
Asana des Monats: Simhasana – der Löwe
Simhasana ist eine echter Eisbrecher. Als Yogalehrerin spüre ich jedes Mal die Hemmungen, die Zurückhaltung im Raum, wenn ich den Löwen („Simha“ bedeutet Löwe) lautstark demonstriere. Zugegeben, ich muss mich dafür auch an meinen wilden Persönlichkeitsanteil erinnern. Denn der Löwe ist eine Einladung, deine Komfortzone zu verlassen – und mit geöffnetem Mund, herausgestreckter Zunge und schielenden Augen loszubrüllen. Roar!
Aber keine Scheu. Es gibt nichts Schöneres als sich nach Simhasana lachend den Bauch zu halten, weil aus dem sonst so stillen Yoga-Raum ein Zoo geworden ist. Der Yoga-Löwe sprengt furchtlos deine selbstgesteckten Grenzen, verbindet dich humorvoll mit allen Menschen im Raum und füllt Yoga mit ungekünstelter Freude. Kurz: Er ist ein veritabler Befreiungsschlag, der dich ganz unkompliziert aus deinem unsichtbaren Gefängnis des sozial-konformen Benehmens lockt.
Jeder Mensch kann Simhasana praktizieren – und die zugrunde liegende kraftvolle, befreite Haltung kultivieren. Trau dich und überwinde die kleine Mut-Hürde und du wirst die wunderbare Wirkung des Löwen spüren – auf und jenseits der Matte.
Wie du Simhasana richtig ausführst
- Starte im Fersensitz und nutze gerne Hilfsmittel (z.B. Block oder Kissen) als Support oder Sitzunterlage. Lege deine Handflächen jeweils auf das Knie derselben Seite und richte dich auf.
- Jetzt strecke die Arme, spreize die Finger, presse die Handflächen gegen die Knie.
- Atme durch die Nase ein, strecke deinen Rücken.
- Öffne deinen Mund, atme aus, strecke deine Zunge raus und brülle wie ein Löwe „Ahhhhhh“.
- Beuge dabei die Arme, lehne den Rumpf nach vorne und deinen Kopf leicht in den Nacken.
- Richte deinen Drishti dabei fest auf deine Nasenspitze oder den Punkt zwischen deinen Augenbrauen.
- Wiederhole das fünf bis zehn Mal.
- Nach jeder Runde entspanne Kiefer, Zunge, Gesicht und Augen.
- Spüre an Ende mit geschlossenen Augen nach.
- Löse den Fersensetz auf und lockere deine Beine.
Hinweis: Simhasana kannst du zu jeder Tageszeit ausführen, auch ohne Matte oder unabhängig von einer Übungs-Sequenz. Du brauchst nichts. Außer einen geschützten Raum. Du willst ja niemanden erschrecken – also lieber nicht im Supermarkt rumbrüllen...
Die Wirkungen von Simhasana
Der Löwe verspricht jede Menge Benefits. Vor allem aber sprengt er den Weg zu deinem Selbst frei. Durch das laute Brüllen kannst du mentalen und emotionalen Ballast loslassen. Je mehr du dich traust, zu zeigen und zu erkennen wer du im Kern bist, desto besser fühlst du dich.
Physische Wirkungen der Löwen-Asana
- Hilft gegen Mundgeruch und säubert die Zunge
- Entspannt und strafft dein Gesicht und beugt so Falten vor
- Hilft gegen Störungen in Rachen, Ohren, Mund, Nase und Augen
- Aktiviert deine Atemhilfsmuskulatur und kann bei nachhaltiger Praxis atemerleichternd wirken
- Hilft bei Verspannungen in der Brust und im Zwerchfell
- Stärkt deine Stimme und verbessert deinen Redefluss (Tipp: Simhasana ist bei motorisch bedingten Sprachstörungen, z.B. Stottern, zu empfehlen)
- Ist eine gute Vorbereitung, um die drei Bandhas zu üben und zu meistern
Psychische Wirkungen der Löwen-Asana
- Löst emotionale Spannungen und Frustration
- Wirkt befreiend und beruhigend auf deinen Geist
- Befreit dich von beklemmenden Hemmungen und einengenden Mustern
- Mindert körperlichen und psychischen Stress
- Wirkt aufmunternd und erleichternd
- Vertreibt Wut und Ärger
Energetische Wirkungen
- Aktiviert verschiedene Meridiane im Gesicht
- Wirkt stark auf das Stirn-Chakra Ajna und das Hals-Chakra Vishudda
Bedeutung des Löwen: Mythen und Geschichten
Allgemein steht der Löwe für Mut und würdevoll-majestätische Kraft – Qualitäten, die jede Person in sich trägt, auch wenn viele von uns sich dessen nicht bewusst sind.
Dazu passt die Vedanta Geschichte vom „Schafslöwen”: Darin geht um einen Löwen, der von einer Schafmutter adoptiert wird. Der Löwe wächst auf wie ein Schaf – ängstlich, schüchtern – und verbringt seine Tage mit Blöken. Bis ihm ein anderer Löwe zeigt, wer er wirklich ist. Der Schafslöwe beginnt zu brüllen, die Schafe blöken voller Angst. Der Löwe jedoch ist von seinen Ängsten befreit.
Simhasana will genau das in dir auslösen: Dir zeigen, wie viel Kraft und Mut du in dir hast, wenn du deine wahre Natur zum Ausdruck bringst. Um Swami Sivananda Saraswati zu zitieren: „Brülle OM wie der Löwe von Vedanta. Höre auf zu blöken wie ein Schaf.“
Mythisch und verschlungen wird es, wenn wir uns die heiligen Schriften im Hinduismus ansehen. Dort ist Simhasana einer der wichtigsten Inkarnationen Vishnus gewidmet, Narasimha. Narasimha bedeutet „der Mann mit dem Löwenkopf”. Und dazu, wie und warum dieser Narasimha inkarniert wurde, gibt es natürlich auch eine Geschichte.
Ein Dämonenkönig erhält von Brahma eine Gnade. Er kann – weder bei Tag noch Nacht, weder innerhalb noch außerhalb des Hauses, weder zu Land noch zu Wasser, weder von Gott, einem Menschen oder einem Tier – getötet werden. Dieses Geschenk Brahmas nutzt der Dämonenkönig aber aus, um seine Umwelt zu terrorisieren, vor allem seinen frommen Sohn Prahlada. Der bleibt aber dank seiner Gebete zu Vishnu schadlos. Das macht den Dämonenkönig zornig und er brüllt seinen Sohn an, warum er denn Vishnu jetzt nicht in einem seiner Palastpfeiler sehen könne, wenn der doch so allmächtig sei. Um seinem Zorn Nachdruck zu verleihen, tritt der Dämonenkönig verachtend gegen einen Pfeiler. Der Sohn bittet Vishnu um Hilfe und zack springt eine neue Inkarnation Vishnus – natürlich Narasimha, der Mann mit dem Löwenkopf – furchterregend brüllend aus der Säule. Und dann zerreißt er den Dämonenkönig in Stücke. Nicht bei Tag oder Nacht, sondern während der Dämmerung. Nicht im Haus, auch nicht vor der Tür, sondern auf der Schwelle des Eingangs. Nicht zu Wasser, noch an Land, sondern auf seinen Knien platziert.
Mein Tipp: Praktiziere den Löwen, wann immer deine Welt leicht ins Schwanken gerät, und erinnere dich an die Kraft von Narasimha beim Kampf mit dem Dämonenkönig – dann kommt auch deine Welt wieder ins Gleichgewicht...
Kontraindikationen: Wann ist Vorsicht geboten
Bei Kopfschmerzen und Migräne solltest du Simhasana nicht oder erst nach Abklärung der Ursachen durch einen Arzt oder eine Ärztin praktizieren.
Variationen von Simhasana
Warum es kompliziert machen, wenn es auch einfach geht. Das Löwenbrüllen kann mit vielen Asanas kombiniert werden – etwa der schiefen Ebene Purvottanasana, dem Fisch Matsyasana oder der Göttinnenhaltung Utkata Konasana. Hast du diese ganz besondere Pranayama-Technik ausreichend praktiziert, kannst du kreativer werden.
Klassisch: Simhasana I nach der Hatha Yoga Pradipika
Zugegeben, die Variation ist nicht wirklich bequem, aber Yoga ist ja auch nicht immer nur nett. Probiere es aus und wiederhole es. Ein Knie ist in jedem Fall in der Luft, vielleicht sogar deutlich. Macht nichts, es geht ja gar nicht um die Form.
- Setze dich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden.
- Hebe das Gesäß, beuge das rechte Knie, lege den Fuß unter die linke Gesäßhälfte. Den linken Fuß legst du unter die rechte Gesäßhälfte. Die Knöchel kreuzen sich, der linke liegt unter dem rechten.
- Setze dich nun auf die Fersen, die Zehen schauen nach hinten.
- Verlagere das Gewicht des Körpers auf Oberschenkel und Knie.
- Lege nun die Hände auf die Knie und praktiziere das Löwengebrüll.
- Praktiziere drei bis fünf Runden, bevor du auflöst und die Beine streckst.
- Wechsele die Seite, beuge jetzt zuerst das linke Knie.
Tipp: Du kannst das Löwengebrüll wie in den Texten auch ohne Gebrüll praktizieren. Stattdessen steckst du die Zunge raus, hältst 30 Sekunden und atmest durch den Mund.
Lotussitz-Variante: Simhasana II nach der Hatha Yoga Pradipika
Solltest du über einen längeren Zeitraum den Lotussitz Padmasana ohne Probleme praktizieren können, dann wage dich an diese Variante. Sie ist noch wohltuender in ihren Wirkungen. Die Stellung heilt Schmerzen im Steißbein und kann es einrenken. Sie regt auch die Leber an, was wunderbar für den Stoffwechsel ist.
- Nimm den Lotussitz ein.
- Beuge dich nach vorne, um die Hände auf den Boden zu stützen.
- Hebe dein Gesäß, rolle über die Knie und schiebe dein Becken auf den Boden.
- Aktiviere deine Gesäßmuskulatur und strecke deine Arme.
- Dein Körpergewicht ruht nur auf den Armen und Knie.
- Strecke auch hier deine Zunge zum Kinn.
- Wähle deinen Drishti und halte die Stellung 30 Sekunden.
- Komme zurück in Padmasana, lockere deine Beine und wechsle die Seite.
Vergiss niemals, du hast wilde Löwen-Kraft in dir! Lass dich von Simhasana aus deinem stillen Kämmerlein holen und erlaube dir laut zu werden, zu brüllen, zu lassen, einfach ganz du zu sein. So kannst du den Löwen als kraftvollen Ruf nach mehr Authentizität und Diversität praktizieren – nicht nur im Yoga, auch im Alltag. Be wild, be you!