
Sirsasana – der Kopfstand
Sirsasana – Die Welt einmal andersherum sehen
Es gibt kaum eine Yogahaltung, die so kraftvoll und ja – majestätisch – wirkt wie der Kopfstand. Die Beine kerzengerade in die Luft gestreckt, ruht der gesamte Körper auf Schultern und Unterarmen. Schon der Anblick beeindruckt – und die Praxis erst recht. Yogalegenden wie Sharon Gannon und David Life, die Begründer des Jivamukti Yoga, schreiben Sirsasana eine einzigartige Wirkung zu und können die Umkehrhaltung angeblich eine ganze Stunde lang halten. Andere wiederum verzichten bewusst darauf, diese Haltung zu üben und zu unterrichten, weil der potenzielle Schaden für die Halswirbelsäule für sie schwerer wiegt als die versprochenen Heilwirkungen dieser klassischen Haltung.
Und doch: Wer den Kopfstand praktiziert, spürt seine Kraft. Denn Sirsasana erfordert nicht nur Stabilität, Kontrolle und Mut – sondern schenkt uns auch das Gefühl, der inneren Ruhe, Klarheit – und vielleicht sogar der Erleuchtung – ein kleines Stückchen näherzukommen.
Der Kopfstand zählt zu den intensivsten Umkehrhaltungen im Yoga. Wenn wir wortwörtlich die Welt auf den Kopf stellen, verändert sich nicht nur der Blickwinkel, sondern auch unser Energiefluss – manchmal sogar unsere Stimmung. Die Umkehrung regt das Herz-Kreislauf-System sanft an, bringt frische Durchblutung in Kopf und Gesicht und lässt den Teint rosig strahlen. Viele Yogi:nis berichten von einer verjüngenden Wirkung – ob wissenschaftlich belegt oder nicht, das Wohlgefühl ist spürbar.
Sirsasana wirkt wie ein innerer Frühjahrsputz: Der ganze Körper wird durchgelüftet, energetisch ausgeschüttelt und neu geordnet. So wie bei einer alten Handtasche, in der sich unten längst Vergessenes angesammelt hat – einmal ausgeleert, fühlt sie sich leichter an.
Doch auch anatomisch hat der Kopfstand einiges zu bieten: Er kann bei korrekter Ausführung die Wirbelsäule in die Länge ziehen, den unteren Rücken entlasten und Schultern sowie Rumpfmuskulatur stärken. Und auf energetischer Ebene aktiviert er das Stirn- und Kronenchakra – jene feinen Energiezentren, die für Intuition, Kreativität und Verbundenheit stehen.
Vielleicht ist aber das größte Geschenk dieser Haltung: Wer sich traut, kopfüber zu stehen, wächst nicht nur körperlich über sich hinaus, sondern auch innerlich. Sirsasana schenkt Selbstvertrauen – auf der Matte und im Leben.
„Die beste Weise, Furcht zu überwinden ist, sich mit Gleichmut dem auszusetzen, was wir fürchten“.
B.K.S. Iyengar in „Licht auf Yoga“ (1995)
Anleitung: So führst du den Kopfstand sicher aus
Achtung: Diese Anleitung richtet sich an Yogi:nis, die ausreichend Kraft in Armen und Rumpf aufgebaut haben und den Kopfstand schon mit Unterstützung eines erfahrenen Yogalehrenden geübt haben. Solltest du unsicher sein, ob du den Kopfstand alleine sicher ausführen kannst, übe ihn bitte nur im Rahmen einer kompetent betreuten Yogaklasse.
- Beginne in der Stellung des Kindes und visualisiere dich bereits im Kopfstand. Konzentriere dich, atme ruhig.
- Richte dich mit der Einatmung auf und setze deine Ellenbogen vor dir auf. Miss den Abstand deiner Ellenbogen mit einer Unterarmlänge – sie sollten direkt unter den Schultern stehen.
- Verschränke die Hände und lege die Unterarme vor den Ellenbogen auf den Boden, ohne die Ellenbogenposition zu verändern. Ellenbogen und verschränkte Hände bilden jetzt ein Dreieck vor dir auf dem Boden.
- Platziere deinen Hinterkopf in den Handflächen, die Scheitelkrone berührt die Matte.
- Strecke die Beine und laufe mit den Füßen langsam in Richtung Kopf – dein Oberkörper richtet sich dabei automatisch auf.
- Wenn nur noch deine Zehenspitzen den Boden berühren, ziehe ein Bein nach dem anderen an und bringe deine Hüfte direkt über die Schultern.
- Wichtig: Der Kopf trägt kein Gewicht! Das Körpergewicht ruht auf dem stabilen Dreieck aus Unterarmen und Schulterkraft.
- Finde die Balance, ziehe die Schultern weg von den Ohren und strecke langsam beide Beine nach oben.
- Halte den Atem ruhig und gleichmäßig.
- Zum Auflösen gehe die Schritte kontrolliert rückwärts und bleibe nach dem Üben für einige Atemzüge in der Stellung des Kindes – so vermeidest du Schwindel.
Hier zeigt dir Ronald Steiner, wie du den Kopfstand korrekt übst:
Wirkungen von Sirsasana, dem Kopfstand
Die Wirkungen jeder Asana können in drei Ebenen kategorisiert werden. Die körperliche, die energetische und die geistige. Erfahre hier was der Kopfstand bei dir anstellt, wenn du ihn übst.
1. Körperliche Wirkungen
- Umkehrstellungen gelten als wahre „Verjünger”. Es heißt, dass im Kopfstand die Kopfhaut besser durchblutet wird, was Haarausfall und angeblich auch das Grauwerden der Haare verringert.
- Auch die Gesichtshaut wird stärker durchblutet, das Gesicht wirkt nach der Übung zart und rosig.
- Dein ganzes System wird einmal auf den Kopf gestellt, was den Kreislauf in Schwung bringt.
- Die Klappen deiner Beinvenen werden entlastet, das aufgestaute Blut fließt mühelos Richtung Körpermitte – das soll gegen Krampfadern helfen.
- Manche Yogi:nis berichten, dass die Asana die Verdauung anregt und der Darm von Verstopfungen befreit wird.
- Gleichzeitig förderst du deinen Gleichgewichtssinn und deine Koordination.
- Du stärkst deine Schultermuskeln und trainierst deine Bauchmuskeln. Ohne sie würdest du wie gesagt die Statik der Übung nicht halten können.
- Die umgedrehte Körperhaltung beim Kopfstand ist außerdem wohltuend für die Wirbelsäule und fördert deren ideale Ausrichtung. Gerade die Lendenwirbelsäule wird beim Kopfstand entlastet, was dir die Bandscheiben danken werden.
2. Energetische Wirkungen
- Der Kopfstand stärkt laut yogischer Lehre das Apana Vayu – die absteigende Lebensenergie, die u.a. Ausscheidung, Sexualität und Kreativität reguliert.
- Aktiviert das Ajna-Chakra (Stirnchakra) und Sahasrara-Chakra (Kronenchakra), was zu Klarheit, Intuition und geistiger Anbindung führen soll.
3. Geistige Wirkungen
- fördert das Selbstvertrauen, Mut und kreatives Denken
- schult Konzentration
- stärkt Willenskraft und Gedächtnis
Kontraindikationen: Wann du den Kopfstand lieber nicht üben solltest
So reichhaltig die guten Wirkungen des Kopfstandes auch sein mögen, es gibt doch ein paar Einschränkungen. In folgenden Fällen sollte der Kopfstand nicht geübt werden:
- bei Nackenproblemen, denn der Kopfstand belastet – vor allem bei falscher Ausführung – die Halswirbelsäule. Bei bestehenden Problemen im Nackenbereich kann das zu Verspannungen, Blockaden oder sogar neurologischen Beschwerden führen.
- bei Netzhautablösungen oder anderen Augenkrankheiten, denn die Umkehrhaltung erhöht den Druck im Kopf- und Augenbereich. Das kann bei Netzhaut- oder anderen Augenproblemen riskant sein und eine Verschlechterung begünstigen.
- bei Bluthochdruck, denn Sirsasana steigert den Druck im Kopf- und Herzraum. Bei Bluthochdruck kann das zu Schwindel, Kopfschmerzen oder im schlimmsten Fall zu einem Kreislaufkollaps führen.
- bei Herzproblemen, denn der Kopfstand beeinflusst den Blutfluss zum Herzen. Wer unter Herzrhythmusstörungen oder anderen Herzerkrankungen leidet, sollte diese Belastung nur nach ärztlicher Rücksprache eingehen.
- in der Schwangerschaft, denn während der Schwangerschaft verändert sich das Herz-Kreislaufsystem deutlich. Zusätzlich kann sich durch die Lageveränderung des Körpers der Druck auf das Baby erhöhen – das macht intensive Umkehrhaltungen wie Sirsasana ungeeignet.
Lesetipp: Hier findest du die besten Übungen für Schultern und Nacken.
Vorbereitende Übung für den Kopfstand: Der Delfin (Shishumarasana)
Generell kannst du dich vor einer Umkehrhaltung gut mit stehenden Asanas und seitlichen Drehungen warmmachen. Auch Übungen, in denen du dich nach vorn streckst, bereiten dich körperlich und geistig auf die Asana vor.
Wenn du noch nicht genug Kraft hast, um dich im Kopfstand zu halten, kannst du deine Schulter- und Armmuskulatur mit dem Unterarmstütz bzw. dem Delfin trainieren. Und so geht's:
- Komm in den Vierfüßlerstand und stütze dich auf deine Ellenbogen.
- Miss wieder den Abstand mit einer Unterarmlänge.
- Verschränke die Hände, halte die Ellenbogenposition.
- Strecke die Beine, das Gesäß schiebt nach oben.
- Mit dem Einatmen gehe nach vorne, sodass deine Nase fast die Matte vor den Händen berührt.
- Mit dem Ausatmen schiebe das Gesäß wieder zurück nach oben.
- Wiederhole die Übung so oft du kannst und/oder willst.
Irina Alex zeigt dir den Delfin ausführlich in diesem Tutorial:
4 häufige Fehler beim Kopfstand
1. Fehler: Mit Schwung statt Kontrolle in die Pose
Die eigentliche Herausforderung des Kopfstands beginnt nicht erst, wenn du in der Haltung stehst – sondern schon davor: nämlich kontrolliert und achtsam in die Position zu kommen. Viele neigen dazu, die Beine schwungvoll nach oben zu werfen. Doch genau das kann instabil machen und das Verletzungsrisiko erhöhen.
2. Fehler: Zu viel Gewicht auf dem Nacken, zu wenig Armkraft
Wird Sirsasana ungenau oder mit zu viel Druck auf den Kopf ausgeführt, belastet das die empfindliche Halswirbelsäule – im schlimmsten Fall sogar ernsthaft. Deshalb ist es besonders wichtig, die Haltung Schritt für Schritt aufzubauen und die Schulter- und Armmuskulatur vorher gezielt zu kräftigen.
Eine stabile Basis aus Unterarmen und Schultern schützt deinen Nacken und trägt das meiste Körpergewicht. Wie viel genau? Da gehen die Meinungen auseinander: Manche Lehrer:innen sagen, in den ersten zehn Jahren sollten etwa 80 % des Gewichts auf den Unterarmen ruhen – andere sprechen von 50 %. Klar ist: Das Gewicht sollte niemals allein auf dem Kopf lasten. Andernfalls kann der Nacken überlastet werden, was zu Blockaden, Muskelverspannungen oder sogar eingeklemmten Nerven führen kann.
3. Fehler: Zu wenig Bauchspannung – die Mitte fehlt
Ein häufig unterschätzter Fehler ist mangelnde Aktivierung der Körpermitte. Ohne kräftige Bauchmuskeln fällt es schwer, die Hüften über den Schultern zu stabilisieren und die Beine kontrolliert nach oben zu führen. Das Ergebnis: ein Hohlkreuz, eine instabile Haltung oder unkontrolliertes Einknicken.
Aktiviere daher vor dem Aufsteigen gezielt deinen Core – also die tiefliegende Bauch- und Rückenmuskulatur – und halte die Spannung über die gesamte Dauer der Haltung. So schützt du deine Lendenwirbelsäule und findest innere Stabilität.
4. Fehler: Fehlende Ausrichtung – der Körper steht nicht in Linie
Der Kopfstand lebt von einer klaren, vertikalen Ausrichtung. Wenn Hüften oder Beine seitlich aus der Linie kippen, wird das Gleichgewicht instabil und die Belastung auf einzelne Strukturen zu groß. Häufigster Auslöser: fehlende Körperwahrnehmung oder eine zu frühe Aufrichtung der Beine ohne stabile Basis.
Nimm dir deshalb Zeit, die Haltung von unten nach oben sorgfältig aufzubauen: Schultern über den Ellenbogen, Hüften über den Schultern, Füße über den Hüften – erst dann streckst du langsam die Beine. Arbeite gern mit einer Wand zur Orientierung oder lass dich von einer erfahrenen Lehrperson justieren.
Fazit: Sirsasana – Stell deine Welt auf den Kopf
Sirsasana ist mehr als eine spektakuläre Asana – er ist ein Perspektivwechsel. Wer sich traut, kopfüber zu stehen, stärkt nicht nur Schultern und Bauch, sondern auch Mut, Fokus und Selbstvertrauen. Der Kopfstand fordert Achtsamkeit, Balance und innere Ruhe – und schenkt dafür Klarheit, neue Energie und eine gute Portion Selbstbewusstsein und Leichtigkeit.
Ob du dich langsam herantastest oder schon sicher stehst: Übe mit Geduld und Respekt. Denn die wahre Kraft des Kopfstands zeigt sich nicht nur im Körper – sondern vor allem darin, wie du dich danach fühlst.