
Gesunder Egoismus: Das Manipura Chakra
Eine meine ältesten Freundinnen bekam vor ein paar Jahren aus heiterem Himmel eine schlimme Diagnose: Krebs. Ich erzähle oft von ihr (mit ihrer Erlaubnis übrigens), denn die Art und Weise, wie sie diesen Schlag gemeistert hat, nötigt mir Respekt ab. Vor allem aber beschäftigt sie mich auch auf persönlicher Ebene. Und passt zum Manipura-Chakra, das besonders spannend ist. (Fun Fact: Jedes der sieben Chakren wird in der Sekunde super interessant, in dem man sich ihm zuwendet; das gilt auch für Menschen wie mich, die nicht besonders esoterisch sind).
Emotionale Leere
Zwischen Nabelbereich, Bauchdecke und Oberbauch gelegen, gehören zu den „Zuständigkeitsbereichen“ des Manipura Chakra auch alle Organe des Oberbauchs: Magen, Leber mit Galle, Bauchspeicheldrüse, Milz, Nieren, Zwölffingerdarm und der querverlaufende Dickdarm. Alles Orte, für die wir uns in unserer Kultur seit kurzem mehr und mehr interessieren. Denn sind sie hochspannend. Wenn wir uns auf sie einlassen, erfahren wir, was wir ganz handfest an Nahrung brauchen, wie viel Kohlehydrate, Eiweiße, Fette, Mineralien, Vitamine und so weiter. Wir erfahren aber auch, wovon wir innerlich zehren, was unserer Seele fehlt und wo sich eine emotionale oder mentale Leere auftut.
Naiv oder mutig?
Meine Freundin ist Künstlerin. Sie hat sich für eine Leben ohne Sicherheit entschieden, und auch während der Erkrankung inklusive OP, Chemo und endloser Nachbehandlung daran festgehalten. Zu keinem Zeitpunkt brach ihre „Moral“. Im Gegenteil, sogar zu Zeiten größter körperlicher Schwäche hat sie noch Lesungen und Performances gehalten, sich, wie mir schien, geradezu an ihnen festgehalten.
Aber worin genau bestand ihr Halt? Manipura Chakra wird auch „Stadt der Juwelen“ genannt. Was für Juwelen, die nicht auf einem Schweizer Bankkonto liegen, könnte meine Freundin also in ihrem Besitz haben? Es sind alle jene Talente, die nicht mit Gold aufzuwiegen sind: Entscheidungsfähigkeit, Gestaltungskraft und ein gesundes Selbstbewusstsein. Das sagt sich so dahin, aber stellt euch vor, ihr bekommt eine solche Diagnose und seid auf euch allein gestellt. Vielleicht ist die Wahrheit, dass meine Freundin schon vorher tough war. Die Entscheidung, nicht zu wissen, wie viel Geld man am Ende des Monats hat, ob es für eine Ferienreise zusammen mit dem Kind langt (und das hat es immer getan!), nicht zu wissen, was im nächsten Jahr, ach, was, in drei Monaten sein wird, gilt in unserer Gesellschaft mit den höchsten Sicherheitsstandards als (zurückhaltend formuliert) naiv, wenn nicht fahrlässig. Die Erfahrung hingegen zeigt, dass meine Freundin über Fähigkeiten verfügt, die uns allen gut täten: Zuversicht, Neugier, Offenheit und eine gewisse Chuzpe, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Selbst im Angesicht einer tödlichen Erkrankung.
Mut, Wille, Selbstwert
Während ich über meine Freundin und ihren Mut nachsinne, fällt mir der berühmte Spruch des Neurologen Oliver Sacks ein, dass wir uns in die Tasche lügen, „wenn wir glauben, dass wir jemals einfach nur passive unvoreingenommene Beobachter sein könnten“ („Im Strom des Bewusstseins“, 2005). Wenn ich also über die Fähigkeiten meiner Freundin zur Resilienz, ihre Gestaltungskraft und ihren Willen, anzupacken, nachdenke, fällt mir unweigerlich auf, in welchen Phasen meines Lebens ich diese Qualitäten ebenfalls besaß und wann nicht. Wann konnte ich auf diese Quellen mühelos zurückgreifen und was stand im Wege, wenn es nicht ging? Der Gegenpol des in der yogischen Vorstellung im Nabelbereich verorteten guten Selbstwertgefühls ist ein zu geringeres Selbstwertgefühl. Hm, ihr wisst selbst, wie viele Ratgeberbücher sich auf dieses Thema stürzen. Für uns Yogi:nis ist die gute Nachricht, dass sich das Rad stets dreht. Wir sind nicht dazu verdammt, uns mickrig und klein zu fühlen. Wir können das Rad weiterdrehen und – um im Jargon zu bleiben – die Blockaden lösen.