Denken und Handeln nicht von einem Tag auf den anderen komplett umkrempeln. Picke dir vielleicht zu Anfang erstmal einen von den acht Vorsätzen heraus, jener, der dir am leichtesten fällt. Beobachte: Wie geht es dir damit? Das verändert sich mit der Zeit?
Und auch wenn du es mal nicht schaffst, deinen Vorsätzen nachzugehen: So what?! Wen juckt es – außer dich selbst? Überprüfe deine innere Haltung dazu: Hältst du es aus, wenn mal etwas nicht so läuft, wie du es dir vorgenommen hast? Nimm wahr, wenn du dich ärgerst oder enttäuscht bist, aber gib dem nicht zu viel Gewicht. Viel wichtiger ist, dass du gerade dann nicht aufgibst, sondern weiter deinen Weg gehst.
Und vielleicht erinnerst du dich an Erich Kästners Worte:
„Man soll das neue Jahr nicht mit Programmen beladen wie ein krankes Pferd,
wenn man es all zu sehr beschwert,
bricht es zu guter Letzt zusammen.Je üppiger die Pläne blühen, um so verzwickter wird die Tat.
Man nimmt sich vor, sich schrecklich zu bemüh'n
und schließlich hat man den Salat.Es nützt nicht viel, sich rot zu schämen, es nützt nichts und es schadet bloß,
sich tausend Dinge vorzunehmen.
Lasst das Programm und bessert euch drauflos.”
Lesempfehlung:
„Das Buch der Geheimnisse: 112 Meditationstechniken zur Entdeckung der inneren Wahrheit” von Osho. erschienen bei Arkana.